Ganz anders verhält es sich im Falle derjenigen Essenzialist*innen, die durchaus eine prosoziale normative Orientierung aus der Anerkennung wesenhafter, dem Menschen als abhängigem Tier eingeschriebenen Gegebenheiten ziehen wollen. Als Vertreter einer solchen, typischerweise aristotelisch-thomistisch inspirierten, konservativen Sichtweise mag hier Alasdair MacIntyre gelten. Diese Sichtweise hat auf den ersten Blick am meisten Ähnlichkeiten mit derjenigen meiner philosophischen Pionier*innen, allerdings besteht der entscheidende Unterschied in einem formalen Element des vermuteten Naturbegriffs. Während aristotelisch-thomistisch inspirierte Autor*innen davon ausgehen, dass „Natur“ etwas wesentlich Unveränderliches meint, eben eine Essenz, gehen pragmatische Autor*innen davon aus, dass damit ein gewordenes Bündel an Gewohnheiten oder Praktiken gemeint ist, das sich bewährt hat, sich aber anpassen muss, wenn es sich unter veränderten Umweltbedingungen weiterhin bewähren will.
Diesem Anpassungsdruck kann, in Maßen und je nachdem, worum es genau geht, entsprochen werden. So ist es Menschen offenkundig gelungen, soziale Beziehungen weit über den Nahbereich der lokal versammelten Kleingruppe aufrechtzuerhalten. Andererseits wird es Menschen qua Menschen vermutlich nicht gelingen, ihre Lebensform derart zu verändern, dass sie – etwa als unsterbliche, vielleicht mit Maschinen verschränkte Wesen – deutlich länger lebten oder nicht mehr schlafen müssten. Jedenfalls wären viele geneigt, solch eine neue Lebensform dann auch als eine andere Art auszuweisen. Das Beispiel mag aus der Luft gegriffen wirken, ruft aber die emotionale Gemengelage auf, in der sich die quietistischen Essenzialist*innen artikulieren.
Ich nenne Denker*innen wie Alasdair MacIntyre nämlich auch quietistische Essenzialist*innen, weil sie auf Vorschläge, die menschliche Natur zu überschreiten oder zu transformieren, konservativ reagieren und zu Ruhe und Einkehr mahnen. In gewisser Weise geht es dann in der Anerkennung dessen, dass der Mensch „auch nur ein Tier“ ist, gar nicht um andere Tiere, jedenfalls nicht vorrangig. Die Betonung liegt hier nämlich auf den Abhängigkeiten, die sich vor allem auf die eigene Art beziehen. Die Argumentation sieht dann aus wie folgt:
Es [das Argument] begann von zwei unterschiedlichen, aber verwandten Ausgangspunkten. Der erste war die Betrachtung dessen, was wir in und aus unserer tierischen Natur mit Angehörigen anderer intelligenter, aber sprachloser Arten wie etwa Delfinen gemeinsam haben – eine Betrachtung, die darauf ausgerichtet ist, zu zeigen, dass wir nicht nur mit Recht den Angehörigen zumindest einiger solcher Arten Vorsätze und Gründe für ihr Handeln zuschreiben, sondern auch dass wir selbst in unseren eigenen Anfängen als rationale Akteure ihrer Verfasstheit sehr nahe sind und dass unsere Identität damals wie heute eine tierische war und ist. Der zweite war die Betonung der Vulnerabilität und der Unzulänglichkeiten, die das menschliche Leben durchziehen, in früher Kindheit, im hohen Alter und während Phasen der Verletzung oder körperlichen und psychischen Krankheit, und des Ausmaßes unserer daraus resultierenden Abhängigkeit von anderen.24
In gewisser Weise antwortet dieser Essenzialismus auf die Brutalist*innen, denn er weist Bestrebungen, menschliches Leben ohne diese Gegebenheit und soziale Abhängigkeit normativ zu denken, in ihre Grenzen. Diese Grenzen werden in dieser Sichtweise von der Natur vorgegeben und sind für Menschen nicht verhandelbar. Die menschliche Natur ist nur im Lichte der typischen Leiden, Schwächen, Krankheiten und der natürlichen Aspekte des Werdens und Vergehens, welche menschliches Leben begleiten, richtig zu verstehen. Versuche, sie pseudoheroisch oder transhumanistisch zu überschreiten, führten dagegen angeblich in den Wahnsinn.25
Dass Menschen für quietistische Essenzialist*innen im Wesentlichen immer genau diese abhängigen Tiere bleiben, kann befreiend wirken. Es kann entlasten von den Zumutungen, welche die Projekte der autonomen Selbsterschaffung bedeuten mögen. Stattdessen eröffnet sich eine rettende Perspektive für den Menschen, der sich auch als rationaler Akteur nicht unabhängig von diesen Abhängigkeiten begreifen soll, der sich aber auf ein im Kern konstruktives anthropologisches Projekt einlassen kann. Bei diesem Projekt geht es um den Erwerb artspezifischer Tugenden, der allerdings in tierethischer und -politischer Hinsicht nur eine schmale Bilanz bringt. Ja, die Tiere, die uns ähnlich sind, weil sie intelligent oder vernünftig sind bzw. weil ihnen Handlungsgründe zugeschrieben werden können, werden hiervon profitieren. MacIntyre zufolge wären das etwa Delfine. Um die Anerkennung aller anderen sozial abhängigen Wesen in der ihnen je eigenen Vulnerabilität geht es hierbei aber nicht – ganz zu schweigen von Abhängigkeiten zwischen verschiedenen Spezies, die, wie wir noch sehen werden, das gute menschliche Leben zum Teil mitbestimmen dürften. Das liegt daran, dass es sich mehr um eine pessimistisch-konservative Warnung vor Überspannungen des Begriffs der menschlichen Natur handelt; dabei wird dann aber auch seine moralische Reichweite eingegrenzt – zu Unrecht, wie optimistisch pragmatische Denker*innen meinen.
