Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Buzz Bissinger
Издательство: Bookwire
Серия: Fernsehen
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854456377
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hat es fünfundsechzig Jahre lang gegeben, und Caitlyn feiert gerade erst ihren zweiten Geburtstag. Das ist die Realität.

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      Marriott Hotel, Orlando, Florida. Ich stehe vor Vertretern des Pharmaunternehmens Merck und halte einen Vortrag.

      Es ist schon mein sechster in Folge. Immer dieselben Worte und dieselbe Botschaft und derselbe Titel und derselbe vorgetäuschte Enthusiasmus. Diese Rede habe ich schon viele hundert Male gehalten, überall in den USA, und ich kenne den Text in- und auswendig. Es ist irgendwann in den Neunzigern, aber es könnte auch in den Achtzigern sein, oder Anfang der Zweitausender. Die ganzen Termine sind in meiner Erinnerung längst zu einem verschmolzen.

      Ich weiß, wieso die Leute hier im Publikum sitzen. Sie wollen Bruce Jenner hören, den Supersportler, der 1976 in Montreal eine Goldmedaille im Zehnkampf gewann und prompt, wie das so üblich ist, als „größter Athlet der Welt“ gefeiert wurde. Sie wollen Bruce Jenner hören, der das Olympiateam der Vereinigten Staaten im Jahr ihres zweihundertjährigen Bestehens davor bewahrt hat, von der Sowjetunion und der DDR hoffnungslos düpiert zu werden. Den Bruce Jenner, der buchstäblich über Nacht zum amerikanischen Helden wurde. Den Bruce Jenner, der als Inbegriff der Männlichkeit gilt und eine Frau nach der anderen erobert. Den Bruce Jenner, der alles kriegt, was er will. Den Bruce Jenner, dem aus dem Spiegel ein echter Supermacho entgegenblickt.

      Niemand ahnt, dass ich etwas ganz anderes sehe, wenn ich in den Spiegel gucke: einen Körper, den ich grundlegend verabscheue. Mit einem Bartschatten, der sichtbar bleibt, egal wie gründlich ich mich rasiere. Mit einem Penis, der zu nichts nutze ist, außer im Wald an einen Baum zu pinkeln. Mit einem Oberkörper, der Brüste haben sollte. Mit einem Gesicht, dessen Kinn zu eckig und dessen Stirn zu hoch ausfällt. Niemand weiß, dass es ganz anders ist, als die Leute es sich vorstellen – dass ich zum Beispiel in meinem ganzen Leben nur mit fünf Frauen geschlafen habe. Mit dreien davon war ich verheiratet.

      Sie sehen nur das Image, das ich in den letzten Jahrzehnten sorgsam aufgebaut habe und das von den Medien begeistert aufgenommen und verstärkt worden ist, denn die Story dahinter ist unwiderstehlich: der Olympionike, der aus dem Nichts kam, der Sohn eines Landschaftsgärtners, der auf ein winziges College irgendwo in der Provinz ging, seine Jugendliebe geheiratet hat und dann fast sein halbes Leben damit zubrachte, für seine Goldmedaille zu trainieren. Damit repräsentiere ich vielleicht mehr als viele anderen Sportler unserer Zeit den uramerikanischen Mythos, an den wir alle glauben: dass man mit harter Arbeit jeden Traum verwirklichen kann. Natürlich glaube auch ich an diesen Mythos, auch wenn ich selbst schon lange unglaubwürdig geworden bin.

      Das Publikum weiß genau, was es hören will: die Geschichte eines Lebens, das von diesen zwei entscheidenden Tagen im Olympiastadion von Montreal geprägt wurde, dem 29. und 30. Juli 1976, als ich den Weltrekord brach. Anschließend drehte ich noch eine Runde auf der Aschenbahn und schwenkte dabei eine kleine amerikanische Flagge, die mir ein Fan in die Hand gedrückt hatte.

      Damals war ich glücklich, unglaublich glücklich, stolz auf mein Land und auf mich selbst. Keine vierundzwanzig Stunden später war mir klar, dass damit die tagtägliche Trainingsroutine der letzten zwölf Jahre vorbei war. Das Große Ablenkungsmanöver war Geschichte. Was nun jeden Tag aufs Neue die schreckliche Frage aufwarf: Was zur Hölle sollte ich mit meinem Leben anstellen? Wie viel länger würde ich diese Fassade aufrechterhalten können? Wie viel länger würde ich mich verstecken und denen ins Gesicht lügen können, die mich immer noch bewunderten? Die ich liebte?

      Frustriert und beschämt gehe ich schlafen. Und frustriert und beschämt wache ich jeden Morgen wieder auf.

      Die Leute im Publikum wissen nicht, dass ich unter dem dunkel­blauen Business-Anzug Schlüpfer, BH und Strumpfhosen trage. Sie wissen nicht, dass ich nicht Bruce Jenner bin, sondern eine Frau, die ich später einmal Caitlyn nennen werde – eine Frau, die immer noch Bruce sein muss und nur für eine kurze Zeit, für wenige gestohlene Augenblicke sie selbst sein darf – hin und wieder einmal für zwanzig Minuten, für eine Stunde oder zwei.

