Im Weihnachtswunderland. Gisela Sachs. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gisela Sachs
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783967526080
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aus Kindertagen, Lilli, war eine begnadete Hexe.

      Aram würde am liebsten den ganzen Tag in seinem gemütlichen Holzstuhl aus Kiefernholz sitzen, den sein Schwiegersohn für ihn als Geschenk zu Weihnachten geschreinert hat. Darin fühlt er sich wohl. Er hat den Stuhl dicht unter das Fenster gerückt, beobachtet von dort das Geschehen im Wald. Seine fürsorgliche Tochter Minka hat den Stuhl mit weichen Kissen ausstaffiert. Sie hat sie selbst genäht und prall mit weichen Schwanendaunen gefüllt. Ab und zu laufen ein paar Kaninchen am Fenster vorbei, Rehe, Hirsche, rote, weiße und schwarze Schnecken. Schnecken mit und Schnecken ohne Häuschen.

      »Der Opa ist wieder einmal eingeschlafen«, lacht Minkie, als sie in das Wohnzimmer stürmt. Der Kopf des Großvaters hängt dicht über seiner Brust und Opa Aram schnarcht, was das Zeug hält. »Der Opa hört sich an wie ein alter Frosch mit Husten«, lästert Minkie. Pinkie lacht. »Du hast doch noch nie einen alten Frosch mit Husten gesehen, Schwesterlein«, kontert er. Minkie grinst: »Dann schau dir doch mal den Opa an.«

      Die Gespenstergeschwisterkinder halten sich die Hände vor den Mund. Sie kichern, aber leise. Sie wollen den Opa nicht erschrecken.

      Aber der Opa schläft gar nicht, er ist hellwach. Mit einem Satz springt er aus dem Stuhl und schreit: »Huh, huh, huh, jetzt habe ich euch, ihr kleinen Rabauken.«

      Er greift mit der rechten Hand nach Pinkie, mit der linken packt er Minkie an der Schulter. Er zieht die Kinder dicht an sich heran und küsst sie auf die Nasenspitze. Er küsst erst die Nasenspitze des überraschten Pinkie, dann die Nasenspitze der prustend lachenden Minkie. »Zeit, um ins Bettchen zu schlüpfen«, scherzt Opa Aram. »Scheiße«, rutscht es Minkie von den Lippen.

      »Ist es schon so spät?«

      »Das Wort will ich aber überhört haben«, sagt die Großmutter, die gerade das Zimmer betritt. Sie gibt Minkie einen spielerischen Klaps auf den Po, sagt: »Und nun aber ganz schnell ab mit dir ins Badezimmer zum Zähne putzen, kleine Prinzessin. Morgen ist auch wieder ein Tag.«

      »Und da sollte meine Gespensterprinzessin doch frisch und munter sein«, lacht der Großvater, »vor allen Dingen, wenn die lieben Eltern aus dem Urlaub zurückkommen.«

      Minkie und Pinkie haben großes Heimweh nach den Eltern, obwohl diese erst seit zwei Tagen weg sind. Die Kinder sind es gewohnt, vor dem Einschlafen mit den Eltern zu kuscheln und zu beten. »Kommst du zum Beten mit, Oma?«, fragen Minkie und Pinkie zur gleichen Zeit und wie aus einem Mund. »Und du auch, Opa?«

      »Selbstverständlich«, antwortet die Großmutter grinsend. »Aber erst waschen, wie immer!« Sie klatscht in die Hände: Zaum und Zaus und Zausewind, Kinder putzt die Zähn’ geschwind.«

      Der Großvater ist entsetzt. »Wie kannst du nur«, beginnt er den Satz … »Mitten im Jahr, grundlos. An keinem Zaubertag. Und das auch noch vor dem Beten.«

      »Der liebe Gott versteht auch Spaß, Aram!«, sagt die Großmutter und marschiert stolz wie ein General mit erhobenem Haupt aus dem Zimmer.

      Der Großvater läuft der Großmutter hinterher und sie sitzen gemeinsam am Bett der Kinder, beten zu viert ‚Abends, wenn ich schlafen geh, vierzehn Englein bei mir stehn, zwei zu meiner Rechten, zwei zu meiner Linken …« Und sie haben kaum das Wort ‚Linken’ ausgesprochen, da sind Minkie und Pinkie auch schon eingeschlafen. Die Großmutter macht mit der rechten Hand das Kreuzzeichen über den Kinderköpfen. »Der Herr behüte und schütze euch.« Lächelnd zupft sie die Bettdecke zurecht, streicht sie glatt, streichelt zum letzten Mal an diesem Tag über die Wangen der Enkelkinder.

