New Order, Joy Division und ich. Bernard Sumner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernard Sumner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454724
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um meine Ruhe zu haben, aber ich konnte sie immer noch schreien hören. Das war echt unangenehm. Die Lage entspannte sich allerdings, sobald wir in die Wohnung gezogen waren. Vielleicht half es ihnen ja, nun ihr eigenes Rückzugsgebiet zu haben. Ich denke, dass dies wahrscheinlich hinter der Idee mit dem Umzug steckte.

      Als sich die Aufregung angesichts unserer Übersiedelung erst einmal gelegt hatte, realisierte ich, was für ein Abschiedsschmerz damit verbunden war, die Alfred Street hinter uns zu lassen. Natürlich hatte ich Verständnis dafür, warum meine Mutter beschlossen hatte, in eine eigene Wohnung zu ziehen. Ganz unabhängig von ihren gesundheitlichen Problemen: Sie war eine Frau in ihren Mittdreißigern, die immer noch bei ihren Eltern lebte.

      Ich musste mich schnell daran gewöhnen, dass wir – Mum, Jimmy und ich – nun nur mehr zu dritt waren. Das war eine enorme Umstellung für einen kleinen Jungen, der bis dahin nur das Leben im Hause seiner Großeltern gekannt hatte.

      Anfangs fand ich unser neues Zuhause fantastisch. Es fühlte sich an, als sei es das Beste, was mir je passiert war. Wir wohnten zwar ziemlich weit unten im Gebäude, weshalb sich mir nicht dieselbe atemberaubende Aussicht wie bei meiner Urgroßmutter bot. Allerdings hatten wir ein ordentliches Badezimmer inklusive Wanne, was wir in der Alfred Street nicht gehabt hatten. Außerdem hatten wir auch einen Boiler und einen Wäschetrockenschrank. Bald schon begriff ich, dass man sich in diesen Wäschetrockenschrank zurückziehen konnte, wenn man die Heizung aufdrehte. Das war dann wie in einer Sauna.

      Von meinem Zimmer aus konnte ich ein kleines, hageres Bäumchen sowie einen Flecken Gras sehen. Ich blickte gewohnheitsmäßig darauf und dachte mir, wie glücklich ich mich schätzen durfte, hier zu wohnen. Immerhin hatten wir ein Bäumchen und einen Rasen, und eben einen Wäschetrockenschrank und eine Badewanne. Anfangs war ich richtiggehend geplättet von allem. Aber natürlich wurden mir mit der Zeit auch die zahlreichen Nachteile bewusst. Es gab hier kein Gemeinschaftsgefühl. Die Blockgebäude isolierten die Leute voneinander, besonders die alten, die zuvor noch so reichhaltige soziale Existenzen geführt hatten. Hier konnte man nirgendwo einen Stuhl aufstellen und sich in die Sonne setzen, um ein Schwätzchen mit den Nachbarn zu halten. Für uns Kinder gab es keine Straße, auf der wir spielen konnten, keinen Wasserschlauch, um uns im Sommer gegenseitig nass zu spritzen. Diese Wohntürme waren zwar vermutlich auf dem Papier eine tolle Idee, doch konnten sie den Ansprüchen ihrer Bewohner leider nicht gerecht werden. Sie waren eine streng wirtschaftliche Lösung, und der Preis, den die Menschen zahlen mussten, war hoch. Denn selbstverständlich waren es nicht die Architekten und Stadtplaner, die dort leben mussten.

      Ungefähr zur selben Zeit, als wir in unsere Wohnung einzogen, verschlechterte sich der allgemeine Gesundheitszustand unserer Familie. Bei meinem Großvater wurde ein Gehirntumor diagnostiziert und er musste sich im Jüdischen Krankenhaus, das sich damals in der Nähe des Strangeways Prison befand, einer Operation unterziehen, bei der ihm der Tumor entfernt wurde. Keine Ahnung, warum er in einem jüdischen Krankenhaus lag, denn er war kein Jude. Aber obwohl wir uns eine Weile große Sorgen um ihn machten, war die Operation ein Erfolg. Leider stellte sich aber heraus, dass das nur der Anfang von allem sein würde. Schon bald nachdem mein Großvater aus dem Krankenhaus entlassen worden war, musste sich meine Großmutter dorthin begeben, da sie sich wegen ihres grünen Stars operieren lassen musste. Ein routinemäßiger Eingriff, der in den Krankenhäusern permanent durchgeführt wurde. In diesem Fall aber lief irgendetwas katastrophal falsch und meine Großmutter verlor ihr Augenlicht. Solange sie lebte, sollte sie nie wieder etwas sehen. Abgesehen davon, dass die Erblindung meiner Großmutter für sich schon eine absolute Tragödie war, waren die Auswirkungen auf meine Familie niederschmetternd. Sie war meiner Mutter stets eine große Hilfe gewesen und obwohl wir umgezogen waren und nun Jimmy hatten, hatte meine Großmutter weiterhin geholfen – doch nun ging das nicht länger. Es bedeutete auch, dass mein Großvater – nicht lange, nachdem er von seinem Gehirntumor genesen war – nun der einzig körperlich gesunde Erwachsene in unserer Familie war. Meine Großmutter hatte als Putzfrau gearbeitet, musste nun aber aufgrund ihrer Erblindung ihren Job kündigen, was ihre Lage in der Alfred Street nur noch verschärfte. Es war eine schreckliche Zeit. Obwohl ich glaube, dass die Familie das volle Ausmaß dessen, was meiner Großmutter zugestoßen war, vor mir geheim hielt. Ich erinnere mich nicht daran, dass es ein Thema war, solange ich in der Nähe war. Allerdings weiß ich noch, dass ich wütend war, dass dieser dumme Arzt die Sehfähigkeit meiner Großmutter auf dem Gewissen hatte. Es ist anzunehmen, dass man heutzutage in so einem Fall rechtliche Schritte ergreifen kann, aber damals musste man schlicht und einfach mit der Situation zurechtkommen. Wir waren eine arme Familie aus der Arbeiterklasse, was hätten wir also tun sollen?

