Bob Marley - Catch a Fire. Timothy White. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Timothy White
Издательство: Bookwire
Серия: Rockgeschichte
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854454656
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auch aus der Stadt nicht genau, wann und wo sie geboren und wer ihre Eltern sind.)

      Es bedarf noch gründlichster Nachforschungen in allen möglichen Aufzeichnungen, bis jamaikanische Archivare vielleicht Bob Marleys Geburtsurkunde auffinden –

      und seine Rasta-Brüder nehmen das mit einem weisen Kopfnicken zur Kenntnis, denn sie glauben, dass Marley wie der Kaiser Haile Selassie I. von Äthiopien niemals geboren wurde und deshalb auch nicht sterben konnte. (»Him was de inheritor of Jah’s legacy, him cyan’t die. Rasta nuh fear death, because Rasta never live, an’ never die.« »Er war der Erbe von Jah’s Vermächtnis, er kann nicht sterben. Rasta fürchtet nicht den Tod, denn Rasta lebt niemals und Rasta stirbt niemals.«)

      Ähnliche Schwierigkeiten tauchen auf, wenn es um die Veröffentlichungsdaten der meisten jamaikanischen Singles und Langspielplatten geht, denn Aufzeichnungen darüber wurden, wenn überhaupt, nur ganz selten gemacht, und eine 45er konnte in einer ganzen Anzahl von Vorabversionen unter den Leuten sein, bevor sie tatsächlich auf dem normalen kommerziellen Markt erhältlich war. Die Veröffentlichungsdaten in diesem Buch beziehen sich, wenn nicht ausdrücklich anders vermerkt, auf Jamaika, nicht auf Großbritannien, wo so viele jamaikanische Hits später herauskamen. Die Informationen erhielt ich durch Interviews mit den Produzenten oder, wenn möglich, mit dem Künstler selbst oder gar beiden, und sie lassen sich meistens auf den Monat zurückverfolgen. (Im Anhang des Buches findet sich eine umfassende Diskographie der Wailers und ihrer erweiterten musikalischen Familie.)

      Im gesamten Buch wird immer wieder das jamaikanische Patois benutzt. Der Rhythmus dieses Dialekts gleicht dem eines Gummiballs, der die Treppen hinunterspringt und dann sanft von einem Kind aufgefangen wird. Was die Schreibweise und die Bedeutung der meisten Patois-Wörter betrifft, die im Text immer wieder auftauchen, bin ich dem Dictionary of Jamaican English, herausgegeben von F. G. Cassidy und R. B. Le Page, zu großem Dank verpflichtet, denn ohne dieses Wörterbuch hätte ich viele meiner Interviews niemals transkribieren können. Andere Schreibweisen bei der Wiedergabe der eigenartigen Inselsprache folgen so eng wie möglich dem allerdings leicht uneinheitlichen Stil des Daily Gleaner, Jamaikas 160 Jahre alter Tageszeitung.

      Gegen Ende des Buches wird erwähnt, dass unter den jamaikanischen Rasta-Brothers der Verdacht weitverbreitet war, dass während der siebziger Jahre und Anfang der 1980er Jahre die Central Intelligence Agency (CIA) ihre Aktivitäten allgemein und die Karriere Bob Marleys im Besonderen überwachte. Unter Inanspruchnahme des Gesetzes über Informationsfreiheit (Freedom of Information Act, 5 U.S.C. 552) fand ich 1982 CIA-Dokumente, die bestätigten, dass der Geheimdienst und andere Regierungsbehörden der USA tatsächlich Akten über die jamaikanische Reggae-Szene, die Bewegung des Rastafarianismus und die Aktivitäten von Bob Marley angelegt hatten.

      Für die erweiterte und ergänzte Ausgabe von 1991 habe ich nicht nur zusätzliche Fakten gesammelt, Feldforschung betrieben und Notizen gemacht, sondern über den Zeitraum von neun Jahren hinweg auch eine Vielzahl nachträglicher Interviews erstellt, die hin und wieder lange kolportierte Fehleinschätzungen korrigieren. So wurde in den letzten beiden Jahrzenten beispielsweise oft geschrieben, Rod Stewart habe auf dem Ska-Klassiker ›My Boy Lollipop‹ die Mundharmonika gespielt. Rod sagt dazu: »Ich war’s nicht, Alter! Ich glaube mit ziemlicher Sicherheit, es war der Typ, der in den sechziger Jahren in einer alten R&B-Band – Jimmy Powell and the Five Dimensions –

