Hier keine Kunst. Marc Degens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Degens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941592889
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aber Sie haben noch gut und gerne neunhundert Seiten vor der Brust – da vergißt man schnell. Und bestimmt haben Sie sowieso schon den Kinofilm gesehen. Um es ein für allemal klarzustellen, entgegen allen anderslautenden Meldungen, die eines Tages in den Klatschblättern herumschwirren werden: Ich habe mich nicht gegen eine Verfilmung gewehrt, ganz im Gegenteil, ich habe sie von vornherein in Betracht gezogen. Nur deshalb habe ich in diesen Roman auch eine Menge Spezialeffekte eingeschrieben. So wird im nächsten Kapitel der Fernsehturm umfallen und das Brandenburger Tor begraben … Das gibt mehr Opfer als ein Robbie-Williams-Konzert. Und Hand aufs Herz: Wie würden sie reagieren, wenn eines Tages Hollywood an Ihrer Tür klopft und um Einlaß bittet? Ich arbeite jedenfalls gern mit Profis zusammen.

      Als der Zug und ich Berlin erreichten, stand die gesamte Romanhandlung fest wie ein Betonblock. Ich hatte die letzte Flasche Bier des Zugrestaurants vor über zweihundert Bahnkilometern geleert, der Deckel kostete mich fast ein Drittel meiner mitgeführten Barschaft. Ich war berauscht, voller Tatendrang und schreibdürstend … Und hätte im Zug beinahe meinen Koffer vergessen. Dabei bedeutet mir dieses braunlackierte Gepäckstück mehr als irgendein anderes Behältnis auf der Welt. Es ist das einzige Andenken an meinem seligen Großvater – und ohne diesen Koffer wäre mein Leben sicherlich anders verlaufen. Der Koffer ist wuchtig und massiv, mit zwei Schnappverschlüssen links und rechts und eisernen Beschlägen an allen acht Kanten. Er besteht aus einem recht harten Material und läßt sich leer schon kaum heben. Innen ist er mit karierten, inzwischen ausgeblichenen und eingerissenen Papierbahnen ausgeschlagen, doch immer noch erfüllt der Koffer seinen Zweck und war mir stets ein treuer Begleiter.

      Mit ihm erreichte bereits Großvater Ende der fünfziger Jahre Amerika, die Vereinigten Staaten, das gelobte Land. Coca Cola, Colts und Cadillacs. John Wayne, Micky Maus, Mount Rushmore. Großvater wollte einen Job finden, sich eine Existenz aufbauen und genügend Dollar zur Seite legen, um rasch seine Braut und seinen Sohn, meinen Vater, nachkommen zu lassen. Großvater war, wie ich aus den immer gleichen Erzählungen weiß, ein begnadeter Autoschlosser, ein Kolbengenie und Schraubenkünstler … Er hatte für alles, was Öl frißt, ein Händchen. So fand er auf der anderen Seite des Teichs in einer KFZ-Werkstatt auch sogleich eine Anstellung und drehte und schmierte und schraubte fortan den ganzen Tag und die halbe Nacht. Der Wind des »American Way of Life« bläst in seinen Briefen an Großmutter mit Orkanstärke, in jeder Zeile, in jedem Wort, in jeder einzelnen Silbe. Man riecht buchstäblich die weite Prärie mitsamt ihren Büffeln, spürt das schwarze Maschinenöl an seinen Händen, sieht die endlosen Highways, fährt durch die gleichförmige Vorstadt und beißt in dicke, saftige Hamburger. In sechs Monaten hatte Großvater über fünfzehn Kilo zugenommen. Er war ein Selfmade-Mann, schon bald nannte man seinen Namen mit Ehrfurcht. Sein Blut fließt in meinen Adern.

      Nach weniger als einem Jahr war es dann soweit, Großvater hatte genügend Geld gespart und ein schönes, großes Haus für seine Familie angemietet. Er schrieb Großmutter, daß sie ihre Sachen packen solle, er würde nun kommen und sie und meinen Vater holen. Großvater stieg in den Flieger, überquerte den Atlantik und landete in der alten Heimat, in good old Germany. Es war nicht mehr weit, ein Katzensprung noch, wenige Stunden mit der Eisenbahn, vielleicht drei oder vier. Großvater betrat den Zug, fand ein leeres Abteil, wuchtete den Koffer auf die Gepäckablage und setzte sich darunter. Der Schaffner und die anderen Fahrgäste sagten später aus, daß Großvater während der gesamten Fahrt mit einem seligen Lächeln aus dem Fenster geschaut hat, seine Augen glänzten, er wirkte so unbeschreibbar glücklich. Als der Zug den kleinen Bahnhof erreichte, an dem Großmutter und mein Vater ihn erwarteten, stieg Großvater nicht aus. Der schwere, massige Koffer war aus der Gepäckablage direkt auf seinen Kopf gefallen, Großvater war auf der Stelle tot. Zwei Tage später wurde er auf dem evangelischen Kirchfriedhof beigesetzt, keine zehn Minuten von unserem Haus. Großmutter packte ihre Taschen wieder aus und trägt bis zum heutigen Tag Trauer.

