Hier keine Kunst. Marc Degens. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Degens
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783941592889
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Stefan, ein ungemein netter Zeitgenosse. Mehr kann ich im Grunde auch nicht über ihn sagen, denn der lange Stefan war zwei Klassen über mir, und deshalb hatten wir kaum Kontakt miteinander, eigentlich gar keinen. Doch meine Heimatstadt ist ein Dorf, und so drang auch an mein Ohr die Nachricht, daß der lange Stefan geheiratet hat und noch vor der Wiedervereinigung in die Mauerstadt gezogen ist, um sich auf diese Weise seiner Vaterlandspflicht zu entledigen. Kurzentschlossen rief ich vorgestern die Telefonauskunft an und ließ mir siebzehn Berliner Rufnummern diktieren. Schon bei der ersten hatte ich Glück. Der lange Stefan konnte sich zwar nur noch schemenhaft an mich erinnern, was nach so vielen Jahren auch nicht überraschte, doch nachdem ich seinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen und mich als der kleine dicke Junge mit Brille und Augenpflaster zu erkennen gegeben hatte, schien es, als hätte jemand die Uhr zurückgedreht. Der lange Stefan freute sich sehr, daß ich mich bei ihm gemeldet hatte, und fand es eine prima Idee, wenn ich ihn in Berlin besuchen käme. Er sah auch überhaupt kein Problem darin, wenn ich übergangsweise, bis ich eine eigene Bude gefunden hätte, bei ihm wohnen würde … Gesprächsstoff sei ja zur Genüge vorhanden. Der lange Stefan gab mir seine Adresse und eine kurze Wegbeschreibung, insgesamt dauerte das Gespräch nicht länger als fünf Minuten. Nachdem ich aufgelegt hatte, holte ich meinen Koffer vom Dachboden, packte ihn und überbrachte meinen Eltern die frohe Kunde. Ich bin ein Berliner. Schon morgen.

      Wider Erwarten nahmen Vater und Mutter die Neuigkeit ausgesprochen tapfer entgegen, ich hatte es mir schwerer vorgestellt. Meine Eltern sind alte Leute, und ich bin ihr einziger Sproß. Doch es flossen keine Tränen, es fielen auch keine bösen Worte. Mutter schien sich sogar ein bißchen für mich zu freuen – jedenfalls witzelte sie die ganze Zeit über albern und töricht herum. Ha ha, der Junge wird flügge, Vögel müssen ziehen, einen Fluß kann man nicht aufhalten. Das ist ihre Art, mit Schmerzen umzugehen. Vater wollte wissen, wann genau ich am anderen Tag abreise. Danach rief er Großmutter an und berichtete ihr, daß mein Zimmer frei werde und sie bereits am nächsten Nachmittag einziehen könne. Obwohl ich wußte, daß der Frohsinn meiner Eltern bloß gespielt war, war ich erleichtert.

      Die letzte Nacht in meinem Elternhaus war traumlos – wie unter einem Schleier verlebte ich die restlichen Stunden. Am anderen Morgen konnte ich mich nicht mehr von Mutter verabschieden, da sie in aller Herrgottsfrühe einen Termin beim Radiologen wahrnehmen mußte. Vater richtete mir ihre Grüße und Wünsche aus, toi, toi, toi, Hals- und Beinbruch. Ich solle mich ruhig einmal melden. Ohne Koffein, da weder Vater noch ich wußten, wie man die Kaffeemaschine bedient, fuhr mich Vater mit dem Kadett zum Bahnhof. Der Morgen verdämmerte, ich löste eine Fahrkarte, stieg in den Zug, lief in den Speisewagen und bestellte ein Bier. Am Tisch gegenüber saß ein grauer Anzugträger und spielte mit seinem Schoßcomputer. Und plötzlich erschien sie, stand vor mir und lächelte mich an: Meine Romanidee! Sie nahm Platz, ich lud sie zu einem weiteren Pils ein, und wie aus dem Nichts bildeten sich Buchstaben, Worte, Seiten … Dieses Werk inklusive Titel: …

      DIE SCHWARZE WELT

       Zehn. Die Erde ist ein in Brand gestecktes, nach und nach verglimmendes Zündholz. Neun. Ohne Eile breitet sich die Feuersbrunst aus. Acht. Der Kopf schnürt sich zusammen, welkt und schrumpelt. Knisternd, Millimeter für Millimeter. Sieben. Die ersten Feuerwerksraketen zerbersten strahlend und lauthals in der klirrend kalten Nacht. Sechs. Robert schaut auf die Fernsehuhr und zählt die verrinnenden Sekunden innerlich mit. Fünf. Er greift das verkohlte Streichholzende, es ist noch heiß. Vier. Zwischen zwei Fingerspitzen hält Robert eine sterbende Welt. Drei. Alles wird ein Raub der Flammen, lodert auf, lichterloh, und vergeht. Zwei. Zurück bleibt ein verkrümmter, verkrüppelter Leichnam. Eins. Schwarz, finster, berußt. Schutt und Asche. Yeah! Robert schließt die Augen und umarmt seine Frau. Sie küssen sich. Das Fernsehbild erstickt im Schneegestöber.

