»Ich nehme auch gekippten Wein«, sagte der Alte. »Meine Geschmacksnerven sind nach den vielen Jahren schon abgetötet.«
Nach einem Glas Ehinwein war der Tod bereit, von seinem Tag zu berichten. Er war ein leidenschaftlicher Erzähler und rechnete nach dem Bericht mit einer leidenschaftlichen Antwort.
»Das Kind hat dich nicht gebeten, es zu retten, oder?«
»Nein, aber –«, begann der Tod enttäuscht.
»Was? Willst du, dass ich dir deinen freien Willen nehme?«
»Du hast gesagt, ich würde keine Gefühle mehr für sie haben!«
»Ich nahm dir deine extremen Gefühle und das war klar. Sympathien blieben dir erhalten. Zwing mich nicht, dich zu einem Stein zu machen, und glaube mir, oft genug hatte ich den Wunsch. Du hast dich entschieden, ihr zu helfen. Du hast es nicht getan, weil sie es wollte. Sie hat keine Macht über dich.«
»Aber mein Herz hat Macht über mich.«
Kalinika schüttelte den Kopf. »Der Mensch ist mehr als nur ein Herz.«
Der Tod sprang auf und sein wilder Blick hätte viele in die Knie gedrängt, jedoch nicht Kalinika. »Ich bin kein Mensch! Ich bin der Tod.«
Die Hexe nahm einen Schluck. »Du bist geboren worden wie jeder andere Mensch auch.« Sie nahm einen Schluck Ehinwein und ließ ihn lange im Mund, bevor sie ihn hinunterschluckte. »Und du wirst auch sterben wie jeder andere.«
Er setzte sich wieder. Er war nicht einverstanden, aber er wusste, dass es keine Einwände gab.
»Tilonn«, raunte die Hexe. »Was ist so schlimm daran, wenn dich das Kind fasziniert?«
Der Tod antwortete nicht.
»Komm, spielen wir eine Runde«, sagte Lert schließlich und teilte die Karten schon aus.
»Es tut mir leid für die Unterbrechung. Wir kümmern uns morgen um euch. Heute Nacht könnt ihr hierbleiben«, sagte Kalinika zu Baobam.
»Es ist mir eine Freude. Vor allem die Bekanntschaft mit dem Tod gemacht zu haben. Wo ich herkomme, verehren wir dich.« Die Augen des Alten glitzerten vor Scham.
»Tatsächlich?«, fragte der Tod und warf Lert einen grinsenden Seitenblick zu.
»Man hat mich und meinen Enkelsohn vom Festland vertrieben. Wir suchen eine neue Bleibe.« Der Blick des Alten wurde trüb. »Mein Enkel ist erst zehn und hat jeden Menschen verloren, den er kannte. Ich möchte ihm eine schöne Zukunft bieten.«
»Er hat noch dich«, erwiderte der Tod.
Baobam lächelte traurig. »Ja. Auch wenn das vorhin ein Scherz war: Lange habe ich nicht mehr, das weiß ich.«
Lert legte die letzte Karte vor den Tod.
»Darf ich dieses Mal der Tod sein?«, fragte er.
Einige Wochen später hatte der Tod Arus Mutter auf der Liste. Eine schwierige Seele, die er begleiten sollte. Er zerriss die Seite in seinem Terminkalender und warf sie aus dem Fenster. Er beobachtete, wie die Schnipsel zwischen den Schneeflocken verschwanden und gemeinsam mit ihnen hinunter schwebten. Auf seinem Berg schneite es oft, außer es war zu kalt, so hoch war sein Berg.
»Du benimmst dich wie ein Kind«, sagte Safferle, der ihn von der Tür aus beobachtet hatte.
»Und du übertrittst damit eine Grenze!« Der Tod setzte sich an seinen Schreibtisch.
Die Termine für heute würde er ignorieren, sollten doch alle Seelen zu Geistern werden. Er könnte sie noch später einfangen, ohne damit in Arus Nähe zu müssen.
»Verzeihung«, sagte Safferle und zog sich zurück.
Hatten denn alle den Respekt vor ihm verloren? Er war der Tod! Er war kein Ausgebeuteter seines Herzens, er rettete keine Mädchen und vor allem hatte er keinen Vorgesetzten!
Der Tod lehnte sich zurück. Diese drei Punkte waren es gewesen, die den Posten so lukrativ für ihn gemacht hatten. Er wollte in Ruhe leben, sich nicht rechtfertigen müssen und sich nicht mit dem Menschsein herumschlagen müssen.
