Das Geheimnis von Karlsruhe. Bernd Hettlage. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bernd Hettlage
Издательство: Bookwire
Серия: Lindemanns
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783881908351
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im Mietshaus seiner Großmutter – er nannte es immer noch so, obwohl es jetzt schon so lange seines war – würde ihm bleiben. Doch wann er dorthin zurückkehren konnte, stand buchstäblich in den Sternen.

      Er hatte nach ein paar Wochen in Varanasi eine kleine Zweizimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus am Assi Ghat gefunden, dem südlichsten Uferplatz der Stadt. Sehr bescheiden für westliche Verhältnisse, aber die Ausländer, die hier lebten, sagten ihm, dass er großes Glück gehabt habe. Die Miete betrug umgerechnet zweihundert Euro im Monat.

      Glück hatte er auch damit, dass die Wohnung im zweiten Stock lag. Die sommerliche Regenzeit zerstörte hier nämlich vieles. Die Häuser und noch mehr die Straßen befanden sich allgemein in einem schlimmen Zustand, nicht nur wegen der grassierenden Korruption, die alle staatlichen Hilfsgelder für Denkmal- und Umweltschutz in dunklen Kanälen versickern ließ. Wenn es regnete, war alles eine einzige Schlammwüste. In den Häusern schimmelten die Wände bis zur Decke des Erdgeschosses. Bis zum zweiten Stock kam das Hochwasser jedoch nie.

      Zwei Zimmer hieß hier nicht, dass es zusätzlich noch ein Bad und eine Küche gab. Dusche und Toilette befanden sich außerhalb der Wohnung einen Stock tiefer und wurden von allen Hausbewohnern gemeinsam benutzt. Seine Wäsche gab Arnold an eine Dhobi, eine Waschfrau, und bekam sie zwei Tage später gebügelt zurück.

      Die Küche bestand aus einem steinernen Wandtisch mit einem Kerosinkocher und einem Regal und befand sich in dem Zimmer, den er auch als Wohnraum benutzte. Daneben lag ein winziger Schlafraum. Von den Wänden bröckelte der Kalk. Vielleicht würde er sie streichen, wenn er lange genug blieb. Auf den nackten Steinboden hatte er ein paar Sisalmatten gelegt. Vor die Fenster, die wegen der jeden Nachmittag um die gleiche Zeit durch die Altstadt marodierenden Affenbanden vergittert waren, hatte er Tücher gehängt.

      Obwohl es hinter den Tüchern nichts zu verbergen gab. Frauenbesuch, der über freundschaftliches Geplauder hinausging, hatte er in diesen Räumen noch nicht gehabt.

      Weiter unten am Fluss wurde jetzt das allabendliche Spektakel für die Touristen vorbereitet, ein farbenprächtiger, brahmanischer Ritus mit ohrenbetäubendem Glockengeläut und vielen Fackeln. „Sponsored by Bank of Baroda“ stand in Hindi-Lettern auf einem breiten Kunststoffbanner, das an hölzernen Stangen über der Szenerie hing. Arnold warf auch den zweiten Becher auf die Stufen vor sich, wo er zerschellte, stand auf, nickte Rudi noch einmal zu und ging zurück zu seiner Wohnung.

      Es war ein kurzer Weg. Fünfzig Meter die Stufen des Assi Ghats hinauf, dann in eine schmale, gepflasterte Gasse hinein, deren rechte Wand die Mauer des Shiva-Tempels bildete, und in den dritten Hauseingang links einbiegen. Zwei halbe Treppen nach oben. Seine Sandalen hinterließen ein schürfendes Geräusch auf den Steinstufen. Aus dem Erdgeschoss, in dem die Hauseigentümer wohnten, eine vielköpfige indische Familie, begleitete ihn der Geruch von indischem Curry bis zu seiner Wohnung. Ein Kind rief etwas, die Mutter antwortete mit lauter Stimme, dann war es wieder still. Keiner der anderen Mieter schien zu Hause zu sein. Es war kühl im Flur.

      Arnold schloss die Wohnungstür auf und tastete nach dem Lichtschalter. Er drückte ihn, doch der Raum blieb dunkel.

      Mist, wieder ein Stromausfall, dachte er, als er aus dem Dunkel ein leises Klicken hörte, das ihm augenblicklich alle Haare zu Berge stehen ließ. Dann ertönte eine wohlbekannte, sehr angenehm temperierte Stimme: „Dachtest du wirklich, wir finden dich nicht?“

      I.

      Dienstag, 4. September 2012

      Die Ankündigung kam eine Stunde vorher per SMS: „Suche mit uns den Gral. 21 Uhr, Karlsruhe, vor dem Schloss. Zünde eine Kerze an, CB“.

      Eine Kerze. Wo fand er denn jetzt eine Kerze? Lukas Arnold kramte im alten Küchenschrank seiner Großmutter herum. In einer der hölzernen Schubladen, die ein Sammelsurium der unterschiedlichsten Dinge enthielten, fand er zwischen Nähgarn, Haushaltsgummis und einem Bogen Briefmarken ein paar Teelichter. Das musste genügen. Er steckte eins davon ein und nahm eine Packung Streichhölzer dazu. Vor dem Spiegel im Flur strich er sich einmal über die kurzen Haare, zog sich den Kapuzenpulli über und verließ die Wohnung. Von der Luisenstraße zum Schloss waren es zu Fuß ungefähr zwanzig Minuten, wenn man zügig ging.

