Komisch, dachte er, wenn er dorthin mit seinen Gedanken flüchtete, von hier aus hat er so eine schöne Farbe, aber die Welt da oben soll ganz ohne Farben sein, nur Grau, Schwarz und Weiß. In seinem Bücherregal stand ein Bildband mit den spektakulärsten Mondaufnahmen, die von den amerikanischen Mondlandeunternehmen gemacht worden waren. Anfangs hatte er diese Bilder der fremden Welt mit großem Interesse in sich eingesogen, war aber dann von der trostlosen Farblosigkeit, die von den Hochglanzfotos ausgingen, doch enttäuscht. Lieber schaute er sich den Mond aus der sicheren Entfernung an, dann konnte man mit ihm in einen stummen Dialog treten.
Linthdorf fühlte sich hier in Berlin als einer von vielen Einsamen, das machte die Situation erträglicher.
Irgendwo im Radio hatte er bei einem Gespräch von klugen Leuten erfahren, dass Berlin Deutschlands Single-Stadt Nummer Eins sei, über 800.000 einsame Menschen sollten hier in der Stadt leben. Zählte er seinen Bekanntenkreis durch, musste er dieser Erhebung Recht geben. Fast alle lebten in den Trümmern einstiger Zweisamkeit, führten Fernbeziehungen oder nur ein Wochenendverhältnis mit ebenso gestressten und vereinsamten Menschen. Der unglaublich schnelle Takt des Lebens in dieser Stadt zog zu viel Energie aus den Körpern und Seelen. Die Leere, die dann in den stilleren Momenten des Privaten einzog, war für viele Beziehungen zu einer Falle geworden.
Linthdorf hatte sein Frühstück beendet. Auf dem Tisch lag noch die Wochenendausgabe der Zeitung. Er blätterte darin, ein riesiger Immobilienteil nervte. Er suchte nach dem Kreuzworträtsel. Es war für ihn ein Vergnügen, die Seiten füllenden Wortfragereien zu lösen. Linthdorf hatte inzwischen schon so eine Routine beim Lösen der Kreuzwörter entwickelt, dass er mit fast schlafwandlerischer Sicherheit durch die Kästchen eilte. Die Buchstaben glichen nur noch Krakeln. Die meisten gesuchten Wörter waren Standardabfragen, beim geübten Rater längst abgespeichert irgendwo im Großhirn, wo noch Platz für unnützes Wissen war. Er war erstaunt, wie viel er davon in seinem Kopf zur Verfügung hatte. Manchmal dachte er, dass überhaupt nichts mehr von ihm behalten wurde.
Irgendwelche Daten über Verbrecher und bearbeitete Vorgänge schwirrten in den Tiefen seines Unterbewusstseins herum und plagten ihn dann nachts in seinen Träumen. Das waren die Augenblicke, in denen er an seinem Tun zu zweifeln anfing.
Das Kreuzworträtsel war viel zu einfach. Innerhalb von einer Viertelstunde war es vollständig ausgefüllt. Unzufrieden schob Linthdorf die Zeitung von sich, griff zum Telefon und scrollte den Speicher. Endlich tauchte der Eintrag auf, den er suchte: Krespel.
Er wählte automatisch die Nummer an, ließ es fünf- oder sechsmal klingeln. Eine verschlafene Stimme meldete sich.
»Freddi, du alter Klappstuhl, Mensch! Schläfst du etwa noch?«
»War gestern spät geworden. Hab mir noch den Krimi auf Tele7 reingezogen. War wieder so ein Amifilm mit kaputten Serienmördern. Nur Psychopathen, die da Leute massakrieren.«
»Was guckst du auch so’n Scheiß! Selten mal einen guten Amikrimi gesehn. Und auf den Sendern, die du siehst, schon gar nicht. Was machst du heute? Lust mal wieder auf ne Überlandtour?«
»Okay, holst du mich ab? Knappe Stunde?«
»So gegen Elf. Is jut, bis dann.« Linthdorf legte auf und machte sich reisefertig.
Die singende Nixe
Nixen haben einen Hang zur Tücke. Oftmals spielen sie mit ihren Opfern ein tödliches Spiel. Erst wägen sich diese im Siebten Himmel und Glauben, das große Glück gefunden zu haben. Doch das bittere Ende folgt meist umgehend. Selten nur lassen die Nixen ihre Opfer ziehen. Angezogen von der Liebe der Nixen zu Gesang und Tanz, verfallen ihnen vor allem junge Burschen und Männer. Einem jungen Oderschiffer erging es so:
An einem sonnigen Sommertag saß auf seinem Kahn plötzlich ein bildschönes Mädchen im roten Gewand, das zu den Klängen einer Harfe vor sich hinsang. Vollkommen hingerissen vom Anblick und dem schönen Gesang starrte der Bursche sie an.