       »Ich liebe dich, Baby. Alles Gute für die nächsten tausend Jahre.«

       »Ich liebe dich auch.«

       Als Robert die Augen wieder öffnet, verlöscht der Deckenfluter und verglimmen die Signalanzeigen an der Stereoanlage, am Anrufbeantworter und am Fernsehgerät. Iris lacht und packt Robert am Arm.

       »Komm mit raus, mein Schatz.«

       Iris öffnet die Balkontüre. Robert sucht nach seinem Sektglas, findet es in der plötzlichen Dunkelheit des Wohnzimmers aber nicht. Ohne Getränk tritt er auf den Balkon. In den Nachthimmel zischen Schwärmer, Raketen und Heulfontänen. Rot, grün, blau, gelb: In allen Farben des Regenbogens. Männer, Frauen und Kinder bevölkern die Gehwege und lassen Chinakracher und Knallfrösche explodieren. Ein junger Mann feuert mit seiner Leuchtkanone auf das Portal der Polizeiwache. Alle Straßenlaternen sind ausgeblasen, in keinem Fenster brennt ein Licht. »Das ist so schön«, sagt Robert. Iris drückt sich fest an ihn. Robert zieht sein Handy aus der Jackettasche und tippt auf die grüne Taste. »Ich ruf mal kurz Mutter an.«

      Das Display bleibt leer. Robert wundert sich und legt das Mobiltelefon auf die Balkonbrüstung.

       »Süßer, ich hol mir noch ein Glas Sekt. Willst du auch noch was?«

       Robert schüttelt den Kopf. Iris verschwindet im Inneren der Wohnung. Robert schaut auf die Straße, die Ampelanlage an der Kreuzung ist ausgefallen. Zwei Frauen winken aus dem Fenster der Nachbarwohnung und prosten ihm zu.

       »Seltsam«, sagt Iris, als sie auf den Balkon zurückkehrt, »der Kühlschrank funktioniert nicht. Anscheinend haben wir einen Stromausfall.«

       »Hauptsache du bist bei mir.«

       Robert nimmt ihre Hand. Iris ist das Beste, was ihm auf seine alten Tage geschehen konnte. Mögen die Zeitungen schreiben, was sie wollen: Er liebt sie, und sie liebt ihn.

       »Mein Gott, Robert, sieh nur!«

       Iris zeigt in den Himmel. Über den Dächern schwebt ein unbeleuchtetes Passagierflugzeug. Es ist ganz nah, vielleicht zwei, drei Kilometer entfernt. Mit einem Mal kippt es nach vorne über und fällt wie ein Stein zur Erde.

       »O nein!«

       Das Flugzeug rast in einen Häuserblock, eine schreckliche Explosion zerreißt die Nacht. Rauchsäulen steigen auf, höher als der Fernsehturm. Die Menschen auf den Straßen schreien, weinen und fliehen. Am Horizont tost ein Feuermeer. Die Welt geht unter. Iris wird bleich, ihre Stimme zittert.

       »Robert, ich muß sofort ins Studio.«

      Ich fasse zusammen. Es ist der 31. Dezember 1999, die Silvesternacht, der Jahrtausendwechsel. Auf dem ganzen Erdball herrschen Jubel, Trubel, Heiterkeit. Doch während die Menschheit ausgelassen die neue Ziffernfolge feiert, gehen nach und nach an allen Orten der Welt die Lichter aus. Sidney, Warschau, Los Angeles. Die Computersysteme stürzen ab, die Maschinenwelt versagt, komplett, hello goodbye. Das Ganze nennt sich neudeutsch Y2K, Year two Kilo, die digitale Datumsfalle, der Jahr-2000-Crash. Noch vor ein paar Wochen waren die Nachrichten voll davon, wir sind nur knapp dem Untergang entronnen. In meinem Roman aber wird das Mögliche Wirklichkeit werden und alle technischen Geräte auf den nächsten Seiten ihren Geist aufgeben: Mikrowellen, Kühlschränke, Herzschrittmacher, Türklingeln … Die Menschen verlieren ihre High-Tech-Krücken, es ist wieder Steinzeit. Auch in Berlin. Die Reichen sind mit einem Schlag arm, die Gesunden krank, Seuchen und Hungersnöte breiten sich aus, Völker wandern von einem Kontinent zum nächsten, Hunde, Katzen und Hamster verwandeln sich in gefährliche, uns überlegene Nahrungskonkurrenten. Das ist ein dankbarer Stoff für jeden Künstler: Im Hintergrund bebt das kollektive Drama, während es vorn tragisch menschelt. Da wird gezittert und gelitten, die Klaviatur der Gefühle bewegt, hoch und runter, mit allem Pipapo. Als Helden für meine Geschichte kommt nur ein Liebespaar in Frage. Sie, Iris, ist eine hübsche TV-Ansagerin, blond, gut gebaut, aber nicht dumm. Er heißt Robert, ist Schriftsteller, gescheit und nicht auf den Mund gefallen, ein Genußmensch, mit feinen Manieren und autobiographischen Zügen. Gemeinsam werden Iris und Robert versuchen, der Natur und allen Elementen zu trotzen, Feuer, Wasser, Erde, Luft. Am Schluß wird Robert würdevoll abtreten, damit Iris weiterleben kann. Auf dem Grab wird sie seinen