Mischpoche. Andreas Pittler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Pittler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839237403
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der Behörde zu unterbleiben. Im Strafrecht gab es eben nur Schwarz oder Weiß, da war kein Platz für Grautöne. Entweder, jemand hatte eine Untat begangen, oder er hatte sie nicht begangen. Und wenn er sie begangen hatte, dann war er schuldig. In welchem Ausmaß er das war, hatte den Polizisten nicht mehr zu interessieren. Das musste das Gericht entscheiden.

      Bronstein war ehrlich überrascht über seinen philosophischen Gedankenflug. Er hätte ihn gleich mitschreiben sollen, denn das wäre ein hervorragender Vortrag für die Polizeischule gewesen.

      Und Vorträge zu halten hatte er wahrlich genug. Jede Woche trafen – immer noch – neue Polizeiangehörige aus allen Ecken und Enden der ehemaligen Monarchie in Wien ein, die auf ihren unkündbaren Beamtenstatus beim Ministerium des Inneren pochten. Als die Regierung Renner damals zugesichert hatte, jeden Staatsdiener, der es wünschte, weiterhin in Dienst zu halten, mochte niemand damit gerechnet haben, dass die Betroffenen dieses Versprechen ernst nahmen. Doch mittlerweile arbeiteten in den Reihen der Wiener Polizei mehr Provinzler als Wiener. Allesamt waren sie stramm deutschnational, schmetterten bei jeder Gelegenheit ›Lieb Vaterland magst ruhig sein‹, und alle hießen sie Kapuszczak, Narutinsky, Woprschalek oder Szentszerenyi. Und sie redeten so, wie sie hießen. Selbst Pokorny vermochte aus ihnen nicht schlau zu werden. »Doch, doch«, pflegte er dann immer zu sagen, »ich glaub ihnen schon, Herr Kollege, dass Sie Deutsch reden. Es ist halt nur nicht das Deutsch, das ich verstehe.« Bronstein hatte da schon weit weniger Geduld mit Germanias Zier: »Die wollen die Wacht am Rhein singen?«, hieß es von seiner Seite, »denen sing ich sie. Aber gach a no!«

      Und als wäre ihre seltsame Sprache und ihre protzige Deutschtümelei noch nicht schlimm genug, war Bronstein Woche für Woche gezwungen, sich mit diesem von der Weltgeschichte vergessenen Haufen im Wege der Ausbildungskurse auseinanderzusetzen. Vergeblich appellierte er immer und immer wieder an seine Vorgesetzten, diese verkrachten Dorfgendarmen bloß nicht in den Außendienst zu lassen, doch deren Replik, was sollten diese Kollegen im Innendienst, da müssten sie Akten lesen, und das sei bei Weitem das größere Problem, hatte zu Bronsteins Bedauern sehr viel für sich.

      Seitdem waren also die Kapuszczaks, Narutinskys, Woprschaleks und Szentszerenyis der Stolz der Wiener Sicherheitsdirektion. Und so kam es, dass einer von ihnen, Siegfried Kapuszczak aus Stanislau, bei Bronstein vorstellig wurde.

      »Härr Leitnont, Oberleitnont, Härr! Bin gangen von Revier zu Tatort, weil gerufen dort zu gehen. Opfer lebt, aber verletzt schwer.«

      »Sagen S’ einmal, wollen S’ mich pflanzen?«

      »Pflanzen? Bitte, nicht verstehe, was meint!«

      Bronstein atmete tief durch. »Welches Revier, welcher Tatort? Wer hat was gerufen?«

      In Kapuszczak schienen die richtigen Zahnräder ineinanderzugreifen.

      »No, Bezirk Chitzing. Tatort Zechetna Ulic… Gosse. Gerufen hat, bitte schen, Telefon.«

      »Aha«, Bronstein rekapitulierte, dass es sich um die Zehetnergasse im 13. Wiener Gemeindebezirk handeln musste. Und das Bezirkskommissariat Hietzing war offensichtlich benachrichtigt worden, dass es dort zu einer Gewalttat gekommen war. Weshalb ihn dies etwas angehen sollte, wo das Opfer doch offensichtlich lebte, verstand er allerdings nicht. Die Mordkommission kontaktierte man, im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ein Mord vorlag. Und das schien ja wohl nicht der Fall zu sein. Wenn bei jeder Wirtshausschlägerei mit Verletzten die Abteilung Leib und Leben ausrücken würde, dann käme er nie mehr dazu, einen Aktendeckel zu schließen.

      »Und was geht uns das an?«, bellte er ins Telefon.

      »Bitte schen, ist versuchte Mord.«

      »Sagt wer?«

      »Sagt Opfr!«

      Bronstein verdrehte die Augen und flehte zu Gott, er möge ihn mit Geduld segnen. Dann blickte er auf die Uhr. In wenigen Minuten war es vier. Den gemütlichen Nachmittag im Schweizerhaus konnte er vergessen. Dabei war es so ein schöner Tag!