Endlich fasste er sich ein Herz und sprach die Schöne an. Diese erschrak, zischte etwas in einer unverständlichen Sprache und verschwand so plötzlich, wie sie gekommen war. Ein Jahr später war der Schiffer wieder hier auf der Oder unterwegs. Unter großem Gebrause stieg da aus der Tiefe eine riesige grün geschuppte Nixe herauf, krallte sich am Kahn fest und riss alles mit zu sich hinab.
Unterwegs im Oderbruch
Immer noch Samstag, 21. Januar 2006
Freddi Krespel, eigentlich Siegbert, aber irgendwie hatte sich der Name Freddi für ihn durchgesetzt, war Linthdorfs guter Freund seit nun schon mehr als zwanzig Jahren. Er war ein ebenso begeisterter Amateurfotograf wie Linthdorf, hatte stets die neueste Technik und begeisterte sich vor allem für romantische Birkenwäldchen.
Unzählige Fotos von Birkenbäumchen zierten seine Wände, auf seinem Computer war bestimmt eine Sammlung von mehreren tausend Birkenfotos abgespeichert. Sein Job führte ihn wochentags quer durchs Land, er begutachtete für eine Baufirma alte Bausubstanz und machte dann Pläne, diese alten Bauten wieder fit für den Alltag zu machen.
Eigentlich liebte er ja diese Arbeit, aber der zunehmende Preisdruck im Gewerbe machte auch vor seiner Firma nicht halt. Immer mehr Fahrten bekam er in den Wochenplan gepackt, die Zeit für die eigentliche Arbeit wurde dadurch knapper, oftmals saß er noch spätabends vor dem Computer und tippte seine Gutachten.
Aber Freddi war eine duldsame Seele. Ohne Murren und Knurren bewältigte er den Wust von Arbeit. Linthdorf hatte großen Respekt vor dem kleinen, grauhaarigen Mann und seiner Geduld im Umgang mit den Obrigkeiten.
Oftmals fuhren sie an den wenigen freien Wochenenden raus ins Grüne. Eine Richtung sprachen sie grob ab, dann fuhren sie meist ohne direktes Ziel los, ließen sich auch mal von Ortsnamen verführen, die eine aufregende Geschichte zu verbergen schienen, oder entdeckten kleine Nebenstraßen, die ins Nirgendwo gingen.
Linthdorf und Krespel befuhren diese Wege mit Begeisterung, denn oftmals konnte man gerade entlang solcher Strecken gute Motive finden. Während Linthdorf mehr nach alten, verfallenen Scheunen und Gutshöfen Ausschau hielt, konnte sich Krespel für schöne Naturaufnahmen begeistern.
Linthdorf schlug Krespel vor, doch mal wieder ins Oderbruch zu fahren. Irgendetwas zog ihn noch einmal dorthin, wo er den Plastikbeutel mit den Klamotten und der Handtasche entdeckt hatte.
Der Schnee war inzwischen getaut. Schmutzigweiße Reste allerdings waren noch überall zu sehen. Der vernieselte Nebelmorgen verhieß kein Topwetter zum Fotografieren. Mit dem märkischen Klima hatten sich die beiden längst arrangiert. Krespel hatte es sich auf dem Beifahrersitz gemütlich gemacht. Wie immer hatte er eine große Aktenmappe dabei, darin eine Sammlung von Internet-Ausdrucken zu diversen Ausflugszielen, eine ebenso umfangreiche Kartensammlung und Zubehör für seine digitale Fototechnik.
Linthdorf fotografierte immer noch mit einer altmodischen Filmkamera, einem wahren Ungetüm in einer gut gepolsterten Kameratasche. Der Scheibenwischer schob den dünnen Wasserfilm, der sich dauernd neu bildete, ächzend zur Seite und gestattete für einen kurzen Augenblick eine Aussicht ins Umland. Schemenhaft konnte man die Gegend erahnen. Bäume wuchsen als schwarze Riesen aus dem Nichts.
Auf den mit Schneeresten bedeckten Feldern tummelten sich große schwarze Vögel. Dem Gekrächze nach konnten das nur Raben sein. Linthdorf hielt an und stieg aus. Was diese gefiederten Gesellen so alles zu erzählen hatten, ließ sich nur schwer erahnen. In der tristen Nebelwelt schallte ihr Gekakel durch den Morgen. Linthdorf kramte sein Teleobjektiv hervor und peilte die hopsenden Schwarzröcke an.
Krespel saß kopfschüttelnd im Auto. Das Klacken der Kamera war neben dem Gekrächze der Raben das einzige Geräusch auf der sonst leeren Straße. Wieder im Auto zurück, leuchteten die Augen Linthdorfs auf.