New Order, Joy Division und ich. Bernard Sumner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernard Sumner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454724
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durchmachen musste, zu illustrieren vermochte. Sie kämpfte gegen ihren Zustand an, tat alles, um es erträglicher für sich zu machen. Meine Mutter probierte unterschiedliche homöopathische Mittel aus und regelmäßig riefen uns alle möglichen Quacksalber an. Ihr Leben blieb aber trotz all ihrer Bemühungen sehr mühsam. Sie muss frustriert gewesen sein und ich nehme an, dass sie sich einfach an jemandem abreagieren musste. Leider war dieser jemand eben ich.

      Meine Mutter war aber nicht die ganze Zeit über so schikanös. Es gab zweifellos auch glückliche Zeiten und Anlässe. Ich erinnere mich etwa an wunderbare, ja magische Weihnachtsfeste. Aber sobald ich irgendetwas anstellte, mitunter auch bei den belanglosesten Vergehen, schien meine Mum es beinahe zu genießen, mich dafür zu bestrafen. Ich war zwar deshalb nicht nachhaltig verkorkst, doch meine Kindheit war auch von einer konstanten unterschwelligen Angst vor meiner Mutter geprägt.

      1961 heiratete sie schließlich einen Mann namens James Dickin, der ebenfalls an Zerebralparese litt und Metallschienen an seinen Beinen trug. Sie brachte ihn dazu, mich ein paar Mal ziemlich fest zu schlagen. Ich weiß, dass es damals nicht ungewöhnlich war, wenn Väter ihre Söhne verdroschen, und ich halte es ihm eigentlich auch nicht vor, doch hatte ich deswegen nicht gerade weniger Angst vor meiner Mum. Das Wissen, dass jemand im Haus war, der mich für sie schlagen konnte, ließ mich meine Angst nie vergessen, auch wenn die meisten Bestrafungen eher psychischer als körperlicher Natur waren.

      Ich kann mich erinnern, dass mir meine Mutter nach irgendeinem Vergehen meinerseits Jimmy auf den Hals schicken wollte, ich aber in mein Zimmer rannte und mich vor ihm in einem winzigen Schrank für den Gaszähler versteckte. Da ich damals sehr klein war, konnte ich mich gerade mal so hineinquetschen und die Türe verschließen. Durch einen Spalt konnte ich erkennen, wie Jimmy nach mir suchte. Ich erinnere mich auch noch lebhaft an das Gefühl der kalten Angst in meinem Magen, das ich in diesem Moment verspürte. Ich konnte die Stimme meiner Mutter hören, die von unten rief: „Bist du sicher, dass er da oben ist? Bist du sicher, dass er nicht nach draußen gelaufen ist?“ Ich weiß zwar nicht mehr, wie die Sache letztlich endete – ob Jimmy mich fand, oder ob ich mich freiwillig stellte –, aber die Angst vor dem, was mir bevorstand, war so bildhaft, dass sie mir bis heute noch in den Gliedern steckt.

      Wie gesagt, in gewissem Maß verstehe ich, warum sie so mit mir umsprang. Ich denke, dass es mehr mit tief empfundener Frustration und weniger mit Boshaftigkeit zu tun hatte. Sie fühlte sich vermutlich gefangen in ihrer Behinderung – und natürlich war sie das auch. Meine Mutter wollte ein besseres Leben und hätte es sich auch verdient gehabt. Sie war wütend über ihr schwieriges Los. Ihre Situation – und das meine ich nicht nur auf ihre Behinderung bezogen – hätte jeden deprimiert und viel weniger willensstarke Menschen in die Knie gezwungen. Meine Mutter war auch nicht ununterbrochen böse – nur wenn sie niedergeschlagen war. Vermutlich litt sie doch unter Depressionen – und ich kann das verstehen. Immerhin würde sich jeder in ihrer Lage irgendwie abreagieren wollen, worin wahrscheinlich der Grund liegt, warum meine Verfehlungen so übertrieben strikt bestraft wurden. Ich habe das meiner Mum jahrelang angekreidet, bis ich selbst eine Zeitlang unter Depressionen zu leiden hatte und mir mit einem Schlag vorstellen konnte, wie sie sich gefühlt haben muss. Für manche Menschen ist das Leben ziemlich schwer – und für manche sogar noch schwerer. Als ich anfing, mich meiner eigenen Depression zu stellen, eröffnete sich mir ein kleiner Einblick in das Leid, das sie durchlebt haben muss. Ich habe meiner Mutter mittlerweile ohne Einschränkung vergeben.

      Ich war mir stets sehr bewusst, wie sehr sich meine Mum von den Müttern der anderen Kinder unterschied, und es gefiel mir nicht, mich von ihnen durch meine gehandicapte Mutter abzuheben. Wenn man ein Kind ist, dann will man nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken, besonders nicht durch etwas, das als Schwäche ausgelegt werden könnte. Ich war nicht sehr fair zu meiner Mutter: Ich wollte sie in ihrem Rollstuhl nicht einmal die Straße hinunter schieben, was sie wohl belastet haben dürfte – ihr eigener Sohn schämte sich dafür, mit ihr gesehen zu werden. Lower Broughton war eine knallharte Gegend. Wenn an dir etwas anders war, etwas wofür dich andere drankriegen konnten, eine vermeintliche Schwäche, dann wurdest du als das schwache Tier in der Herde wahrgenommen – und sobald man dich erst einmal von der Herde getrennt hatte, musstest du stets auf der Hut sein. Selbstverständlich wurde ich andauernd gehänselt: „Deine Mum ist ein Spasti.“ Solche Sachen eben. Ich wollte einfach nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen. Heute schäme ich mich dafür.

