Keith weiter: „Wir waren damals völlig blank, Brian hatte viele Jobs, die er immer wieder sehr schnell los war. Er wurde beim Stehlen erwischt, aber sie ließen ihn zum Glück laufen. Brian war immer sehr gut darin, sich rauszuwinden, wenn er in der Patsche saß. Er beschwatzte den Geschäftsführer, bis der sagte: ‚Yeah, wir verstehen, deine Frau hat dich verlassen.‘ Das hat er immer behauptet, oder dass seine Großmutter gestorben sei und was ihm sonst noch einfiel. Brian hielt uns damals alle zusammen. Mick ging noch immer zur Schule. Ich suchte halbherzig einen Job. Eines morgens ging ich deshalb weg, und als ich am Abend zurückkam, spielte Brian Mundharmonika. Er stand oben auf der Treppe und sagte: ‚Hör dir das an: Wuuuhwuuuh!‘ Er spielte diese bluesigen Töne. ‚Ich hab’ gelernt, wie man es macht. Ich hab’s herausgefunden.‘ In nur einem Tag. Wir probten zwei oder dreimal die Woche, hatten keine Auftritte, weil wir uns nicht trauten. Dick Taylor spielte noch immer mit uns, jetzt am Bass. Wir suchten nach einem Schlagzeuger. Charlie trat mit Alexis Korner auf. Wir konnten ihn uns nicht leisten. Wir nahmen einen Schlagzeuger namens Tony Chapman auf. Ein schrecklicher Drummer, immer im Gegentakt. Dann beschloss Dick Taylor, an eine andere Kunstschule in London überzuwechseln. Stu ließ sich aus was für einem Grund auch immer mit uns mittreiben. Brian verdiente gerade mal genug, um uns vor dem Hinauswurf aus der Wohnung zu bewahren, und es war Winter, der schlimmste Winter seit Menschengedenken. Brian und ich saßen am Gasofen und fragten uns, wo wir den nächsten Shilling herbekommen sollten, um das Feuer in Gang zu halten. Wir sammelten Bierflaschen und holten uns das Pfand in den Pubs, drei Shilling pro Flasche. Wenn wir wussten, dass irgendwo eine Party stieg, gingen wir in die Wohnung und sagten: ‚Hallo, wie nett, wir werden aufräumen helfen.‘ Wir stahlen die leeren Flaschen und was wir an Essbarem in der Küche fanden und machten uns aus dem Staub. Das wurde alles immer mehr daneben: Wir waren so fertig, dass wir sogar vor Taschendiebstahl nicht zurückschreckten, und das war dann eigentlich auch der Grund dafür, dass die beiden LSE-Typen ausgezogen sind. Sie machten sich davon und wir kriegten einen anderen Typ als deren Nachmieter, der eine kurze Erwähnung wert ist, weil er genauso fürchterlich abstoßend war wie Brian und ich damals und auch, weil er sich Phelge nannte. Das war nur ein Spitzname, aber er bestand darauf, Phelge genannt zu werden.“
Der Name Nanker Phelge tauchte auf den ersten Platten der Stones als Autor der Eigenkompositionen auf – er war eine Kreation von Brian, wie sich Keith erinnert. „Dieser Typ, der sich Phelge nannte, durchlebte damals gerade eine unglaubliche Phase, durch die aber jeder von uns irgendwie durchging. Mick beispielsweise hatte seine erste vulgäre Periode: Er lief in einem Hausmantel aus blauem Leinen herum und fuchtelte mit den Händen herum. Ungefähr sechs Monate lang spielte er richtiggehend eine Tunte von der King’s Road und Brian und ich haben ihn total verarscht. Mick fuhr auf diesen Spleen ab, während sich Phelge darin gefiel, die abstoßendste Person überhaupt darzustellen, die jemals existiert hat. Im wahrsten Sinn des Wortes. Du kamst in die Bude – und da stand er oben auf dem Treppenabsatz, völlig nackt bis auf seine total verdreckte Unterhose, die er allerdings auf dem Kopf trug, und er bespuckte dich. Das war nichts, worüber man sich hätte ärgern müssen, man brach einfach vor Lachen zusammen. Voller Spucke brach man lachend zusammen. Und die Behausung verkam total. Ungefähr sechs Monate lang benützten wir die Küche, um darin zu proben, weil es kalt war, und so wurde sie langsam völlig verdreckt und begann zu stinken. Deshalb verbarrikadierten wir die Türen, schlossen sie ab, die Küche war fortan tabu. Ich nahm damals gern Bänder auf, hatte ein Tonbandgerät und jede Menge Spulen im Schlafzimmer. Das war interessant, denn ich hatte ein Mikrophon im Spülkasten des Klos installiert und ans Tonbandgerät angeschlossen. Deshalb hatte ich jede Menge Bänder von Leuten, die aufs Klo gingen. Wenn man das Spülgeräusch eines WCs mit einer billigen Tonbandmaschine aufnimmt, dann klingt das wie Applaus. Brian und ich dachten uns deshalb eine verrückte Show aus: Jedesmal wenn jemand aufs Klo ging, schaltete ich das Gerät ein, ging dann zur Klotür und klopfte. Und dann sagte der Insasse: ‚Besetzt, wart’ eine Minute.‘ Und ich verwickelte ihn durch die Tür hindurch in eine Konversation, auf die am Ende der Applaus folgte. Mit solchen Sachen haben wir uns damals beschäftigt. Richtig häuslich.“