      Man stelle sich einmal vor, sein Innerstes, seine Seele ständig verleugnen zu müssen. Und das ergänze man dann noch um einen Berg unerfüllbarer Erwartungen, weil man für die Menschen die perfekte Verkörperung des amerikanischen Athleten darstellt. Nein. Das kann man sich einfach nicht vorstellen.

      Es ist tatsächlich unvorstellbar. Außer für mich. Weil ich so lebe. Oder es zumindest versuche. Weil man unter solchen Umständen nicht wirklich lebt. Man versucht einfach nur, irgendwie über die Runden zu kommen, betet, dass dieser innere Konflikt sich in Luft auflöst. – Na gut, völlig verschwinden wird er wahrscheinlich nie, denn schließlich hat man ja schon alles Mögliche ausprobiert, um sich davon zu befreien. Aber man hofft darauf, dass es vielleicht eine Atempause gibt, dass dieses Problem in den Hintergrund rückt und nicht ständig jeden Gedanken bestimmt.

      Die Menschen im Publikum ahnen nicht, dass ich mich immer unbehaglich fühle, auch wenn ich so extrovertiert wirke. Ich habe ein natürliches Talent für Smalltalk, weil ich Menschen einfach mag.

      Sie wissen nur das, was in ihr Konzept passt. Und ich sage ihnen auch nichts anderes als das.

      Der Vortrag, den ich vor den Merck-Vertretern halte, trägt den Titel „Finde den Sieger in dir“. Notizen brauche ich dafür längst nicht mehr. Ich kann ihn auswendig:

      Ich kann mich von einer Niederlage erholen und mit dem Leben fortfahren, und es wird ein gutes Leben sein.

      Wir müssen uns der Angst stellen und sie in den Griff bekommen …

      Wir kennen doch alle die Situation, wenn man eine Straße hinuntergeht und an eine Gabelung kommt und weiß, man muss sich jetzt für die eine oder andere Richtung entscheiden … Irgendwie habe ich immer die richtige Entscheidung getroffen.

      Es gab einmal eine Zeit, da habe ich selbst an diese Worte geglaubt, vor allem gleich nach den Olympischen Spielen, als ich auf der großen Erfolgswelle schwamm. Aber jetzt denke ich nur immer wieder: Blödsinn. Das ist alles nichts als Blödsinn.

      Meine Damen und Herren, bitte begrüßen Sie Bruce Jenner!

      Ich spiele hier eine Rolle, so, wie schon fast mein ganzes Leben lang. Ich spiele Bruce, denn das ist es, was die Leute, die mir zuhören, von mir wollen. Das ist es, was die Gesellschaft von mir will. Ich bekomme dafür eine Menge Geld. Also halte ich die Klappe und erzähle niemandem, wer ich wirklich bin.

      Ich beende meinen Vortrag. Anschließend gibt es den üblichen Empfang, und hier mogele ich mich durch, indem ich mit den Männern über Sport rede und mit den Frauen netten Smalltalk mache, aber ich bin nicht einen Augenblick mit dem Herzen dabei. Die ganze Zeit über will ich nur nichts als raus und wieder zurück in mein Hotelzimmer. In Wahrheit ist mir „Der Vortrag“ inzwischen scheißegal. Natürlich halte ich ihn immer noch, weil ich damit mein Geld verdiene und weil er mir einen Vorwand bietet, durch die Welt zu ziehen. Nur wenn ich unterwegs bin, kann ich mich noch ein wenig ausleben; dass ich das zu Hause tue, lässt meine Ehefrau Kris nicht zu. Das war bei meinen beiden Exfrauen, Chrystie und Linda, genauso. Kris will es nicht sehen, und sie will sich nicht damit auseinandersetzen, deswegen reden wir nie darüber. Wieso sollte sie auch? Verliebt hat sie sich in Bruce Jenner, nicht in ein billiges Porzellanpuppenimitat. Wie sie alle.

      Ich war ihnen gegenüber auch nicht ganz ehrlich. Dazu habe ich mich viel zu sehr geschämt. Und hatte zu viel Angst. Aber es war mehr als das. Genau wie meine Exfrauen konnte ich selbst es ja auch nicht fassen. Bruce Jenner? Eine Frau?

      Jetzt mal ehrlich. Gibt es einen Menschen auf der Welt, bei dem das noch unwahrscheinlicher wäre? Ich meine: Bruce Jenner?

      Wieder zurück im Marriott hänge ich das „Bitte nicht stören“-Schild an die Tür meiner Suite und schließe ab. Beim Room Service bestelle ich ein Thunfisch-Sandwich und eine Cola Light, sage dem Zimmerkellner aber, er soll das Tablett draußen auf dem Flur abstellen. Dann schalte ich den Fernseher an und suche mir eine Sportsendung, die mich interessiert, also Autorennen oder Golfen. In der Suite gibt es mehrere Spiegel, was mir sehr entgegenkommt. Im Bad ist zudem ein Schminkspiegel