Die letzten Schuljahre quälte sich Karolin auf einer Haushaltsschule durch den Stoff. Lernen war nicht ihr Ding. Obwohl sie einen intelligenten Eindruck machte, war ihr das gesamte Schulsystem suspekt. Sich einbringen in eine existierende Struktur, Hierarchien akzeptieren und eine gewisse Disziplin im Umgang mit anderen Menschen – all das war für sie ein rotes Tuch.
Karolin wurde immer rebellischer. Ihre Haare hatte sie zu Dreadlocks gedrillt, sie rauchte knapp zwei Schachteln Zigaretten am Tag und trieb sich auf Partys herum, auf denen gekifft wurde und oft auch härtere Drogen mit im Spiel waren.
Ihre Aggressionen lebte sie nun vor allem auf Demos aus. Sie gehörte mit zum harten Kern der linken Szene, marschierte gegen alles, warf Molotow-Cocktails, ließ sich mit anderen Aktivisten an Eisentore anketten, die den Zugang zum AKW Wackersdorf versperrten, sägte Bahnschienen an, auf denen Castor-Transporte rollten, und hatte ständig wechselnde Liebschaften.
Die eigentlichen Inhalte dieser Demos und Protestaktionen waren ihr nicht wichtig, die Hauptsache war dieser kribbelnde Spaß am Abenteuer. Sie betrachtete die Welt wie einen großen Spielplatz, den man nur entsprechend nutzen musste. Mit ihrer beruflichen Entwicklung ging es daher nicht so recht voran. Sie war jung, wollte etwas erleben und nicht schon wieder eine Schulbank drücken. Wenn sie Geld brauchte, jobbte sie stundenweise in Kneipen oder ging auch mal auf den Amateurstrich.
Und jetzt stand sie mit Mitte Vierzig vor ihr. Die Dreadlocks waren verschwunden, die etwas gammeligen Klamotten hatte sie abgelegt und sich ein halbwegs bürgerliches Outfit gegeben, aber noch immer besaß sie diese unterschwellige Aggressivität. Gerade konnte man das in ihrem Gesicht wiedererkennen. Sie schien alles um sich herum vergessen zu haben, stierte ihre Mutter an und schwieg immer weiter.
»Ach Kindchen...«, weiter kam sie nicht mehr.
Karolin hatte sich die schwere Schöpfkelle geschnappt und diese mit einer immensen Kraft auf den Kopf ihrer Mutter gehauen.
Diese fiel sofort um.
Kein Klageton war zu vernehmen.
Wahrscheinlich war sie ohnmächtig geworden.
Karolin beugte sich hinab.
»Mama, so war das nicht gemeint! Mama, komm sag doch was ... Mama!«
Die Frau am Boden antwortete nicht. Ihre Augen standen offen, und es schien, als ob sie sich wundere über diesen so plötzlichen Schlag.
Karolin begriff, dass sie tot war. Sie war von ihrem eigenen Jähzorn überrascht. Dann setzte sie sich an den Küchentisch. In ihr arbeitete es. Sie knabberte an ihren Fingernägeln. Das machte sie immer, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Etwas war jetzt in diesem Moment zerbrochen, etwas, dass sie mit der normalen Welt verband.
Die leblose Person am Boden schien das Ende einer wild sich drehenden Spirale zu sein, die sich seit dem Bruch mit Arvid vor drei Tagen zu drehen begonnen hatte. Karolin bezeichnete solche Phasen, die sie immer wieder durchlebte, mit »am Rad drehen«.
Tief in ihrem Innersten wusste sie, dass sie selbst diejenige war, die »am Rad drehte«. Aber sie gestand sich das nie so richtig ein. Immer drehten andere am Rad, welches ihr Schicksal in immer verhängnisvollere Situationen verschlug. Die jetzige Situation schien eine bisher noch nie da gewesene Qualität erreicht zu haben.
Sie war allein mit einer Toten, die noch dazu ihre Mutter war. Dass sie die Frau mit dem Schlag getötet hatte, verdrängte sie. Es war ein Unfall, ein unglücklicher Ausrutscher, der ihr da im Zorn passiert war. Man nannte so etwas Affekt ...
Innerlich kam sie langsam wieder zur Ruhe. Nein, wegen dieser Affekthandlung würde sie sich nicht verantworten müssen, das war ihr klar. Aber sie musste etwas machen mit der Leiche.
