»Oomph«, »Illuminate« oder »Das Ich«. Es gibt auch welche mit ganz schön krassen Namen und ebensolchen Outfits, aber alle machen total gefühlvolle Musik. Schon mein Bruder hat das gehört und mir gefällt es auch. Und in den Zeitschriften der Gothic-
Szene findet man immer ein paar Seiten mit Gedichten von Lesern, in denen man sich wieder findet, die oft traurig sind, aber trotzdem irgendwie Mut machen. Glauben Sie mir, Frau Schwerzer, wir sind keine potentiellen Selbstmörder und auch keine so genannten Satanisten.«
Julia hatte schon einen Moment an der Treppe gestanden und gehört, was Sebastian ihrer Mutter erklärt hatte. Sie hatte nicht dazwischen platzen wollen, denn jetzt sah sie ihre Chance, dass die Mutti ihre bisher so ablehnende Haltung revidierte. Zu gerne wäre sie doch mit Sebastian noch am Pfingstwochenende nach Leipzig gefahren. Aber bisher hatte sie sich nicht getraut, ihren Eltern diesen Wunsch nahe zu bringen.
Sebastian hatte eine kleine Pause gemacht nach seinem Monolog. Nun setzte sich Julia wieder zu ihnen. Sebastian klappte das Laptop auf und steckte den USB-Stick in den Anschluss. Und schon bald erfüllten ungewohnte Töne und Klänge den Raum. Berit gab sich ganz dem Gefühl hin, das diese Musik plötzlich in ihr hervorrief. Ohne, dass es ihr bewusst wurde, liefen Tränen über ihre Wangen. Doch das Weinen tat nicht weh, es war auf unerklärliche Weise beruhigend und befreiend.
Nach einer Weile drückte Sebastian die Pausentaste. »Ich kann Ihnen gerne auch eine CD brennen,
dann können Sie es im Auto hören, da mag ich die Musik auch besonders gern.«
Berit sah Julia und ihren Freund an und nickte nur. Ja, im Auto, da hatte sie jetzt immer das Radio ausgeschaltet, weil ihr die Unterhaltungsmusik zu viel wurde. Aber das hier, das wollte sie gerne ab und zu hören.
Jetzt war Julias Moment gekommen. Sie nahm die Hand ihrer Mutter. »Mama, jetzt kennst du den Basti und die Musik. Und jetzt habe ich eine Bitte. Darf ich morgen mit ihm nach Leipzig fahren zum Wave Gotik Treffen? Bitte Mama, sag ja!«
Für einen Augenblick fühlte sich Berit überrumpelt. Doch dann lächelte sie die beiden erwartungsvoll blickenden jungen Leute an. »Ich denke mal, ich kann gar nicht nein sagen, oder? Dann erzählt mal, wie ihr euch das vorgestellt habt.«
Sebastian begann zu erklären: »Ich bin ja schon 18 und habe auch einen Führerschein. Morgen darf ich das Auto von meinem Vater nehmen. Aber wir fahren nur bis zum Stadtrand, dort steigen wir in die Straßenbahn um. Wir haben auch keine teure Festivalkarte gekauft, aber es gibt genug Veranstaltungen, die öffentlich sind, wo wir hingehen können.«
»Wo will wer hin?« Von den dreien unbemerkt war Daniel zur Tür herein gekommen und sah erstaunt auf die muntere Diskussionsrunde im Wohnzimmer mit dem Laptop auf dem Tisch.
Berit sah ihren Mann durchdringend an. »Ich erzähle es dir später, es ist nichts Schlimmes.«
Julia war aufgestanden. »Ich bringe noch rasch den Basti raus, dann verziehe ich mich nach oben. Gute Nacht, Papi. Gute Nacht, Mami!«
Auch Sebastian verabschiedete sich, nicht ohne noch einmal ein dankbares Lächeln zu Julias Mutter zu werfen.
Daniel fand kurz darauf kaum Worte für das, was sich hier in seiner Abwesenheit ereignet hatte. Nur einmal hatte er fassungslos gefragt: »Was, zu den Gruftis?« Doch nachdem ihm seine Frau einen Teil von Sebastians Erklärung wiedergegeben hatte, war auch er halbwegs beruhigt. Und außerdem, da gab es doch ganz andere Sorgen, die Eltern mit ihren heranwachsenden Kindern hatten. Julia hatte Vertrauen zu ihnen und das sollten sie ja wohl auch zu ihr haben!
Am nächsten Morgen saß Julia, ganz entgegen ihren Gewohnheiten am Wochenende in der letzten Zeit, gemeinsam mit den Eltern am Frühstückstisch. Berit beobachtete ihre Tochter aus den Augenwinkeln heraus und amüsierte sich über deren Unruhe. Dann endlich ertönte die Hupe eines Autos vor dem Haus und Julia sprang sofort auf. Mit ihrem Freund an der Hand kam sie zurück zu den Eltern.