      Der Himmel schimmerte in Richtung Westen noch dunkelblau, aber die Nacht kam schnell. Es war ein schöner Spätsommertag gewesen, wenn auch etwas kühl für einen Septemberanfang in Karlsruhe.

      Karlsruhe liegt im Oberrheingraben, an dem das mildeste Klima Deutschlands herrscht. Die Einheimischen sind stolz darauf und fühlen sich schon halb als Südländer. Allerdings stöhnen sie wiederum auch über die im Sommer mitunter subtropische Schwüle in der Innenstadt. Früher schickte man die angehenden Afrika-Missionare in die Stadt, um sie hier auf das tropische Klima des schwarzen Kontinents vorzubereiten. Die Wasserläufe am Altrhein galten bei der Weltgesundheitsorganisation noch bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Malaria-Gebiet. Im Sommer kann heute noch jeder Tümpel auf einer Baustelle in der Innenstadt eine wahre Stechmückenplage auslösen.

      Arnold passierte die Pyramide auf dem um diese Zeit schon beinahe menschenleeren Marktplatz. Demnächst sollte er zur Großbaustelle werden für die sogenannte Kombilösung, Karlsruhes im Bau befindliche U-Bahn. Die ganze Innenstadt war eigentlich eine einzige Baustelle und jede Woche schien irgendwo eine neue Grube zu entstehen, eine andere Straße gesperrt und eine weitere Straßenbahnlinie umgeleitet zu werden. So manch einer hatte sein Ja bei der Volksabstimmung über die U-Strab wohl schon längst bereut.

      Arnold lief weiter in Richtung Schloss. Auf dem Vorplatz knirschte der Kies unter seinen Schuhen. Es war jetzt ganz dunkel geworden. Das Schloss leuchtete orange, von Scheinwerfern angestrahlt.

      Vor dem Haupteingang hatten sich um die hundert Menschen versammelt, die wohl alle die gleiche kryptische SMS erhalten hatten. Sie hielten brennende Kerzen in den Händen, die flackernd ihre Gesichter beleuchteten, was den einen ein andächtiges, anderen eher ein geisterhaftes Antlitz verlieh.

      Er erkannte niemanden, aber das war nicht weiter verwunderlich. Er hatte Karlsruhe vor sechszehn Jahren, mit knapp über zwanzig, verlassen und besaß nur noch wenige Bekannte hier. Erst seit seine Großmutter vor zwei Jahren gestorben war, kam er drei-, viermal im Jahr für ein paar Tage hierher, um in dem kleinen Mehrfamilienhaus mit den fünf Wohnungen in der Luisenstraße nach dem Rechten zu sehen. Er hatte fast seine gesamte Kindheit und Jugend lang hier bei seinen Großeltern gewohnt, damals noch in einer größeren Wohnung. Nun hatte seine Oma ihm das Haus vermacht.

      Die Regelung der Mietzahlungen, den Hausmeisterdienst und alles andere hatte er einer Hausverwaltung überlassen. Für ihn selbst blieben knapp 1200 Euro im Monat übrig. Eine schöne Grundlage, wenn es ihm auch nicht ganz zum Leben reichte. Selbst in Berlin nicht. Obwohl er, wie er fand, doch relativ bescheiden lebte. Allerdings musste er von diesem Geld außer seiner Wohnung auch noch eine kleine, wenn auch billige Ladenwerkstatt unterhalten.

      Trotzdem hatten die monatlichen Mieteinnahmen und die Sicherheit dieser Immobilie einen ungemein entspannenden Effekt auf sein Leben: Er war raus aus dem Rattenrennen nach dem Geld. Er musste nicht funktionieren und zur Verfügung stehen. Er musste sich nicht biegen und kneten und womöglich brechen lassen in diesen Zeiten des Wettbewerbs, wo jeder als Einzelkämpfer agierte und der Darwinismus in allen Winkeln des Lebens zu herrschen schien. Konnte es ein größeres Privileg geben?

      Zwei Männer betraten jetzt die Treppe vor dem Haupteingang des Schlosses und wandten sich an die Menge. Sie hielten Taschenlampen in der Hand, deren starken Strahl sie über die Menschen gleiten ließen. Der Jüngere war eher klein und schmal, der Ältere groß und breit.

      „Meine Damen und Herren, willkommen in Gralsruhe, der Stadt der Atlantiden“, sagte der Ältere mit tiefer, wenn auch etwas brüchiger Stimme – als würde er zu viel rauchen oder leide an einer Erkältung. „Wir werden Sie heute Nacht auf einen verschwörungstheoretischen Nachtspaziergang durch die Stadt mitnehmen. Was erzählen uns die Pyramiden, Greifen und Sphinxe, die in der ehemaligen Residenz der badischen Markgrafen zu finden sind? Was hat es mit den heiligen und unheiligen Symbolen auf sich, die in