      Meine neue Schule hätte eine willkommene Abwechslung von den Querelen, die ich zuhause miterlebte, sein können, aber leider lief auch dort nicht alles wie am Schnürchen. Zwar ging ich nun auf eine andere Schule, doch blieb das Resultat dasselbe: Ich tat mir an der Salford Grammar School um nichts leichter als an der St. Clement’s. Mathematik war weiterhin meine große Schwäche und in meiner großen Mathe-Prüfung im ersten Jahr erreichte ich gerade einmal fünf oder sechs Prozent der Gesamtpunktezahl. Das Selbstvertrauen, das ich mir durch die Abschlussprüfung in der Grundschule erarbeitet hatte, lag schon bald wieder am Boden. Obwohl mir jegliches mathematische Talent fehlte, setzten die Lehrer dennoch alles daran, mir den Lehrstoff einzutrichtern. Es blieb aber zwecklos. Ich war viel besser in Kunsterziehung, der Klassenbeste sogar, doch anstelle mich diesbezüglich zu fördern, lag der ganze Fokus auf Mathe. Menschen verfügen über unterschiedliche Talente und ich denke, dass dies in der Schulbildung Berücksichtigung finden sollte. Die Schule sollte bezüglich der Fächer, in denen man nicht so gut ist, eine solide Basis bieten, aber die Rolle der Ausbildung sollte darin liegen, herauszufinden, was die individuellen Stärken sind, beziehungsweise diese fördern. Schließlich würde man einen dürren Bücherwurm mit dicken Brillengläsern auch nicht dazu zwingen, Kapitän der Rugby-Mannschaft zu werden. Das wäre komplett schwachsinnig. Ist es demnach nicht ebenso lächerlich, jemanden, dessen Vorzüge eindeutig künstlerischer Natur sind, zum Mathe-Genie drillen zu wollen?

      Obwohl ich nicht zu den schulischen Überfliegern zählte, saß ich im Klassenzimmer weit hinten. An der Salford Grammar School – so wie in jeder anderen Schule – gab es die guten Jungs und die bösen Jungs. Die guten Jungs saßen vorne und die bösen sammelten sich in den hinteren Reihen. Ich saß stets in der letzten Reihe, nicht etwa weil ich ein Dummkopf oder ein Störenfried gewesen wäre, sondern weil ich den Lehrplan beziehungsweise wie er umgesetzt wurde extrem öde fand. Ich sehnte mich danach, etwas mehr angeregt zu werden. Sogar Geschichte war mir damals gleichgültig – obwohl ich heute Geschichte liebe. Meiner Überzeugung nach hatte das mit dem Lehrstoff zu tun, denn niemand von uns interessierte sich für Getreidezollgesetze oder die geflügelte Nuss des Ahornbaums – doch waren dies damals die Dinge, die wir zu lernen hatten. Trotz all der Jahre, die ich im Geschichtsunterricht saß, kann ich mich nur an eine Sache erinnern, nämlich daran, dass einmal eine Spinne von der Nase des Lehrers baumelte, als dieser gerade über die Brotpreise im 19. Jahrhundert oder Ähnliches schwadronierte. Das war es auch schon. Das ist alles, woran ich mich bezüglich dieses Faches erinnere – und trotzdem verschlinge ich heute Bücher zu diesem Thema.

      In den Naturwissenschaften war es auch nicht viel besser, allerdings war unser Lehrer, Mr. Upton, der schon vor Jahren gestorben ist, nicht nur sehr streng, sondern auch ein recht schräger Vogel. Von Anfang an wurden wir vor ihm gewarnt: „Möge euch Gott helfen, er ist irre.“ Er war –

       gelinde gesagt – ein Exzentriker. Gleich in unserer allerersten Stunde wies er uns an, dass wir alles auf amerikanische Weise, also mit weniger Buchstaben, schreiben sollten – um Tinte zu sparen.

      Er fuhr ein kleines, dreirädriges Auto, das wir vom Klassenzimmer aus sehen konnten. Eines Tages, gegen Ende des Schuljahres, saßen wir in seiner Stunde, als wir durch das Fenster beobachteten, wie ein paar Sechstklässler, die fertig mit der Schule und dementsprechend euphorisch waren, zu seiner Karre gingen, durchs Fenster langten, die Handbremse lösten und das Gefährt aus der Parklücke schoben. Das eigentümliche Auto war auf einem Hügel gestanden und bevor wir uns versahen, ließen es diese Typen den Hang vor unserem Klassenzimmer hinunterrollen. Der Lehrer bekam davon natürlich genau gar nichts mit, da er mit dem Rücken zum Fenster stand. Wir hingegen hatten Logenplätze, als das dreirädrige Vehikel an unserem Klassenzimmer vorbeischoss und