      Aber trotz meiner schwierigen Beziehung zu meiner Mutter denke ich sehr gerne an die Zeit in der Alfred Street zurück. Zuhause hatte ich es nicht einfach, aber sobald ich vor der Tür war, war das Leben eigentlich sehr fröhlich. An heißen Sommertagen liefen wir Kinder in unseren Unterhosen herum und spritzten uns mit einem Gartenschlauch ab. Es war, als würde man vor der eigenen Haustüre Urlaub machen. Die alten Leute stellten sich Stühle vor ihre Häuser, saßen in der Sonne und unterhielten sich miteinander. Es war eine wunderbar gesellige Art zu leben. Die alten Ladys tratschten über die Straße hinweg und hatten dabei ein Auge auf die krakeelenden Kids – den ganzen Tag lang, bis Mitternacht. Dieser Zusammenhalt war eine tolle Sache: Man kannte den Namen von jedem in der Straße, ihre Marotten, einfach alles. Ich weiß gar nicht, ob es diesen Sinn für Gemeinschaft in den paar verbliebenen Straßen dieser Art in Manchester noch gibt.

      Es herrschte trotzdem nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen: Wie sonst auch überall gab es hier ebenfalls ein paar fiese Familien, über welche die alten Leute tratschten. Es gab bestimmte Häuser, bei denen man vorsichtig sein musste. Ich nenne hier diese Familien die Whites, die Greens und die Pinks, obwohl das nicht ihre richtigen Namen waren. Sie waren diejenigen, von denen man sich möglichst fernhielt. Es handelte sich bei ihnen um riesige, kinderreiche Sippen, die über einen nicht versiegen wollenden Nachschub an Brüdern und Cousins verfügten, die echt zähe Burschen waren. So sehr, dass man sich seinen Weg gut überlegen musste, um ja nicht an ihren Häusern vorbeigehen zu müssen.

      Die Pinks waren besonders abgefahrene Leute. Die halbe Familie saß im Knast: Ich denke, dass sie neun Kinder hatten, von denen immer zumindest vier gerade einsaßen. Ich weiß noch, wie ich einmal spät in der Nacht die Straße hinunterging und ein sonderbares Zischgeräusch hörte. Ich sah zum Haus der Pinks hinüber und einer von ihnen stand im Wohnzimmer und pisste durch das Schiebefenster auf die Straße hinaus. Ein anderes Mal sah ich ein paar ineinander verknotete Pinks wie einen Fußball durch ihre Eingangstür rollen. Es waren gleich ein paar von ihnen, sie schrien einander an und keilten sich. Irgendwann zog ein junges Paar neben ihnen ein. Eine schlechte Entscheidung. Eines Tages kam es zu einer Auseinandersetzung im Pub, bei welcher der neue Typ einem der Pinks ein Glas überzog. Nur kurze Zeit später sah ich, wie er auf der Straße mit einer Eisenstange attackiert wurde. Er wurde so hart getroffen, dass sich das Ding um seinen Brustkorb bog.

      Mrs. Pink hatte einen Freund. Als ich schon etwas älter war, hatten wir einen Treffpunkt gegenüber dem Haus der Pinks. Eines Abends waren die Lichter an und die Vorhänge offen und wir konnten hineinsehen. Sie hatten Schiebetüren, die das Wohnzimmer und die Empfangsstube voneinander trennten. Diese Tür ging auf und da stand Mrs. Pink in Strapsen und BH. Da war aber noch eine weitere Frau, die genau gleich angezogen war. Unsere Augen sprangen uns beinahe aus den Höhlen. Dann sahen wir, wie der Freund sich aus seinem Lehnsessel erhob, zum Getränkeschrank ging und sich einen Drink zubereitete. Dann zog sich das Trio in ein anderes Zimmer zurück.

      Sie waren durchgeknallte Leute, diese Pinks. Ihnen war alles schnurz­egal. Uns ließen sie aber weitgehend in Frieden wegen meines Cousins Tommy, der selbst ein ziemlich harter Knochen war. Tommy hatte sich einst mit dem ältesten der Pinks geprügelt, wobei er ihm ein Ohrläppchen abgebissen hatte. Danach hatten wir Ruhe vor ihnen. Einmal wurde ich von zwei Typen gejagt – sie waren vielleicht 18 oder 19 Jahre alt. Ich war neun. Sie holten mich ein und warfen mich zu Boden. Gerade als sie mich aufmischen wollten, realisierte ich, dass es zwei Pinks waren. Umgekehrt begriffen auch sie, wer ich war. „Oh“, sagte einer von ihnen, „wir wussten nicht, dass du es bist.“ Danke, Tommy.

      Ein besonderer Höhepunkt im Jahr war immer die Bonfire Night am 5. November. Hinter dem Haus meiner Urgroßmutter befand sich eine Bombeneinschlagstelle. Ein Andenken an einen direkten Treffer in der nächsten Straße, bei dem ein Haus zerstört worden war. Es waren dabei Menschen ums Leben gekommen. Eine meiner Tanten war unter dem Schutt begraben worden, konnte aber noch rechtzeitig