Sebastian hatte eine an den Seite geschnürte schwarze Lederhose an, die ihm ausgezeichnet stand, und ein naturfarbenes Hemd, ebenfalls mit Schnürung statt Knöpfen. Julia trug zum langen schwarzen Rock ein knallrotes Trägertop. Und zum Erstaunen aller hatte sie sich die ungeliebte »Beerdigungsbluse« der Mutter frisch von der Wäscheleine geholt und locker über dem Top gebunden. Julias Haar fiel lang und glatt über ihre Schulter, während Sebastian die dunkel gefärbten Haare in Irokesenart steil nach oben gestylt hatte. Nun sah man auch, dass seine seitlichen Kopfpartien rasiert waren, was er aber im Alltag mit den darüber liegenden Haaren verdeckte. Doch auf diese kleinen Ungewöhnlichkeiten seines Äußeren kam es längst nicht mehr an. Die Eltern sahen das Glück in Julias Augen und wünschten den beiden einen schönen ereignisreichen Tag in Leipzig.
Als das Auto um die Straßenecke gebogen war, gingen die Eltern zur Tagesordnung über. Berit räumte den Frühstückstisch ab und nahm die restliche Wäsche von der Leine, während sich Daniel in den Laden verabschiedete. Bedrückt sah ihm Berit nach. Mit seinem Geschäft schien er mehr verheiratet zu sein als mit ihr. Daniel war im Grunde ein lieber Ehemann, doch sie fühlte sich irgendwie von ihm vernachlässigt. Sie hatten kaum noch Gemeinsamkeiten. Als Julia noch jünger gewesen war, hatte es noch ab und zu gemeinsame Ausflüge gegeben, wohl um des Kindes Willen. Doch diese Zeit war nun endgültig vorbei. Ihr Julchen baute sich sein eigenes Leben auf, und darin spielten die Eltern nicht mehr die erste Geige.
Also versuchte Berit mal wieder, sich mit der Situation zu arrangieren. Im Haushalt war einiges liegen geblieben, was ihr jetzt unangenehm ins Auge fiel. Mit Staubtuch und Möbelspray bewaffnet brachte sie wieder Sauberkeit und Ordnung in die Räume. Zum Mittag setzte sie Kartoffeln auf und legte Bratwürstchen in die Pfanne. Daniel mochte Hausmannskost, und Kartoffelbrei mit Würstchen am meisten. Sie wollte gerade zum Telefon greifen und im Geschäft anrufen, als er schon in der Tür stand.
»Na, das klappt ja wieder mit uns wie ein Länderspiel!«, rief er Berit entgegen, als er sah, dass das Essen fertig war.
Berit stellte die gefüllten Teller auf den Tisch. Ein Glück, dass er so ans Essen gewöhnt ist, ging ihr durch den Kopf.
Sie hatte eigentlich erwartet, dass Daniel sich nach dem Essen wieder in den Laden verziehen würde, doch er schüttelte den Kopf. »Nein, von jetzt an bis zum Dienstag ist Pfingsten. Weißt du, das muss auch einmal sein. Wenn ich dran denke, wie schnell
das Leben zu Ende sein kann, dann sollte man doch ab und zu eine Pause einlegen.«
Durch den Tod von Berits Vater schien ihm das plötzlich wieder bewusst zu werden, wie wertvoll doch das Leben war. Sicherlich hatte er es über Jahre hinweg verdrängt, nachdem seine eigenen Eltern kurz nacheinander verstorben waren. Berit nahm es dankbar zur Kenntnis.
So setzten sich die Eheleute nach dem Mittagessen ins Wohnzimmer und nahmen sich jeder ein Buch zum Lesen. Berit musste für einen Moment überlegen, wo sie sich gerade in der Handlung befand. Sie hatte zwar ein Lesezeichen im Buch liegen, aber so lange nicht hinein gesehen, dass sie kaum noch wusste, worum es ging. Doch nach zwei Seiten war sie in die Handlung eingetaucht und schon bald davon gefesselt. Daniel waren die Augen zugefallen. Die viele Arbeit in der letzten Zeit, dazu die traurigen Ereignisse, das alles forderte seinen Tribut.
Berit schlich sich in die Küche und begann ein paar Blätterteigtaschen zu backen. Mit Besuch war eher nicht zu rechnen und für sie beide würde es reichen. Der Kaffeeduft weckte dann auch ihren Mann wieder auf. Er schaltete den Fernseher an und zappte durch die Programme. Und so, als hätte er es gewusst, kam ein kurzer Bericht vom Wave Gotik Treffen in