Mischpoche. Andreas Pittler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Andreas Pittler
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Триллеры
Год издания: 0
isbn: 9783839237403
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ganz schön zugerichtet. Sie können von Glück reden, dass nichts gebrochen ist. So kommen S’ mit einer mittleren Gehirnerschütterung davon. In zwei, drei Tagen sind S’ wieder auf dem Damm.«

      Das waren nicht die Kommunisten gewesen, schoss es ihm durch den Kopf, doch er schaffte es nicht, diesen Gedanken zu verbalisieren. Ein kaum hörbares Röcheln war der einzige Laut, den er zustande brachte. Die Krankenschwester tätschelte behutsam seinen Unterarm: »Jetzt gehen wir es einmal ruhig an, gelt, Herr Oberleutnant? Schlafen S’ Ihnen nur ordentlich aus, dann wird alles wieder gut.«

      Alles wieder gut? Wie konnte alles wieder gut werden, wenn er hier ans Bett gefesselt war, während er immer noch nicht wusste, wo sich Jelka befand und wie es ihr ging? Er durfte keine Zeit verschwenden, musste sofort das Spital verlassen, um sich … auf die Suche … nach Jelka … zu machen.

      In Panik riss er die Augen auf. Er konnte rein gar nichts erkennen. Erst allmählich registrierte er ein paar Kontraste. Endlich konstatierte er, dass im Raum nur eine einzelne Funzel brannte, die gegen die Dunkelheit der Nacht keine Chance besaß. Wenigstens waren seine Kopfschmerzen deutlich geringer geworden. Er schaffte es, sich aufzurichten, und saß eine kleine Weile aufrecht im Bett, ehe ihm bewusst wurde, dass er zu einer solchen Stunde ohnehin nichts ausrichten konnte. Also legte er sich wieder hin und beschloss, bis zum nächsten Morgen zu warten.

      Die Wanduhr am Ende des Zimmers zeigte fünf Minuten nach sieben Uhr, als er erneut erwachte. Er fühlte sich merklich besser und riskierte es, sich aus dem Bett zu erheben. Wie er war, begab er sich auf den Flur und hielt nach einer Toilette Ausschau. Dann ging er zum Schwesternzimmer und verlangte seine Effekten.

      »Aber Sie können nicht gehen, Herr Oberleutnant. Sie brauchen noch Ruhe!«

      »Ach was, mir geht’s gut. Ich hab’ schon genug Zeit verplempert mit dem Blödsinn da. Geben S’mir einfach mein G’wand, und ich entlass’ mich selbst.«

      Die Schwester hatte seinem fordernden Ton nichts entgegenzusetzen, und so hielt sie ihm einfach wortlos den Revers unter die Nase, den Bronstein unterschrieb, ohne den Text des Dokuments zu lesen. Zehn Minuten später stand er auf der Straße und ließ sich von einer Mietdroschke ins Präsidium fahren.

      »Ja, Oberleutnant! Dich gibt’s noch! So eine Freud’!« Pokorny schien ehrlich begeistert, seinen Vorgesetzten vor sich zu sehen. »Wir haben schon g’laubt, du schwimmst die Donau abwärts, und die Rumäner fischen dich beim Eisernen Tor aus dem Wasser.«

      »Weißt eh, Unkraut vergeht ned«, replizierte Bronstein knapp, um dann sofort zur Sache zu kommen. »Vorgestern. Diese Demonstration da. Hörlgasse und so. Was wissen wir d’rüber?«

      »Ned viel eigentlich«, maulte Pokorny, »20 Tote, 80 Verletzte auf Seiten der Kommunisten, keinerlei Verluste auf unserer Seite. Die Demokratie hat auf der ganzen Linie gewonnen. Ich sag’ dir, jetzt geht’s nur mehr aufwärts, wo wir die Extremisten von rechts und links … Sag’, warst du da vielleicht auch dabei?« Pokorny realisierte erst jetzt, warum sein Chef einen ganzen Tag abgängig gewesen war. Doch Bronstein verspürte nicht die geringste Lust, seinem Mitarbeiter die ganze lange Geschichte zu erzählen. Die Information, es seien 20 Menschen getötet worden, ließ ihn erneut in Panik ausbrechen.

      »20 Tote? Weiß man auch, wer das ist?«

      »Ja, klar, die liegen alle in der Sensengasse. Da …«

      Bronstein hörte nicht mehr hin. Er stürzte zum Telefon und ließ sich mit Ferdinand Strakosch, der Institution der Wiener Gerichtsmedizin, verbinden. »Servus, Ferdl. Du, ich hab’ eine ganz wichtige Frage an dich: bei den Toten von vorgestern, ist da eine junge Rothaarige dabei?«

      Strakosch verzichtete darauf, die Frage Bronsteins einer inhaltlichen Bewertung zu unterziehen, denn der gehetzte Tonfall seines Gesprächspartners überzeugte ihn davon, dass diesem an der Beantwortung seiner Frage mehr gelegen war als an allfälligen verbalen Geplänkeln. »Ich kann dich beruhigen, so eine ist nicht darunter. Und jung waren überhaupt nur zwei Männer …«

