3Tier werden: Menschen und andere Tiere
Der Mensch ist ein Tier und ist noch nie richtig Tier gewesen. Mit diesem widersprüchlich klingenden Satz möchte ich zwei philosophische Themen aufeinander beziehen: die anthropologische Bestimmung der menschlichen Natur und die pragmatische Frage, was der Mensch aus sich machen kann. Dafür habe ich zwei Gründe. Mein moralpragmatisches Unterfangen ist es, Menschen dabei zu helfen, mehr im Einklang mit dem schon bestehenden normativen Minimalkonsens gegenüber Tieren zu leben, und die philosophischen Pionier*innen, an denen ich mich dabei orientiere, betonen immer wieder eine philosophisch-anthropologische Denkfigur: Der Mensch ist ein Tier (im Sinne von zoon oder animal, nicht im Sinne von „Bestie“). Traditionell wird diese generelle Figur spezieller ausgestaltet. Denn obschon man eine Anthropologie wohl auch darüber an den Start bringen könnte, dass man sagte, der Mensch sei ein Körper (wie es ebenfalls nicht nur Tiere sind, sondern auch Steine oder Flugzeuge), hat die Verortung des Menschen im Tierreich allein noch nie ausgereicht, um den Menschen zufriedenstellend zu beschreiben. Ebenso ist ja auch über alle anderen Tiere noch nicht genug ausgesagt, wenn man sie unter den Begriff „Tier“ fasst. So findet sich in der Bestimmung der menschlichen Natur als Zusatz regelmäßig ein in die Empirie verweisendes Attribut wie das der Sprachverwendung (zoon logon echon) oder der Arbeit (animal laborans) oder … oder. Damit soll dann eine Universalie identifiziert worden sein, vornehmlich aus dem intellektuellen, kulturellen oder religiösen Bereich, die alle Menschen aufweisen und keine anderen Tiere.
Peirce, Dewey und Midgley sind nun alles in allem zurückhaltend gegenüber einer solchen Spezifizierung des Menschen über vermeintlich universal geteilte Alleinstellungsmerkmale, insbesondere, wenn diese im Gewand einer wissenschaftlich anmutenden Taxonomie daherkommt. Dewey etwa benennt klar die Gefahren dieser immerhin tradierten Denkfigur, wenn er sagt, dass solche Begriffe der menschlichen Natur die längste Zeit der europäischen Geistesgeschichte nicht mit wissenschaftlicher Objektivität erarbeitet worden seien, sondern im Dienste bestimmter sozialer Bewegungen gestanden hätten.1 Peirce weist darauf hin, dass mit der externen Betrachtungsweise des Menschen und seiner Verortung im Tierreich noch nicht sein an Gefühlen, Bemühungen und Begriffen hängendes Inneres erfasst worden sei.2 So hat sich denn auch keine Philosophische Anthropologie, die sich auf den Pragmatismus berufen würde, als Fach etabliert. Midgley wiederum setzt sich kritisch mit „Feststellungen“ der menschlichen Natur etwa nach Art des Behaviorismus auseinander.3
Damit entsprechen die drei einer gewissen Skepsis, die das traditionelle Geschäft der Philosophischen Anthropologie grundsätzlich betrifft. Es gibt immerhin gute Hinweise darauf, dass empirische Befunde menschlicher Eigenheiten durchaus und konsequent in die philosophische Arbeit integriert werden, allerdings nicht mehr in Bausch und Bogen der traditionellen anthropologischen Geste, sondern in mühevoller interdisziplinärer Feinarbeit. Statt der allgemeinen Frage der Philosophischen Anthropologie nach dem Menschen werden etwa in der Philosophie des Geistes unter Berücksichtigung psychologischer oder neurowissenschaftlicher Forschung Detailfragen nach dem freien Willen wissenschaftlich geklärt. Ähnliche Forschungsprogramme gibt es in der Philosophie der Biologie, in der sich einige der lebhaftesten Debatten um die Bestimmung der menschlichen Natur und deren Ablehnung, insbesondere in normativer Hinsicht, finden.4 So ergeben sich Zweifel daran, dass es einen echten epistemischen Mehrwert hat, in dieser allgemeinen Form nach „dem Menschen“ zu fragen. Die Wissenschaften selbst fragen danach jedenfalls nicht, sondern widmen sich deutlich enger umgrenzten Fragestellungen. Die Frage, „was der Mensch ist“, „an und für sich“, „im Wesentlichen“, „eigentlich“, „im Grunde“ oder „in Wirklichkeit“, würde dann zu einer unwissenschaftlichen Frage, die nur dort manchmal am Rande aufscheint, wo man sich gut und gerne, ja, besser, auf zuverlässigeren Erkenntniswegen halten kann.5 Skepsis vor essenzialistischen und empirisch abschüssigen Abwegen ist geboten.6
Wenn diese Skepsis begründet ist, dann könnte man meinen, dass der Mensch nicht sinnvollerweise als Tier zu bezeichnen ist, jedenfalls, wenn das, was damit ausgesagt werden soll, nicht trivial sein soll. Ja gewiss, der Mensch ist auch ein Tier. Gleiches gilt für Muscheln und Bonobos – was ist damit schon über Muscheln qua Muscheln oder Bonobos qua Bonobos gesagt? Menschen sind auch teilweise Pflanze, jedenfalls was Haare und Nägel anbetrifft. Menschen sind zum Großteil Wasser. Sagt das irgendetwas?
