Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Buzz Bissinger
Издательство: Bookwire
Серия: Fernsehen
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854456377
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Esther sechzehn war. Amerika hatte sowohl Deutschland als auch Japan den Krieg erklärt, und Bill war wie so viele junge Männer seiner Zeit wild entschlossen zu kämpfen. Da er noch immer kanadischer Staatsbürger war, durfte er jedoch nicht einfach so in die US-Armee eintreten. Allerdings bestand die Möglichkeit, sich zur Einberufung zur Verfügung zu stellen, allerdings auch erst mit zwanzig, und Bill war neunzehn. Beinahe täglich erschien er bei seinem Armee-Anwerber in New York, bis der endlich ein Einsehen hatte.

      „Hast du deine Geburtsurkunde dabei?“

      Bill zeigte sie vor.

      „Lass mal sehen.“

      „Jawohl, Sir.“

      Daraufhin änderte der Anwerber das Geburtsdatum mit Bleistift und machte Bill ein Jahr älter.

      „In ein paar Wochen hörst du von uns. Und jetzt geh mir nicht mehr auf die Nerven.“

      Ein Vierteljahr nach der Hochzeit wurde Bill einberufen, und Esther bekam ihn drei Jahre lang nicht mehr zu Gesicht. Sie schrieb ihm aber jeden Tag, obwohl es bald nichts Interessantes mehr zu berichten gab. Natürlich machte sie sich Sorgen um meinen Vater, und dazu hatte sie auch allen Grund. Er gehörte zu den Army Rangers, einer Spezialeinheit, die oft in den schwierigsten und gefährlichsten Manövern eingesetzt wurde. Seine Ausbildung hatte er im Fifth Ranger Battalion in Camp Forrest in Tennessee durchlaufen, war dann nach Fort Pierce in Florida verlegt worden und hatte dort einen Vorgeschmack auf das bekommen, was ihm bevorstand. Die Truppe wurde mit dem Schiff auf den Atlantik hinausgebracht und musste dann in Landungsbooten und mit Zwanzig-Kilo-Gepäck auf dem Rücken an Land zurückkehren. Bill war das Wasser vertraut, aber einige seiner Kameraden konnten nicht einmal schwimmen. Danach hatte vorher auch niemand gefragt.

      Auf einem Armee-Stützpunkt in Schottland wurde er für die amphibische Kriegsführung und im Nahkampf ausgebildet. Schließlich kam er ins Hauptquartier des Fifth Ranger Battalions und befehligte dort acht Soldaten, deren Aufgabe es war, den Funkverkehr zwischen dem Hauptquartier und den Truppen im Feld aufrecht zu erhalten.

      Er wusste, dass es an die Front ging.

      Schon drei Tage im Voraus erhielten Bill und seine Kameraden die Nachricht, dass sie zum ersten Schwung derer gehören würden, die bei der geplanten Landung der Alliierten die Strände der Normandie angreifen würden, und ein Schiff sie über den Ärmelkanal brächte. Am 6. Juni 1944 beluden sie um sechs Uhr früh ihre Landungsboote. Auf den ersten zehn Seemeilen wurde noch viel gelacht; sie alle brannten nach den zwei Jahren harter Ausbildung darauf, endlich zum Einsatz zu kommen. Die See war sehr rau, und es waren braune Papiertüten verteilt worden, falls jemand seekrank werden sollte.

      Mein Vater war der zäheste Kerl, der mir je begegnet ist. Ihn warf nichts um. Nach den Olympischen Spielen in Montreal kaufte ich mir einen Pitts-Doppeldecker, weil ich das Fliegen liebte und ständig meine Grenzen austesten wollte. Es war ein Zweisitzer, bei dem der Passagier vor dem Piloten saß. Viele meiner Freunde, die knallhart zu sein glaubten, hatten mich schon herausgefordert, und alle hatten um eine vorzeitige Landung gebettelt, weil ihnen übel geworden war. Der einzige, der nicht genug bekam, war mein Vater. Ich versuchte alles – Loopings, doppelte Loopings, Drehungen oder Absinken aus großer Höhe. Ich griff richtig in die Vollen, aber er bekam nicht genug.

      Außer am D-Day.

