Was sich auch musikalisch widerspiegelt. »Holy Wood (In The Shadow Of The Valley Of Death)« bedeutet die Rückbesinnung auf die Härte und Direktheit von »Antichrist Superstar«, auch wenn Manson das Songwriting als eine Kombination der Einflüsse aus den letzten beiden Alben sieht. Es gibt eine Reihe sehr aggressiver und heftiger Stücke mit einer verhältnismäßig übersichtlichen Grundstruktur. Insgesamt aber wird »Holy Wood« von extremen dynamischen Schwankungen dominiert: »Das Album ist ein Spiegelbild der Gefühle, die ich zum Zeitpunkt seiner Entstehung hatte, und diese Platte ist eben in einer sehr seltsamen Phase meines Lebens entstanden. Ich hatte den Kontakt zur Außenwelt vollkommen abgebrochen und zog mich mit der Band für die Dauer der ersten Aufnahmen völlig zurück. Wir ließen uns durch ausgedehnte Trips in die Wüste inspirieren und schufen auf diese Weise wahrscheinlich genau die Platte, die sich meine Fans von mir wünschen. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Ich habe es geschafft, durch ausreichenden Abstand selbst wieder Fan meiner Musik zu werden. Ich erinnerte mich daran, was die ursprüngliche Motivation meiner Arbeit war und welche Aufgabe ich mit ihr zu erfüllen habe.« Trotz der Rückbesinnung auf die Werte, die ihm im Zuge der Veröffentlichung von »Antichrist Superstar« den Aufstieg zum Rockstar ermöglicht haben: Für Trent Reznor war in diesem Konzept kein Platz. Und das, obwohl am 9. Mai 2000 im Madison Square Garden die öffentliche Bestätigung dafür geliefert wurde, dass die Streitigkeiten zwischen Manson und seinem Labelchef inzwischen weitgehend beigelegt sind: Für den Zugabenteil einer Nine-Inch-Nails-Show holte Reznor Manson auf die Bühne und sang gemeinsam mit ihm »The Beautiful People« sowie die NIN-Single »Starsuckers, Inc.«. Beim Videoclip dazu hatte der einstmals Verstoßene zuvor bereits Regie geführt. Um dem von ihm selbst produzierten neuen Tonträger seiner Band den Feinschliff zu verpassen, engagierte Manson statt Reznor dennoch lieber Barkmarket-Mastermind Dave Sardy: »Ich mag Barkmarket«, erklärt er dazu. »Dave hat die Fähigkeit, wütende Sounds zu kreieren – was ich als sehr inspirierend empfinde. Auch wenn er in Plattenfirmenkreisen den Ruf hat, Songs zu ruinieren – zu meiner speziellen Vision eines Popstückes passen seine Ansichten perfekt.«
Spätestens mit der Veröffentlichung dieser Autobiografie wird klar, dass Manson die Mechanismen der Unterhaltungsindustrie nutzt, um sich Gehör zu verschaffen. Er weiß genau: Ein Buch, das sich über weite Strecken mit der detaillierten Schilderung exzessiver Sex- und Drogeneskapaden prominenter Menschen beschäftigt, vermarktet sich quasi von selbst. Die Entmystifizierung, die mit der Offenbarung seiner Kindheitsfotos und mancher Anekdoten wie den von den eher komischen Umständen seiner ersten Kontakte zum weiblichen Geschlecht einher geht, mag ihm dabei gar nicht ungelegen gekommen sein. Immerhin fordert er heute mehr denn je, man möge sich in Zukunft mehr mit der Qualität seines künstlerischen Schaffens beschäftigen als mit dessen Skandalträchtigkeit. Ob Manson es verstehen wird, die Abnutzung des Schockeffekts zu kompensieren und durch künstlerische Substanz allein seinen Popularitäts-Level zu halten, wird die Zukunft zeigen. Eines jedoch ist klar: Sein Werk – als eine Mischung aus Entertainment und philosophischem Inhalt – ist in dieser Form in der populären Musik im Moment nahezu konkurrenzlos. Vom Bubblegum-Hochglanz der Teenie-Bands bis hin zur weitgehend inhaltsfreien Musik von Kid Rock oder Limp Bizkit – die amerikanischen Charts sind geprägt von Bands mit einem philosophischem Tiefgang, der vergleichbar ist mit dem der bundesdeutschen Big-Brother-Sternchen. Gerade vor diesem Hintergrund wird deutlich, wie wichtig der Erfolg eines popkulturellen Gegenpols wie Marilyn Manson ist.