      mein Nachfolger wurde. Ich habe zwar nicht so gut gespielt wie er, aber er hatte die gleiche verdammte Frisur – und das hat mich mehr geärgert als alles andere.« Auch sind verschiedene Informationen und Archivare auf mich zugekommen, um mir frische Details anzubieten oder mir dabei zu helfen, die eine oder andere Tatsache hinzuzufügen. Doch war die Welt Bob Marleys eine solche, in der man Meinung, Erinnerung, Interpretation und Glauben oft höher bewertete als pure Fakten, und so macht die schiere Masse widersprüchlicher Auffassungen, exotischer Rückbesinnungen, engagiert vorgetragener Lehren und dem Jenseits zugeneigter Glaubenssystem, die in alles eingeflochten sind, einen Großteil der Philosophie und der Prämissen dieses Buches aus. Es gibt in dieser Geschichte mehr oder weniger drei eigenständige Phänomene: Bob Marley, Jamaika und die Macht des Glaubens. Hat der Leser die schroffen Wahrheiten und den tieferen Hintergrund des Kapitels »Riddim Track« erst einmal verarbeitet, lade ich ihn ein in die Welt Bob Marleys aus der Betrachtungsweise jener, deren erstaunliche Glaubenskraft sie beseelte und noch immer beseelt.

      Übernatürliche Ereignisse und metaphysische Koinzidenzen werden in diesem Buch erwähnt. In dem Kapitel über Haile Selassie wird geschildert, welche Glaubensansichten unter den äthiopischen Bauern und ihren gleichermaßen leichtgläubigen Führern anzutreffen waren – viele der heldenhaften Taten und übernatürlichen Fähigkeiten, die Hailie Selassie zugesprochen wurden, sind jedoch, wie berichtet wird, von dem Kaiser selbst erfunden und entsprechend von der Zentralregierung und der koptischen Priesterschaft in Umlauf gebracht worden. Weitere Informationen und Einzelheiten in späteren Teilen des Buches entstammen den Lehren einer ganzen Schar von Exponenten jamaikanischer Magie, Volksheilkunde und schwarzer Künste sowie denen von Pseudo-Rasta-Führern und Rasta-Führern, darunter Robert Athlyi Rogers, Leonard Percival Howell, B.L. Wilson, H. Archibald Dunkley und Claudius Henry. Diese zum Teil auch aus alten Zeiten stammenden Lehren sind oftmals gefiltert durch die Erinnerungen und persönlichen Katechismen Bob Marleys und seiner engen Verwandten und Freunde.

      Ob der Leser solch ›übernatürliche‹ Ereignisse für glaubwürdig halten mag oder nicht, ist allein seine oder ihre Entscheidung. Mir ging es bei dem Versuch, diese Geschichte von der persönlichen Warte ihrer Protagonisten aus zu erzählen, darum, die Tatsache zu vermitteln, dass die Menschen um Haile Selassie und Bob Marley – in der Vergangenheit wie in der Gegenwart – wirklich an ›Magie‹ glaubten und glauben und daher ihr Leben in Übereinstimmung mit dieser Übersetzung führten und führen.

      Boston, März 1991

      Timothy White

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      »Tatsachen? Über Jamaika? Aha! Ich liebe es, wenn die Leute vom

      Lande sagen, es gäbe keine Tatsachen auf Jamaika. Das klingt so

      poetisch und geheimnisvoll, aber sie haben natürlich absolut recht.

      Wenn man darüber nachdenkt, gibt es wirklich keine. Keine einzige.«

      Chris Blackwell, 1982

      »Tatsachen und Tatsachen, und Sachen und Sachen, das ist alles

      verdammter Unsinn. Glaubt mir! Es gibt keine Wahrheit außer der

      einen Wahrheit, und das ist die Wahrheit von Jah Rastafari!«

      Bob Marley, 1978

      »Der eine, der hat’s zu tun mit Information. Und der andere, der hat’s

      zu tun mit einer Vorstellung von Wahrheit. Und dann ist da wieder

      einer, der hat’s zu tun mit Magie. Information, die fließt um dich

      herum, und die Wahrheit, die fließt auf dich zu. Aber Magie, die fließt

      durch dich hindurch.«

      Nernelly, ein jamaikanischer »bush doctor«, 1982

      Es war kurz vor Mitternacht, und in den Beifall des auserwählten Publikums mischten sich die Rufe der zerlumpten Leute, die in Massen über die Mauern kletterten, von denen das Rufaro Stadion in Salisbury, der Hauptstadt von Simbabwe, umgeben ist. Plötzlich drehte sich der Wind, und Wolken von Tränengas, das die Polizei außerhalb der Arena benutzte, um die Menge im Zaum zu halten, trieben über das Gelände und reizten die Augen des Mannes, der auf der kleinen Bühne in der Mitte der Arena auftrat. Für einen Augenblick verlor er die Orientierung und lief aufgeregt hin und her, bis er schließlich durch ein Loch in dem Dunst, der so furchtbar in den Augen brennt, hervorstolperte. Soldaten, die M16-Gewehre schwenkten, führten ihn seitlich von der Bühne hinunter in einen Wohnwagen, wo er sich die Augen mit einem wassergetränkten Lappen abtupfte.

      Das Konzert, das seit ungefähr zwanzig Minuten in Gang war, gehörte zu den offiziellen Feierlichkeiten am 18. April