      Die Großeltern begeben sich ins Kaminzimmer, beenden den schönen Tag mit einer Tasse Lindenblütentee, mit frischem Waldhonig gesüßt, knabbern Halbmondkekse dazu, reden und scherzen miteinander. »Und schon wieder ist ein schöner Tag zu Ende«, stellt Oma Lea mit einem raschen Blick auf die Wanduhr fest. »Zeit zum Schlafen gehen, Aram!«

      »Nur noch einmal schlafen«, tröstet die Großmutter am nächsten Morgen beim Frühstücken Minkie und Pinkie. Sie schnalzt mit den Fingern. »Und schwuppdiwupp sind eure Eltern auch schon wieder da.«

      »Schwuppdiwupp«, lacht der Opa, »Dann ist ja alles gut, Oma.«

      Er drückt die Großmutter ganz fest an sich. »Dann will ich dir doch mal schwuppdiwupp ein Küsschen geben.«

      Der blaue Himmel ist übersät mit Zuckerwattewölkchen, als Minkie und Pinkie auf den mit weißem Klee, Pusteblumen, knallroten Mohnblumen, königsblauen Kornblumen, schneeweißen Gänseblümchen und zart grauem Zitterkraut übersäten Wiesen den Eltern entgegenlaufen. Auch die Großeltern sind auf dem Weg zum Bahnhof mit dabei.

      »Wie schön die Welt doch ist«, flüstert Oma Lea immer wieder andächtig. Es ist Anfang Juni und an den Kirschbäumen hängen kleine grüne Kugeln. »Sie werden zu süßen Kirschen reifen«, freut sich Oma Lea. »Ich werde Kirschkuchen backen, Marmelade daraus kochen, sie als Kompott in Gläser abfüllen, für den Winter trocknen«, jubelt sie.

      »Die Apfelbäume sind teilweise verfroren, hm, hm, hm«, brummt Opa Aram. »Hm, hm, hm«, brummen Minkie und Pinkie in Einklang. »Ebenso die Pfirsichbäume«, stellt der Großvater entsetzt fest, macht wieder: »Hm, hm, hm.«

      »Hm, hm, hm«, brummen Minkie und Pinkie wiederum in Einklang. Sie halten die Hände vor den Mund und kichern.

      »Und die Walnüsse auf den Bäumen sind viel zu groß für diese Jahreszeit«, seufzt der Großvater. »Es wird ein früher Herbst werden, hm, hm, hm.«

      »Das wäre echt Scheiße«, schimpft Minkie. »Dann wird es ja wieder so früh dunkel und wir können nicht ...«

      »Das Wort Scheiße will ich aber jetzt mal großzügig überhört haben«, tadelt die Großmutter. Und sie zupft aufgeregt am linken Ohrläppchen.

      Und genau zwölf Wochen später ist es soweit. Dichte Nebelschwaden hängen über dem Holzhaus. So dicht, dass man keinen Zentimeter weit schauen kann. Die Luft ist feucht, es weht ein eiskalter Wind, schwarze Krähenscharen flattern in den Lüften auf und nieder, man kann die Flügelschläge durch die geschlossenen Fenster hören. Die Waldkäuze versammeln sich mit den Eulen auf den Tannenspitzen, die Raben krächzen heiser und vom Teich her hört man das laute Unken und Rülpsen der Riesenunke.

      Großvater Aram schaukelt wie wild in seinem Holzstuhl hin und her. Minkie und Pinkie sitzen voller Erwartung auf dem Dielenboden. Sie wissen, heute ist es wieder einmal so weit. Der Großvater wird eine Geschichte aus seiner Jugendzeit erzählen. Und tatsächlich. Der Opa räuspert sich. Er räuspert sich immer, bevor er zu singen anfängt. Und er singt immer, bevor er zu erzählen anfängt, obwohl er gar nicht schön singen kann.

      »Nebelschwaden, Nebelschwaden, kriechen durch den Fensterladen, kriechen in den Blumentopf, aber nicht in meinen Kopf.«

      Minkie und Pinkie kuscheln sich ganz eng aneinander. Der Großvater singt gar zu grausig. Die Großmutter bringt auf einem Tablett heißen Lindenblütentee, ein Glas mit frischem Waldhonig und Gebäck in Halbmondform. Sie stellt die Köstlichkeiten auf dem kleinen, runden Holztischchen ab, setzt sich in den Sessel daneben. Es wird ein langer Abend werden, wie immer, wenn der Großvater erzählt.

      »Es ist schon weit über tausend Jahre her, als ich mit meiner Zwillingsschwester Magdalena im Gespensterwald ankam. Es war kein Geld da für die Reise der Eltern und Großeltern, aber das wisst ihr ja schon. Sie kamen erst fünfhundert Jahre später nach Deutschland. Mit den anderen Verwandten. Mit Onkel Paul, Onkel Peter, Tante Hedwig, Tante Hiltrud und den anderen.«

      Der Großvater zieht die Luft durch die Nase, seufzt laut, dann nimmt einen großen Schluck Tee, bevor er weiter erzählt.

      »Es war ein kalter, ungemütlicher Novembertag. Nebelschwaden hingen in der feuchten Luft, so dicht, dass man keinen Zentimeter weit sehen konnte, die Waldkäuze schrien zum Gotterbarmen, ein Krähenschwarm flatterte aufgeregt durch die Lüfte hoch und nieder, es waren mindestens zweitausend Tiere, wenn nicht noch mehr, man sah nur noch schwarz. Und die Flügelschläge hörten sich wie das Donnern von Kanonenkugeln an. Raben krächzten so schaurig, wie ich nie wieder Raben habe krächzen hören, in meinem