Ich benehme mich wie ein Kind, dachte der Tod.
Das gefiel ihm nicht, das konnte er nicht auf sich sitzen lassen. Er stand auf und ging ins Lager.
Das Lager war ein lichtdurchfluteter Raum, dessen Ende der Tod bisher noch nicht finden konnte. In langen Regalreihen standen kleine leere Fläschchen, die dem mit der Seele des Zauberers glichen. Sie glitzerten im Sonnenlicht. Auf vergilbten Etiketten standen die Namen von den Menschen, deren Seele am Tag ihres Todes hineingehörten.
Am Abend rückten die leeren Fläschchen automatisch auf, um den leergewordenen Platz beim Eingang aufzufüllen. Der Tod liebte es, in diesem Moment vor Ort zu sein, denn das Klirren klang wie eine heranrollende Glaswelle. Danach klang es in allen Regalen nach, bis auch jede Flasche wieder ruhig stand. Immer mit dem Etikett nach vorne, nie ging eine zu Bruch.
Alle paar Tage ging der Tod in die Halle und notierte sich die Namen auf den vorderen Flaschen. Der nächste Schritt war mühselig und er wünschte sich, ihm würde etwas Besseres einfallen.
Mit diesen Namen ging er in die Bibliothek und suchte in den alphabetisierten Büchern den genauen Todeszeitpunkt heraus und ob die Seelen überhaupt seine Anwesenheit benötigten. Diese landeten dann in seinem Kalender. Mit den Flaschen konnte er automatisch an den richtigen Ort kommen. Die meisten kamen freiwillig mit, selten musste er noch jemanden in der Flasche einfangen. Vielleicht war das früher noch anders.
Der Tod kümmerte sich nur um Menschen. Tiere wussten intuitiv, wohin sie mussten, und blieben nie aus Sturheit auf der Erde zurück. Pflanzen teilten ihre Seele in ihre Samen und Früchte auf und lebten so auf ihre eigene Art ewig. Wie das bei den Mischformen wie Pilzen oder den laufenden Büschen war, wusste der Tod nicht, aber seine Aufgabe waren sie nicht.
Nun trat der Tod an das vorderste Regal heran und notierte sich die Namen der Fläschchen, die auf seiner Augenhöhe standen. Es waren 24 Stück, darunter Resis aus Jui, Arus Mutter.
Mit der Liste ging er in die Bibliothek. Sie war ähnlich angerichtet wie das Lager, jedoch gab es keine Fenster, um den Büchern nicht zu schaden. Die Bücher waren alphabetisch sortiert und manchmal, wenn der Tod ein Buch nicht richtig zurückstellte, sortierten sie sich selbst korrekt ein.
Der Tod hatte folgende Theorie: Der Raum beinhaltete die Namen der gesamten Welt zu jeder Zeit. Jedoch hatte man immer nur zu denen Zugang, die aktuell am Leben waren. Denn er hatte beobachtet, dass die Namen aus den Büchern nach einer Weile verschwanden, wenn die Seelen im Totenreich angekommen waren. Denn dort blieben diese nicht, nach ein paar Tagen oder Wochen, jede schien ihren eigenen Rhythmus zu haben, löste sie sich auf. Und dann verschwand der Name. Der Tod wusste nicht, was mit den Seelenpartikeln passierte. Vielleicht hatte das was mit neuem Leben zu tun, aber damit kannte er sich nicht aus.
Die Bibliothek war mit dickem Teppichboden ausgelegt, auf dem der Tod sogar mal geschlafen hatte, weil er bei der Arbeit eingenickt war. Seitdem dachte er darüber nach, die harten Stühle und den Tisch lieber mit einer gemütlichen Sitzecke mit Kissen auszutauschen.
Safferles Frau könnte das ja für ihn erledigen, aber wahrscheinlich würde sie sich weigern. Sie hatte schon mehrmals verkündet, dass sie nicht für ihn arbeitete und nur im Haushalt mithalf, weil sie – wie die zwei Männer und ihr Sohn übrigens auch – hier wohnte. Aber sie hatte so einen guten Geschmack! Und der Tod kannte sich nicht mit Stoffen und Stilen aus.
Er lief die Regale entlang, bis er zum Buchstaben R kam. Diese Lettern waren mit schwerem Eisen an den ledernen Buchrücken eingestanzt. Er zog das erste Buch heraus – das erste war immer das richtige – und blätterte bis zum Namen Resis. Dort stand:
Resis aus