      Zwar wurde ihm im Landungsboot nicht übel. Aber vielen anderen, und zwar so heftig, dass die braunen Papiertüten nicht viel nützten. Als sie sich der französischen Küste näherten, sahen sie bereits Granaten am Strand explodieren. Kugeln pfiffen ihnen um die Ohren. Plötzlich waren alle still. Die wilde Kampfeslust war von der Realität ausgelöscht worden, von Tod, Feuer, Blut und Angst. Als Bill den Omaha Beach genannten Strandabschnitt erreichte, tobte um ihn herum das Chaos, und die Unterweisungen, die sie erhalten hatten, erwiesen sich als nutzlos. Es war unmöglich, eine stabile Kommunikation aufzubauen, und Bill wurde mit der Maschinenpistole, deren Handhabung er in der Ausbildung gelernt hatte, ins dichteste Kampfgetümmel geschickt. Der Soldat vor ihm wurde von einem Artilleriegeschoss getroffen, das ihm den ganzen Körper aufriss. Bill hielt eine Sekunde inne. Er wollte etwas tun. Aber im Gegensatz zu all dem, was man in Filmen sieht oder in Büchern liest, wollten die Soldaten, die in der Normandie an Land gingen, nichts anderes als das eigene Leben retten. Also rannte er zu dem Wall, der den Strand begrenzte, und kauerte sich dort am ganzen Körper zitternd zusammen. Als er sich umsah, wurde er Zeuge, wie ein Landungsboot, das Flammenwerfer transportierte, getroffen wurde und wie ein Feuerball explodierte. Er sah, wie Männer brennend über Bord sprangen und musste sich erschüttert abwenden. Er verband die blutüberströmte Hand eines Kameraden, der mehrere Finger verloren hatte. Er beobachtete, wie die befehlshabenden Offiziere vor Entsetzen durchdrehten, zu fliehen versuchten und mit Gewalt aufgehalten werden mussten. Sobald er sich zehn Minuten lang irgendwo aufgehalten hatte, suchte er sich einen neuen Unterschlupf, weil er fest daran glaubte, dass dieser Platz dann als Zufluchtsort verbraucht war und nicht mehr die Magie besaß, ihn vor dem Tod zu bewahren. Stück für Stück arbeitete er sich den Strand hinauf, vorbei an den Leichen amerikanischer Soldaten. Später, als er und andere seiner Einheit es bis zu einem kleinen französischen Dorf geschafft hatten, mussten sie dort zwei junge Französinnen töten, die mit deutschen Offizieren verheiratet waren und den Alliierten als Heckenschützen aufgelauert hatten.

      Mein Vater sprach nicht oft über seine D-Day-Erlebnisse, als ich jünger war, sondern sagte nur, dass eines allein einen Soldaten im Kampf wirklich retten kann: Glück.

      „Dies war nicht der Tag meines Todes.“

      Aber hin und wieder erzählte er dann doch die eine oder andere Geschichte.

      Einmal beschrieb er die letzten Augenblicke, bevor das Landungsboot den Strand erreichte. Der englische Bootsmann, der es lenkte, stoppte die Maschine und wollte, dass die Männer von Bord sprangen, obwohl ihnen das Wasser noch bis zum Hals reichte. Einige waren bereits ertrunken, weil das Zusammenspiel von Wellen und Strömung und fünfzig Kilo Ausrüstung auf dem Rücken eine tödliche Kombination darstellte. Dennoch wollte der Engländer das Boot nicht näher an Land bringen, bis ein amerikanischer Offizier ihm eine Pistole an den Kopf hielt und sagte, er würde ihm das Hirn wegpusten, wenn er nicht sofort weiter auf den Strand zuhielte.

      Wie mein Vater sagte, klärte das recht schnell die Situation im Sinne der Amerikaner.

      Die andere Geschichte war keine Geschichte. Es war ein kleines Schwarzweißfoto, das er geschossen hatte, nachdem seine Rangers-Einheit im April an der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald beteiligt gewesen war. Das Bild zeigte die Pritsche eines Eisenbahnwaggons, auf der die ausgemergelten und entkleideten Leichen der Opfer wie Dachziegel aufeinandergestapelt worden waren.

      Mein Vater zeigte mir das Bild, als ich noch klein war. Warum, das verstand ich nicht. Es war völlig uncharakteristisch für ihn, und ein Kind von neun oder zehn konnte ein so extremes Bild auch nicht verarbeiten. Aber letztlich half es mir, ihn zu verstehen und zu begreifen, dass seine langen Phasen des Schweigens ihre Wurzel in den Dingen hatten, die er als junger Mann mit ansehen musste und niemals vergessen konnte. Darin lag der Grund für seine emotionale Distanz – eine Eigenschaft, die ich später auch an mir wiederfand.

      Manche Leute haben mich als mutig bezeichnet, weil ich im Frühjahr 2015 mit 65 Jahren meine Transition von Bruce zu Caitlyn durchgezogen habe. Das ist sehr schmeichelhaft, und ich weiß das sehr zu schätzen. Aber verglichen mit dem, was mein Vater und so viele andere durchgemacht haben, braucht es keinen Mut, zu seinem eigentlichen Ich zu stehen. Für mich war es eher eine Art von Feigheit, dass ich so lange damit gewartet habe.

      Mein Vater war eine freundliche Seele, trotz allem, was er im Krieg erlebt hatte. Er empfand keine Bitterkeit, gegen nichts und niemanden, und auch ich bin niemand, der anderen etwas lange nachträgt. Ich habe mich oft gefragt, was er wohl von all dem halten würde, wenn er es noch miterlebt hätte. Er war so stolz auf meine sportlichen Erfolge in meiner Jugendzeit. Und als ich bei den Olympischen Spielen siegte, war er unfassbar begeistert. Er ging richtig darin auf, dass ich zum amerikanischen Helden wurde. Wie unser Gespräch wohl abgelaufen wäre? Was hätte er gesagt oder auch nicht gesagt? Wie hätte er mich angesehen? Ich wollte meinen Vater nie enttäuschen – alles, nur das nicht. Und er hätte meine Transition nie im Leben verstanden.