Man versuchte ohne echte Hoffnung, mit der Band durchzustarten. Die Beatles brachten gerade ihre erste Platte heraus; die Beatlemania flammte auf. „Und wir waren echt niedergeschlagen“, erzählt Keith. „Wir durften zusehen, wie immer mehr Bands einen Plattenvertrag bekamen. Auch Alexis Korner bekam einen, worauf er den ‚Marquee Club‘ abgab – und wer springt für ihn ein? Genau, die Rolling Stones. Für immerhin gerade genug Geld, um zu überleben. Wir brauchen jetzt aber wirklich einen Bassisten. Ich weiß nicht mehr genau, was mit Dick Taylor passiert ist. Ich glaube, wir haben ihn rausgeworfen, denn wir waren damals sehr rücksichtslos. Keiner konnte ihn hören, weil er eine mistige Anlage und anscheinend auch keine Chance hatte, irgendwas Besseres zu bekommen. Alle anderen hatten sich irgendwie brauchbare große Verstärker organisiert. Es ging darum, wieviel man verdiente und warum man mit einem Typ teilen sollte, den man ohnehin nicht hören konnte. Wir gaben also eine Annonce auf, um einen Bassisten zu suchen. Der Schlagzeuger, den wir hatten, sagte: ‚Ich kenne einen Bassisten, der einen eigenen Verstärker hat, dazu riesige Lautsprecher und einen Vox 130 in Reserve.‘ Der Vox 130 war damals der größte Verstärker auf dem Markt und der beste. Und der Mann hatte so ein Ding in Reserve – fantastisch.“ Also betrat William Perks, der Sohn eines Maurers aus Penge im Südosten von London, die Szene. „Und er war unglaublich. Ein richtiger Londoner ‚Ernie‘ mit Pomade im Haar, einer Hose mit Elf-Inch-Stulpen und riesigen blauen Wildlederschuhen mit Gummisohlen.“
Bill Perks, der sich später Wyman nannte, lernte die Stones im „Weatherby Arms“, einem Pub in der King’s Road in Chelsea, kennen. „Bill kam dorthin“, erzählte Stu, „und sie waren in einer ihrer komischen Stimmungen und gaben sich nicht einmal Mühe, mit ihm zu reden, so dass Bill nicht wusste, was los war. Sie lebten ja zusammen in Edith Grave und, was mich betrifft, ähm, ich hatte wegen der verrückten Sachen, die dort passierten, Schiss hinzugehen. Manchmal hielt ich sie für völlig verrückt. Wenn Leute die ganze Zeit zusammenleben, entwickeln sie ihre eigene Sprache und man kann sich niemals sicher sein, ob man zu ihnen durchdringt oder ob sie wirklich meinen, was sie sagen oder ob sie einen nur die ganze verfluchte Zeit über auslachen. Bill war also kein bisschen beeindruckt.“
Bill, geboren am 24. Oktober 1935 und damit ein paar Jahre älter als die anderen Stones, hatte gemeinsam mit seinen Brüdern und Schwestern (jeweils zwei) eine solide musikalische Ausbildung genossen. Mit vierzehn konnte er Klarinette, Klavier und Orgel spielen. „Er war sehr gut“, sagte sein Vater. „Er stand sogar auf der Liste für den Job als Organist in unserer Kirchengemeinde.“ Mr. Perks sen., der „nur zum Spaß“ in den Pubs der Nachbarschaft Akkordeon spielte, erklärte seinen Kindern, dass sie, „wenn sie ein Instrument erlernten, nie in Geldnöten sein würden“. Aber obwohl Bills Eltern beide arbeiteten, musste er mit sechzehn die Beckenham Grammar School verlassen und einen Job annehmen. Bill wurde einberufen und begann Gitarre zu spielen, während er als Angehöriger der Royal Air Force in Deutschland stationiert war, wo er in der Registratur arbeitete.
Nach seinem Militärdienst fand Bill einen Job in einer Firma für Maschinenbau in Lewisham. Als er die Stones traf, war er schon eineinhalb Jahre verheiratet und hatte einen einjährigen Sohn, Stephen. Bill arbeitete in der Maschinenbaufirma und spielte mit einer Rock ’n’ Roll-Band namens The Cliftons. „Wir hatten einen Schlagzeuger und drei Gitarristen“, erinnerte sich Bill. „Einer spielte Rhythmus, einer Solo, und ich stimmte die obersten beiden Saiten meiner Gitarre um sieben Halbtöne tiefer und spielte Bass im Stil von Chuck Berry. Wir kamen damit so halbwegs durch, aber als wir dann Gruppen mit echten Bässen hörten, wussten wir, dass da was faul war. Wir kauften also einem Kumpel eine Bassgitarre ab, stutzten sie uns zurecht, machten das ganze Metallzeug weg, wodurch