Wir rannten zum Haus zurück, wo meine Eltern bereits in einem braunen Cadillac Coupe de Ville – dem ganzen Stolz meines Vaters, nachdem er einen Job als Manager eines Teppichgeschäfts bekommen hatte – auf uns warteten. Wenn er mich abholen kam, setzte er nie seinen Fuß über die Türschwelle, es sei denn, es war absolut unvermeidbar. Überhaupt sprach er äußerst selten mit seinen Eltern. Meistens blieb er im Auto und wirkte auffällig unruhig, als würde er sich davor fürchten, dass ihm noch einmal das widerfahren würde, was er als Kind in diesem alten Haus erlebt hatte.
Unsere Wohnung lag nur ein paar Minuten entfernt, sie befand sich in einem Doppelhaus, und dort war es kein bisschen weniger klaustrophobisch als bei Großmutter und Großvater Warner. Statt nach ihrer Hochzeit das Elternhaus zu verlassen, hatte meine Mutter ihre Erzeuger mit nach Canton, Ohio, genommen. So lebten die Wyers (meine Mutter wurde mit dem Namen Barb Wyer geboren) gleich eine Tür weiter; das waren gütige Leute vom Land, und sie stammen aus West Virginia, weshalb mein Vater sie Hillbillies nannte. Ihr Daddy war Mechaniker und ihre Mutter eine übergewichtige, Pillen schluckende Hausfrau, die von ihren Eltern ständig in eine Kammer gesperrt worden war.
Chad wurde krank, so dass ich eine Woche lang auf meine Besuche bei den Großeltern Warner verzichten musste. Obwohl ich mich vor ihm ekelte und es mir eiskalt den Rücken herunterlief, wenn ich an ihn dachte, war meine Neugierde in Bezug auf meinen Großvater und seine Verkommenheit noch lange nicht befriedigt. Um die Zeit totzuschlagen, bis ich meine Untersuchungen weiter fortsetzen konnte, spielte ich im Hof mit Aleusha, die neben Chad eigentlich mein einzig richtiger Freund war. Aleusha war ein Malamut aus Alaska, so groß wie ein Wolf, und man konnte sie an ihren verschiedenfarbigen Augen leicht erkennen: Das eine war grün, das andere blau. Trotz meiner Liebe zu Aleusha jagte mir die Vorstellung, zu Hause bleiben zu müssen, einige Angst ein – denn zum Erntedankfest war mein Nachbar Mark von der Militärschule zurückgekommen.
Mark war ein pummeliger Junge mit fettigen, blonden Haaren und einem Suppentopfschnitt, aber ich schaute zu ihm auf, weil er drei Jahre älter und viel wilder war als ich. Oft beobachtete ich, wie er Steine nach seinem Schäferhund warf oder ihm Stöcke in den Arsch schob. Wir fingen miteinander zu spielen an, als ich acht oder neun war – nicht zuletzt, weil er Kabelfernsehen hatte und ich so gern Flipper sah. Das Fernsehzimmer befand sich im Erdgeschoss, in dem auch ein Lastenaufzug für dreckige Wäsche eingebaut war. Wenn wir die Sendung zu Ende gesehen hatten, erfand Mark abwegige Spielchen wie »Gefängnis«. Dabei musste man sich in den Aufzug quetschen und so tun, als wäre man im Knast. Natürlich handelte es sich nicht um ein normales Gefängnis: Die Wächter waren so streng, dass die Insassen kein Eigentum haben durften – nicht einmal Kleidung. Wenn wir also nackt im Aufzug saßen, ließ Mark seine Hand an meiner Haut entlanggleiten und versuchte meinen Schwanz zu betatschen und zu liebkosen. Nachdem ich ihn ein paar Mal hatte gewähren lassen, traute ich mich endlich, mich zu verweigern und erzählte alles meiner Mutter. Sie ging sofort zu Marks Eltern, und wenig später wurde er von seiner Familie, obwohl sie mich zuvor als Lügner bezeichnet hatte, auf die Militärschule geschickt. Von da an waren unsere Familien verfeindet, und ich konnte spüren, dass Mark mir vorwarf, ihn verraten und auf diese Weise dazu beigetragen zu haben, dass er weggeschickt wurde. Seit seiner Rückkehr hatte er nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt. Er starrte mich heimtückisch durch das Fenster oder über den Zaun hinweg an, und ich lebte in der Furcht, dass er versuchen würde, sich an mir, an meinen Eltern oder an meinem Hund zu rächen.
Insofern war es eine Erleichterung für mich, als ich in der folgenden Woche zurück bei meinen Großeltern war und mit Chad wieder Detektiv spielen konnte. Diesmal waren wir wild entschlossen, das Geheimnis meines Großvaters ein für allemal zu lüften. Nachdem wir einen halben Teller vom Essen meiner Großmutter heruntergewürgt hatten, entschuldigten wir uns und begaben uns in den Keller. Schon auf den Stufen konnten wir die Züge hören. Er war da unten.