Eine dunkle Blutlache hatte sich inzwischen auf dem Fußboden breitgemacht. Es wurde immer offensichtlicher, was gerade passiert war. Die leblose Frau konnte nicht so liegen bleiben. Ob sie den Notdienst vom nahen Virchow-Klinikum anrufen sollte? Sie verwarf den Gedanken sofort wieder. Mehr als den Tod feststellen, konnten die auch nicht.
Es würden wohl eine ganze Menge lästiger Fragen auf sie zukommen, auf die zu antworten sie absolut keine Lust hatte. Aus diesem Grunde fiel auch ein Anruf bei der Polizei aus.
Sie war stark und der Körper ihrer Mutter wog vielleicht mal gerade sechzig Kilo. Das Auto von Arvid stand unten vor dem Haus.
Arvid war in seinem Laden, machte Inventur. Der Schlüssel war drüben in ihrer Wohnung. Karolin wartete, bis es draußen dunkel wurde. Der Sturm hatte etwas abgeflaut. Dann schlich sie hinaus mit der schweren Last auf den Schultern …
Der Wassermann – Tod im Landwehrkanal
Der Landwehrkanal in Berlin
... ist ein nur zehn Kilometer langer Schifffahrtsweg, der sich als Spreeseitenkanal zwischen dem Charlottenburger Spreekreuz und dem Osthafen erstreckt. Auf seiner vollen Länge ist er schiffbar für alle Arten von Flusskähnen. Zwei Schleusen, die Ober- und die Unterschleuse, regulieren den Verkehr.
Im Mittelalter gab es vor der Stadtmauer mal einen Landwehrgraben, der die Stadt vor Reiterangriffen schützen sollte. Als dieser nicht mehr gebraucht wurde, nutzten die Berliner ihn zur Entwässerung der Sumpfwiesen vor den Toren der Stadt. Nun konnten sie ihre Schafe, Ziegen und Kühe dort weiden lassen. Der Landwehrgraben wurde so zum Schafgraben. Wieder später nutzten die Holzfäller ihn zum Holztransport.
Aus dem Schafgraben wurde der Floßgraben. Die Stadt wuchs rasant. Plötzlich war der alte Floßgraben mitten in der Stadt. Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. erteilte seinem Gartenbaumeister Lenné den Auftrag, den alten Floßgraben zu einer Wasserstraße auszubauen. Aber erst nach dem Tode des Königs wurde dieser Schifffahrtsweg im Jahre 1850 eingeweiht. Kaum jemand nahm Notiz davon, denn die Gegend, durch die er sich schlängelte, war für die meisten Berliner noch »janz weit draußen«.
Berühmtheit erlangte der Kanal durch den spektakulären Mord an der kommunistischen Politikerin Rosa Luxemburg, die im Januar 1919 von zwei Reichswehrsoldaten ins Wasser geworfen wurde. Auch die ominöse Zarentochter Anastasia soll angeblich im Jahre 1920 im Kanal ertränkt worden sein ...
Der Wassermann
Er galt als männliches Pendant zu den Nixen, und ihm wurden ähnliche Eigenschaften wie den Nixen zugeschrieben. Er galt lange Zeit als der uneingeschränkte Herrscher über Flüsse, Seen und Brunnen.
Meistens wurde er als grünhäutiger Riese mit verfilztem Haar und einem langen Haken, der manchmal auch ein Triton – also ein Dreizack – sein konnte, dargestellt. Damit zog er die Leute von den Schiffen in sein unterirdisches Reich hinab.
Den meisten Menschen zeigte er sich in vielfältiger Gestalt, mal als kapitaler Hecht oder dämonisch grinsender Wels, mal als kleines Männchen mit rotem Spitzhut und grünem Wams, ganz selten zeigte er sich auch als Fischwesen, halb Mensch, halb Schuppentier.
In der slawischen Mythologie wurde er als Vodyanoj bezeichnet, in den alten märkischen Sagen geisterte er als Neck oder auch als Nickert durch die Sagenwelt. Begegnungen mit ihm können gut oder auch böse ausgehen, je nach Gemütslage des Wassermannes.
Berlin-Tiergarten
Dienstag, 27. Dezember 2005
Die Fahrt im abendlichen Dämmerlicht war anstrengend. Schemenhaft rauschten Häuser, Bäume und Menschen an ihm vorbei. Im Autoradio dudelte Jazz. Eine Musik, die weder vordergründig störte noch sein angespanntes Gemüt provozierte.
Ziellos fuhr