Hier würden Peirce, Dewey und Midgley aber des Weiteren betonen, dass es eben nicht trivial ist, wie die Art Mensch verfasst ist – nicht zuletzt, weil sie qua sozialer Tiernatur so verfasst ist, dass durch den symbolischen Raum, der durch anthropologische Bestimmungsprojekte eröffnet wird, normativ auf Menschen zurückgewirkt werden kann. Sozial lebende Tiere, zu denen der Mensch zählt, bilden geteilte Praktiken aus, zu denen Kommunikation zählt. Über sich selbst und die Art und Weise, wie man sich in der Umwelt orientiert, zu kommunizieren ist sicherlich ein notwendiger Bestandteil von Anthropologie, also der Rede (logos) des Menschen über den Menschen (anthropos), sprich: der Rede des Menschen über sich selbst. Wir wissen nicht, ob sich andere Tiere in dieser Form kommunikativ mit sich selbst befassen, auch nicht, ob sie ihrerseits Anthropologien haben. (Dass etwa Hunde mit uns und untereinander kommunizieren, ist klar; ob sie untereinander über uns kommunizieren, unklar.) Über ihre jeweilige Stellung in der Umwelt kommunizieren Tiere zweifellos, in welch „rudimentärem“ Sinne auch immer.7 Peirce geht philosophisch beispielsweise davon aus, dass Tiere am semiotischen Geschäft teilhaben.8 Und die unbelegte Behauptung Deweys, dass Tiere nicht kommunizierten, wurde zwischenzeitlich vor dem Hintergrund seiner eigenen Annahmen zur Kontinuität und im Lichte der Forschung zu Tieren korrigiert.9 Soziale Tiere kommunizieren also, und der Mensch ist ein soziales Tier. Er kommuniziert über sich selbst und das offenbar, obwohl er sich mit Detailfragen auf belastbarerem Grund bewegen könnte.
Mit Midgley kann man nun annehmen, dass eine Form dieser menschlichen Metakommunikation in Mythen resultiert. Sie verwendet den Begriff nicht negativ.10 Mythen sind welterschließende Geschichten – „Narrative“, würden andere Denker*innen sagen –, die Orientierung liefern, bestimmte Fragen so beantworten, dass sie sich im Alltag nicht immer wieder aufs Neue stellen. Würden Menschen sich etwa jeden Tag aufs Neue fragen, ob ihr menschliches Gegenüber wirklich ein Bewusstsein habe, kämen sie sozial und kulturell nur bedeutend schwerer voran. Dieses Beispiel zeigt, dass manche Fragen im Rahmen der Mythenbildung vielleicht vorschnell beantwortet werden oder auch gar nicht gestellt werden können. Und genau an diesen Punkten werden unter Umweltbedingungen, die solche Fragen aufwerfen, Kritik und philosophische Arbeit notwendig – etwa im Umgang mit Komapatient*innen oder umgekehrt im Umgang mit nicht menschlichen Kandidat*innen für bewusstseinsfähige Wesen. Allerdings geht es dabei nicht darum, sich von Mythen gänzlich zu befreien. Das Versprechen, sich vollends von Mythen, also auch von Vorläufigem und Undurchsichtigem, befreien zu können und aufgeklärt zu werden – etwa allein im Vertrauen auf eine bestimmte naturwissenschaftliche Methode oder eine bestimmte Konzeption von Vernunft –, ist für Midgley selbst ein Mythos. Anstelle solcher Mythen, die den Menschen Anpassungsprobleme an ihre Umwelt bereiten, braucht es passendere Mythen – und nicht gar keine.
Aufgrund dieser Unabdingbarkeit von Mythen, die zum Teil jedenfalls in philosophischen Redeweisen über den Menschen wurzeln, kann das Projekt einer normativen Anthropologie nicht einfach deswegen beiseitegelegt werden, weil es schon so oft gescheitert ist. Auch bei einem zeitgenössischen Vertreter des Pragmatismus wie Hilary Putnam findet sich eine Ablehnung der Idee, Philosophie lediglich zu einem Zu- oder Nachsatz derjenigen Disziplinen zu machen, die den Menschen spezifischer bzw. ausschnittartig in den Blick nehmen.11 Weil sich alle philosophischen Unternehmungen in der Frage nach dem Menschen letztlich berühren, sollten wir normative Selbstdeutungen des Menschen vergleichen und kritisieren, auch unter Zuhilfenahme außerwissenschaftlicher Mittel wie etwa der Literatur.12