Wir hielten den Atem an und spähten in den Raum. Sein Rücken war uns zugewandt, und wir konnten sein blaugraues Flanellhemd sehen, das er immer anhatte, den ausgestreckten Hals, den gelbbraunen Ring, der unter dem Kragen zu erkennen war, und sein schweißbeflecktes Unterhemd. An seiner Kehle haftete ein weißes, ebenfalls verdrecktes Gummiband, das den Metallkatheterschlauch über dem Adamsapfel in der richtigen Stellung hielt.
Ein angespanntes, langsam aufsteigendes Gefühl der Angst ließ unsere Körper erschaudern. Das war es. Wir schlichen die knarrenden Stufen so leise wie möglich herunter und hofften, dass unsere Geräusche von der Spielzeugeisenbahn übertönt würden. Unten angekommen, drehten wir uns herum und versteckten uns in einer stinkenden, direkt hinter den Stufen gelegenen Nische, darum bemüht, nicht zu spucken oder zu schreien, als die Spinnweben an unseren Gesichtern kleben blieben.
Von unserem Versteck aus konnten wir die Eisenbahnanlage gut überblicken. Es gab zwei Gleise, auf beiden fuhren Züge, und während die Waggons die planlos verlegten Schienen herunterrasselten, entstand ein stechender, giftiger Geruch, als würde das Metall auf den Gleisen brennen. Mein Großvater saß in der Nähe des Transformators, in dem sich die Regler für die Züge befanden. Sein Nacken hat mich immer an eine Vorhaut erinnert. Das Fleisch hing runzlig von den Knochen herab, es war alt und ledrig wie Alligatorhaut und vollkommen rot. Sein restliches Gesicht war grauweiß wie Vogelscheiße, nur seine Nase war nach jahrelangem Trinken sichtlich verfallen und mit geplatzten Äderchen durchsetzt. Ein Leben, das von körperlicher Arbeit geprägt war, hatte Hornhaut und Schwielen an seinen Händen hinterlassen. Seine Fingernägel waren dunkel und brüchig wie Insektenflügel.
Großvater schenkte den Zügen, die wild um ihn herumkreisten, keine Aufmerksamkeit. Seine Hose war bis zu den Knien heruntergezogen, auf seinen Beinen lag ein aufgeschlagenes Magazin, und unter trockenem Husten rubbelte er mit der rechten Hand in seinem Schoß herum. In der anderen hielt er ein gelb verkrustetes Taschentuch, mit dem er den Schleim an seinem Luftröhrenschnitt wegwischte. Wir wussten, was er tat, und wir wollten sofort gehen. Aber wir waren hinter der Treppe gefangen und fürchteten uns zu sehr, um uns ins Freie zu wagen.
Plötzlich hörte das Husten stotternd auf. Großvater drehte sich in seinem Stuhl herum und starrte geradeaus auf die Treppe. Das Blut gefror uns in den Adern. Er stand auf, seine Hose rutschte bis zu den Fußknöcheln herunter, und wir pressten unsere Körper gegen die schimmelige Wand. Wir konnten nicht mehr erkennen, was er gerade tat. Mein Herz bohrte sich wie eine zerbrochene Flasche in meinen Brustkorb, und ich war zu paralysiert, um noch schreien zu können. Tausende von perversen und gewalttätigen Dingen würde er uns nun antun, schoss es mir durch den Kopf. Dabei hätte er mich nur berühren müssen, und ich wäre vor Angst auf der Stelle tot umgefallen.
Das Husten, Wichsen und Scharren setzte wieder ein, so dass wir ein wenig durchatmen konnten. Es war nun nicht mehr ganz so gefährlich, hinter der Treppe hervorzuspähen. Nicht, dass wir darauf noch große Lust gehabt hätten, aber uns blieb nichts anderes übrig. Nach mehreren quälend langen Minuten machte sein Kehlkopf ein grausiges Geräusch. So klingt sonst nur ein Auto, wenn jemand den Zündschlüssel dreht, obwohl der Motor schon an ist. Ich wandte meinen Kopf ab, aber es war bereits zu spät, um mir nicht den weißen Eiter vorzustellen, der wie das Innere einer zerquetschten Kakerlake aus seinem gelben, runzeligen Penis herauspresst wurde. Als ich wieder hinschaute, hatte er bereits sein Taschentuch gezückt – natürlich dasselbe, mit dem er den Schleim am Hals weggewischt hatte – und saugte damit die ganze Bescherung auf. Wir warteten, bis er gegangen war, kletterten mühsam die Stufen hoch und schworen uns, niemals wieder einen Fuß in den Keller zu setzen. Falls Großvater wusste, dass wir da unten gewesen waren, oder die kaputte Schublade an der Werkbank bemerkt haben sollte, dann hat er uns jedenfalls nie darauf angesprochen.
Auf der Heimfahrt erzählten wir unseren Eltern, was passiert war. Ich hatte das Gefühl, dass meine Mutter uns das meiste – wenn nicht sogar alles – glaubte. Mein Vater musste schon deshalb Bescheid wissen, weil er selber in dem Haus aufgewachsen war. Er sagte kein einziges Wort, aber meine Mutter erzählte uns, dass mein Großvater vor Jahren, als