      »Pokorny!« Bronsteins Stimme donnerte durch den Raum.

      »Was liegt an, Chef?« Pokorny, bereits fix und fertig angekleidet, stand in der Zimmertür.

      »Da schau her, hast das g’rochen oder was?«

      »G’rochen? Was?«

      »Dass wir zu einem Fall ausrücken müssen!«

      »Nein! Ned sag, dass das wahr ist. Ich hab’ glaubt, wir fahren jetzt ins Schweizerhaus.« Auf Pokornys Gesicht machte sich grenzenlose Enttäuschung breit.

      »Tja, Pokorny, in diesem Fall ist Bier Bier und Dienst Dienst.«

      Bronstein orderte über die Vermittlung einen Einsatzwagen und versuchte, Pokornys Gemaule bestmöglich zu ignorieren. »Immer dasselbe! Können diese Trottel ihre Taten ned in der Dienstzeit begehen? Das ist doch wirklich eine Frotzelei sondergleichen.«

      »Du, ich werd’ eine Interpellation ans Parlament schreiben. Morde, bitteschön, ab sofort nur noch zwischen 8 und 16 Uhr.«

      Pokorny verzog seine Miene zu einem schiefen Grinsen: »Wahnsinnig lustig. Ich lach‹ mich krank… Ha, das ist die Lösung! Kranklachen! Krankenstand! … Wiederschaun.«

      »Du bleibst schön da. Nibelungentreue ist angesagt.«

      »Komm mir nicht du auch noch mit diesem teutonischen Geschwafel. Das halt’ ich schon bei unsere Ostler ned aus.«

      »Siehst, jetzt geht’s erst einmal in den Westen.«

      Sie waren bei dem Wagen angelangt, und Bronstein nannte dem Fahrer die Adresse. Am Anfang der Zehetnergasse verlangsamte der Chauffeur das Tempo und hielt nach einem uniformierten Beamten Ausschau, der das Auto stoppen würde. Tatsächlich ruderte vor dem Haus Nummer 14 ein Polizist hektisch mit den Armen.

      »Bitte schen, hier ist Tatort.«

      Bronstein kletterte aus dem Automobil und sah angewidert auf den Mann aus Galizien. Mit einer leichten Drehung des Kopfes wandte er sich an Pokorny: »Mach du das, sonst vergesse ich mich.« Ohne Kapuszczak weiter zu beachten, betrat er das Haus.

      In der Wohnung einer Frau Hellebrand sah es aus wie nach einem Granateneinschlag. Der Kleiderkasten lag umgestürzt und schwer beschädigt mitten im Raum und befand sich dabei in merkwürdiger Schräglage, da er teilweise auf dem Bett der alten Dame ruhte. Die Frau selbst war auf eine Decke gelegt worden und wimmerte in einem fort, während der herbeigeholte Arzt sich darum bemühte, sie medizinisch zu versorgen. »Na, Herr Doktor«, sagte Bronstein, während er mit seiner Kokarde wedelte, »wie schau’n wir aus?«

      »Wer immer das g’macht hat, er war ein Wahnsinniger«, antwortete der Arzt, »aber ein vertrottelter Wahnsinniger. Mit so einer Anzahl an Hieben einen Menschen nicht zu töten, das ist fast auch schon wieder eine Kunst. Die Frau da hat ein Mordstrum Massl, dass s’ ned ermordet ist.«

      Kurz fragte sich Bronstein, ob der Doktor ob des Wortspiels hatte witzig sein wollen, doch er fand, dies tat eigentlich nichts zur Sache. »Wie viele?«, fragte er nur.

      »Insgesamt neun«, entgegnete der Mediziner, »die meisten sind so dilettantisch ausgeführt, dass sie jeweils seitwärts am Kopf abglitten. Dadurch ist dann nur minimaler Schaden entstanden.«

      Schaden! Als handelte es sich um eine Sache. Aber so waren die Jünger Äskulaps ja immer. Für sie waren Patienten irgendwelche Werkstücke. Nicht umsonst sprach man von ›Behandlung‹.

      »Also, wie schwer ist der Grad der Verletzungen?« In Bronsteins Stimme klang deutlich Missfallen mit.

      »Sie ist nicht in Lebensgefahr, wenn S’ das wissen wollen. Aber so, wie die Hiebe ausgeführt wurden, liegt eindeutig Tötungsabsicht vor. Dass die Frau noch lebt, ist nur der Unfähigkeit des Täters zuzuschreiben. Aber ins Krankenhaus muss sie auf jeden Fall sofort, weil diese ganzen Wunden, die müssen ganz dringend gereinigt und ordnungsgemäß versorgt werden, sonst erreicht der Unhold schließlich doch noch sein Ziel.«

      Bronstein nickte. »Kann ich sie trotzdem befragen?«

      Als ob die Hellebrand