      »Und die Verwundeten? Wohin wurden die gebracht?«

      »Du, das weiß ich jetzt aber wirklich nicht. Die werden s’ wahrscheinlich auf die diversen Spitäler aufgeteilt haben, nehme ich an. Aber warum …«

      »Du, Ferdinand, keine Zeit für Erklärungen. Ich sag’ dir alles, wenn ich wieder einen Überblick hab’. Bis dahin sag’ ich einfach nur danke.«

      In den nächsten Stunden hätten Mörder gute Chancen gehabt, mit ihren Verbrechen davonzukommen, denn Bronstein tat nichts anderes, als in sämtlichen Wiener Krankenhäusern nach der Identität der dort eingelieferten Verletzten zu fahnden. Gegen 8 Uhr abends wusste er die Namen von 72 Demonstranten, die sich immer noch in der Obhut eines Spitals befanden. Die übrigen, hieß es, seien nicht so schwer verletzt gewesen, sodass sie in der Zwischenzeit entlassen werden konnten. In polizeilichem Gewahrsam, so hatte er weiter in Erfahrung gebracht, befand sich niemand von denjenigen, die an den Aktionen rund um den 15. Juni teilgenommen hatten. Doch angesichts der Bilanz konnte man wohl davon ausgehen, dass die Sicherheitskräfte von Anfang an die Order ›Keine Gefangenen‹ ausgegeben hatten. Bronstein wusste nicht, ob er nun aufatmen sollte oder nicht. Jelka war weder unter den amtlich festgestellten Toten noch unter den Verwundeten. Allerdings war anzunehmen, dass sie nach einem solchen Massaker kaum nach Hause gegangen war. Wo also sollte er sie suchen?

      »Ich weiß, Chef, warum du so dreinschaust«, hörte er plötzlich Pokorny sagen, der, ungeachtet der späten Stunde, noch einmal ins Büro gekommen war. »Aber keine neue Welt wird ohne Schmerzen geboren. Solche Eruptionen gehören halt dazu. Wirst sehen, das wird sich alles einspielen, und dann geht keiner mehr auf den anderen los, dann verläuft wieder alles in geordneten Bahnen.«

      Bronstein war nahe dran, Pokorny sein Herz auszuschütten und ihm zu gestehen, dass es ihm nicht um die fragwürdigen Geburtswehen der Republik, sondern nur um seine Jelka ging, doch er schreckte schließlich doch davor zurück.

      »Na siehst«, deutete Pokorny Bronsteins Schweigen als Zustimmung zu seinen Thesen, »es wird wieder aufwärts gehen. Jetzt kommen andere Zeiten, in die wir mit Optimismus schreiten.«

      »Pokorny, deine Reime überzeugen mich nicht unbedingt. Aber schreiten werd’ ich jetzt auch, und zwar nach Haus’.«

      Die ganze Nacht über machte Bronstein kein Auge zu. Unentwegt dachte er an Jelka. Es mochte ja sein, dass die neue Zeit endlich Frieden, Wohlstand und Freiheit brachte, doch ihm wäre es weit wichtiger gewesen, sie hätte ihm Jelka gebracht. In den folgenden Tagen recherchierte er während der Dienstzeit eifrig alle Berichte, die zum vermeintlichen Kommunistenputsch eingelangt waren, stets auf der Suche nach einem Hinweis auf Jelka, während er nach Dienstschluss jeden Ort aufsuchte, an dem Jelka schon einmal gewesen war. Beide Tätigkeiten brachten ihn seinem Ziel keinen Millimeter näher. Und während sich die Kollegen in Elogen auf die Republik ergingen, wurde Bronstein mit jeder Stunde, die ergebnislos verstrich, mutloser.

      1920: Jung und Alt

      Bronstein malte mit Hingabe einige Schnörkel rund um seine Unterschrift und schloss sodann lächelnd den Aktendeckel. Es war ein befriedigendes Gefühl, einen Fall als gelöst ins Archiv befördern zu können. Denn ein Fall war nicht bloß ein Bündel Papier. Das waren ganz konkrete menschliche Schicksale, die auf tragische Art miteinander verwoben waren. Löste man also einen Fall, dann brachte man immerhin einen Hauch Gerechtigkeit in die Welt, wenn man schon nicht für Wiedergutmachung sorgen konnte. Ein Ermordeter wurde zwar nicht mehr lebendig, aber der Bösewicht, der ihm das Leben genommen hatte, wurde wenigstens seines eigenen Lebens auch nicht mehr froh, was für die Angehörigen des Opfers vielleicht ein kleiner Trost sein mochte. Und als Polizist hatte man leidenschaftslos an die Sache heranzugehen. Die Tatsachen allein zählten. Es oblag den Geschworenen, die Fakten einer Bewertung zu unterziehen. Natürlich hatte man auch als Ermittler eine Meinung zu den Dingen, doch die war privater Luxus und hatte auch privat zu bleiben. Mitunter kam es vor, dass eigentlich das Opfer der Böse war und seinen Mörder durch beständiges Schikanieren zu einer Verzweiflungstat aufgestachelt hatte. Gleichfalls geschah es immer wieder, dass der Verbrecher einfach schwachsinnig war und die Tragweite seines Tuns