Herbst 2000
1.: Der Mann, den ihr fürchtet
Von allen Dingen, die unter der Krümmung der Firmamente vor das Auge treten können, gibt es nichts, das den menschlichen Geist mehr in Erregung versetzt, das auf schändlichere Weise die Sinne entzückt, das noch mehr Entsetzen, mehr Schrecken oder Bewunderung auslöst, als jene Ungeheuer, Wunderwesen und Greuelgestalten, in denen wir die Kräfte der Natur in ihr Gegenteil verkehrt, verstümmelt und beschnitten sehen.
Pierre Boaistuau, Histoires Prodigieuses, 1561
Die Hölle, das war für mich der Keller meines Großvaters. Es stank dort wie in einer öffentlichen Toilette, und es war genauso schmutzig. Der nasskalte Betonboden war mit leeren Bierdosen übersät, und alles war von einem fettigen Film überzogen, der wahrscheinlich seit der Kindheit meines Vaters nicht mehr weggewischt worden war. Man konnte diesen Keller nur über wackelige Holzstufen erreichen, die lose an der rauen Steinwand befestigt waren, und außer für meinen Großvater war der Zutritt allen verboten. Das war seine Welt.
Von der Wand baumelte gut sichtbar eine abgenutzte rote Klistierspritze herab, ein Zeichen seines völlig unberechtigten Vertrauens darin, dass nicht einmal seine Enkel es wagen würden, diese Räume zu betreten. Weiter rechts stand ein verzogener, weißer Medizinschrank; in ihm lag ein Dutzend alter Schachteln mit Mailorder-Kondomen, die sich hart an der Grenze zur Auflösung befanden; eine gefüllte, rostige Dose mit Deospray für Frauen; eine Hand voll Latexhandschuhe, die Ärzte gewöhnlich bei Darmuntersuchungen verwenden; und eine Friar-Tuck-Spielzeugpuppe, aus der ein steifer Schwanz hervorsprang, wenn man ihren Kopf herunterdrückte. Hinter den Stufen verbarg sich ein Regal mit ungefähr zehn Farbdosen. Wie ich später entdeckte, enthielt jede von ihnen zwanzig Pornofilme im 16-Millimeter-Format. Das alles wurde gekrönt von einem schmalen, quadratischen Fenster. Es sah aus wie gefärbtes Glas, tatsächlich aber war es von grauem Ruß bedeckt, und wenn man da hindurch spähte, hatte man das Gefühl, als würde man aus der Dunkelheit der Hölle hinaufschauen.
Am meisten jedoch faszinierte mich die Werkbank. Sie wirkte alt und primitiv, als sei sie vor Jahrhunderten gezimmert worden. Darauf befand sich ein dunkeloranger zerfranster Läufer, der dem Haar einer Struwwelpeter-Puppe glich, nur mit dem Unterschied, dass er von den Werkzeugen, die jahrelang auf ihm herumgelegen hatten, völlig verschmutzt war. In die Bank war ziemlich ungeschickt eine Schublade eingebaut worden, die immer verschlossen blieb. Oben an dem Dachsparren hing ein billiger, lebensgroßer Spiegel mit einem hölzernen Rahmen, der nicht an der Wand, sondern an der Decke festgenagelt worden war – aus welchem Grund, darüber konnte ich nur spekulieren. Hier fingen mein Cousin Chad und ich an, jeden Tag auf immer riskantere Weise in das Doppelleben meines Großvaters einzudringen.
Ich war ein dürrer Dreizehnjähriger mit Sommersprossen und einem Suppentopfschnitt, den mir meine Mutter mit der Blechschere verpasst hatte; er war ein dürrer Zwölfjähriger mit Sommersprossen und Hasengebiss. Während wir aufwuchsen, war es unser sehnlichster Wunsch, später einmal als Geheimpolizisten, Spione oder Privatdetektive zu arbeiten. Um unserem Ziel näherzukommen, wollten wir uns in den entsprechenden Observationstechniken schulen – bis wir zum ersten Mal mit diesem Abgrund konfrontiert wurden.
Eigentlich hatten wir nur die Treppen hinunterschleichen und Großvater ausspionieren wollen, ohne dass er davon etwas merken sollte. Als wir aber erst einmal die Dinge entdeckt hatten, die dort verborgen waren, änderten sich unsere Motive. Wenn wir nach der Schule unsere Ausflüge in den Keller machten, waren wir Teenager-Jungs, die nach Pornografie suchten, um darauf abspritzen zu können. Zugleich aber empfanden wir für unseren Großvater auch eine morbide Faszination.
Fast jeden Tag machten wir neue und groteske Entdeckungen. Ich war nicht sehr groß, aber wenn ich vorsichtig auf dem hölzernen Stuhl meines Großvaters balancierte, konnte ich gerade in die schmale Lücke zwischen dem Spiegel und der Decke fassen. Dort