Sich darauf zurückzuziehen, dass man eben ist, was man ist (no pun intended), geht oft auch einher mit Fatalismus: „Ja, so ist der Mensch, er kann nicht anders – und ich bin auch nur ein Mensch.“ Dabei geht es gar nicht darum, dass einzelne Menschen zu besseren Menschen werden, sondern darum, dass die Menschheit sich verbessert – und das tut sie schon seit eh und je. Das ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Argumentation. Die Menschheit verbessert sich jedoch nicht im Sinne einer Fortschrittsgeschichte, bei der wir auf eine Utopie moralischer Perfektion zusteuern, sondern im Sinne des kontinuierlichen und nachhaltigen Lösens von Problemen. Dass es dabei hilft, wenn Individuen sich darum bemühen, die vermeintlichen Grenzen des Menschen in Form etablierter und bisweilen fraglos akzeptierter Praktiken zu überschreiten, ist richtig. Unter Menschen gab es auch immer moralische Pionier*innen. Es geht aber nicht um die moralische Exzellenz von Individuen als solche. Es geht darum, dass sie Ausdruck und Vorbild moralischen Fortschritts ist. Dafür ist eine normative Sichtweise des Menschen unerlässlich, die dazu motiviert, sich etwas aus dem Menschen und den anderen Tieren zu machen. Dabei sind Optimismus und Methode notwendig, um erst einmal richtig Tier zu werden – und andere Tiere in den Blick zu bekommen.
Was und wie der Mensch ist, ist eine unbeantwortete Frage – das hoffe ich gezeigt zu haben. Diese Frage wird auch in ihrer einfachsten Form unbeantwortet bleiben. Doch um besser erkennen zu können, was im Hinblick auf das durch und durch komplizierte Zusammenleben mit anderen Tieren eine Antwort sein kann, hilft es, so denke ich, als Mensch erst einmal das Tier-Werden als Aufgabe zu begreifen.
3.3„Tierwerden“ als Aufgabe
Zu Beginn dieses Kapitels habe ich gesagt, der Mensch sei ein Tier und zugleich noch nie richtig Tier gewesen. Insofern der Mensch als Sozialwesen im Sinne einer Anthropologie über sich selbst kommuniziert und damit normativ auf seine Lebensform zurückwirkt, ist das Projekt einer Bestimmung im Sinne einer Fest-Stellung der menschlichen Natur unmöglich. Die lange und traditionsreiche Geschichte dieser menschlichen Reflexionsform sowie der faktische, interkulturell und historisch vergleichend feststellbare Pluralismus dürften dafür sprechen, dass Menschen so lange über sich selbst reden werden, wie es Menschen in der bekannten sozial organisierten und kommunikativ veranlagten Form gibt. Interessant ist nun im Weiteren, wie die Redeweise vom Menschen als einem Tier, die eine Verwandtschaft von Menschen und anderen Tieren betont, dazu führen könnte, dass Menschen normativ nicht nur auf den Umgang untereinander, sondern auch auf den mit anderen Tieren einwirken können. Weil sich in den bisherigen, auch emotionalen Reaktionen auf diese Redeweise gezeigt hat, dass der genannte kulturgeschichtliche Dualismus, der mit einer Abwertung von Tieren einhergeht, sehr wirkmächtig ist, gilt es zuallererst, diesen zu überwinden. Midgleys Weg einschlagend, kann das über eine ethologisch informierte Anerkennung unserer eigenen Tierlichkeit und eine Offenheit ihr gegenüber funktionieren. Dadurch lässt sich vor allem der „Mythos des Tierischen“ dekonstruieren, der sowohl die Interpretation anderer Tiere als auch diejenige der eigenen Tierlichkeit beeinflusst. In konstruktiver Hinsicht geht es dann zunächst darum, das, was uns als sozial organisierte Säugetiere ausweist, daraufhin zu prüfen, wie es sich im Miteinander von Menschen und Tieren bewährt. Damit werden Emotionen in Politik und Moral berührt. Bevor ich mich im nächsten Kapitel der Frage widme, warum man diese für die, auch politische, Verbesserung von Mensch-Tier-Beziehungen nutzen sollte, erwähne ich hier zunächst drei pragmatische Tugenden, die zur optimistischen Grundausstattung gehören, ohne welche die Aufgabe,