      Wie sähe mein Leben aus, wenn es diesen Koffer nicht gegeben hätte? Bestimmt könnte ich heute fließend Englisch sprechen, wäre noch beleibter, würde in einem Schnellrestaurant Kaffee ausschenken und mit einem Mädchen namens Betty rummachen. Vielleicht wäre ich aber auch mit Madonna liiert? Sie hätte mich beim Videodreh kennengelernt, auf Anhieb hätte es zwischen uns beiden gefunkt. Ich würde nun ihre Fanpost beantworten, gemeinsam setzen wir uns für Obdachlose und Aidskranke ein, und an meinem dreiunddreißigsten Geburtstag würde Sting ein Ständchen für mich singen. Doch höchstwahrscheinlich gäbe es mich gar nicht, denn Mutter hat noch nie das Bundesland verlassen, sie weigert sich sogar, Mozzarella zu kaufen oder ihren Bruder in Mecklenburg-Vorpommern anzurufen.

      Offensichtlich aber habe ich von Großvater nicht nur seinen Koffer, sondern auch sein Fernweh geerbt. Frohgemut stand ich deshalb gestern nachmittag an den Gleisen des Bahnhofs Zoo. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, ich taumelte vor Glück … Nun gut, ich war auch ein bißchen betrunken. Ich schaute mich um und kann allerdings nicht verhehlen, daß ich mir den sagenumwobenen Bahnhof Zoo beeindruckender vorgestellt hatte, größer, schmutziger, krimineller. Mit Strichern und Dealern und Obdachlosen und Messerstechereien und aufgebrochenen Gepäckschließfächern und lärmenden Kinderpunks und Drogentoten in jeder Ecke – zumindest mit mehr Gleisen als auf dem Bahnhof daheim. Ernüchtert kramte ich aus dem Portemonnaie die Wegbeschreibung hervor: Mit der S-Bahn zum Bahnhof Friedrichstraße, dann in die Elektrische Richtung Norden, zwei Haltestellen später aussteigen, in Fahrtrichtung die Straße rauf, rechte Seite, da. Das war eine lösbare Aufgabe, zumindest für einen ehemaligen Jung-Pfadfinder wie mich.

      Jeden Dienstag und Donnerstag trafen wir uns Punkt sechzehn Uhr im katholischen Gemeindehaus unten im Keller, wo die beiden Tischkicker standen. Was hätten wir für Spaß haben können, wenn wir bloß Bälle gehabt hätten? Statt dessen saßen wir die ganze Zeit über gelangweilt im Kreis herum, unser Gruppenleiter Michael, ein neunzehnjähriger Krankenpfleger, verteilte Schokoladenzigaretten und las zunächst die Namen derjenigen vor, deren Eltern noch nicht den monatlichen Mitgliedsbeitrag überwiesen hatten. Danach wurde zwei Stunden lang in telefonbuchdicken Katalogen herumgeblättert und wild Bestellzettel ausgefüllt. Es gab ja so viele verschiedene Uniformhemden und Uniformhosen und Uniformhalstücher und Uniformhalstuchknoten zu kaufen: Baron Baden-Powell wäre vor Freude glatt ein zweites Mal gestorben. Am Ende des Treffens wurde dann noch Stimmung für das nächste Zeltlager gemacht: Diesmal geht es richtig weit raus, ein Mordsmarsch, in Gegenden, die noch kein Fuß zuvor betreten hat. Denkt an eure Ausweise und fangt besser schon mal mit dem Training an, das ist nur was für harte Kerle … Alles heiße Luft, Jahr für Jahr campierten wir auf der Wiese hinterm Freibad. Bei meinem vierten oder fünften Zeltlager wurde ich schließlich unehrenhaft aus der Gruppe entlassen, mit Schimpf und Schande vor versammelter Truppe, bloß weil ich als einziger Pfadfinder keine Uniform besaß und in meinen Schulsportsachen herumlief. Vielleicht hatten die falschen Leute aber auch Wind davon bekommen, daß ich praktizierender Protestant war, und montags und mittwochs den Konfirmationsunterricht besuchte. Ein Jahr später wurde der Verein dann komplett hochgenommen, weil Michael, der coole, von uns allen bewunderte Rover, inzwischen dazu übergegangen war, nicht nur Anziehsachen, sondern auch weiche Drogen an seine Schutzbefohlenen zu verticken. Zum Glück verbrachte ich da schon jede freie Minute in der Imbißbude neben der Sparkasse und versenkte mein Taschengeld in die dort aufgestellten Videospielgeräte. Nur Sport schützt effektiv vor Drogen. Aber gelernt ist gelernt, einmal Pfadfinder, immer Pfadfinder. Stur wie ein Panzer folgte ich der Wegbeschreibung und stand keine halbe Stunde später vor der Wohnungstür des langen Stefan und war stolz auf meine bewiesene Großstadttauglichkeit. Ich klingelte, kurz darauf öffnete ein kleines Männlein die Tür. Ich hätte fast losgebrüllt vor Lachen.

      – Stefan? Stefan Weber?

      Er nickte. Der lange Stefan sah zum Schießen aus. Er hatte höchstens noch achtzehn oder neunzehn Haare auf dem Kopf und ähnelte einem aufgedunsenen, in die Jahre gekommenen Teletubbie. Er trug einen mächtigen Schmerbauch vor sich her und war in den letzten Jahren mindestens dreißig Zentimeter in die Erde gewachsen, niemals hätte ich den langen Stefan auf der Straße wiedererkannt. Auch er starrte mich an, als wäre ich Ötzi oder der verweste Elvis Presley. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, also nahm ich ihn in den Arm und küßte ihn links und rechts auf die Wange, so wie es die Leute in den Vorabendserien immer tun.

      – Hallo Stefan, wie schön.

      –