Mein großes Geheimnis. Buzz Bissinger. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Buzz Bissinger
Издательство: Bookwire
Серия: Fernsehen
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783854456377
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erstes Auto ein zum Leichenwagen umgebauter Cadillac Baujahr 1954 war (kein Witz) und bis zu 24 meiner High-School-Kumpels auf die für den Sarg vorgesehene Ladefläche passten (auch kein Witz). Aber ich wollte nicht, dass andere wussten, wer ich war, worüber ich nachdachte und womit ich mich herumschlagen musste. Vorsichtshalber gab ich mich ein bisschen tollpatschig, weil mich das noch weiter aus der Schusslinie brachte. Der Jenner tickte halt ein bisschen komisch.

      Dabei war es nicht so, dass ich nichts empfinden konnte, ich hatte nur Angst davor. Gefühle brachten mich immer nur durcheinander, sonst nichts. Ich stand gerne ein wenig abseits, weil mir das so gefiel. Es war sicherer, leichter, besser. Und ich war eben ein Einzelgänger.

      Der Sportbereich, der meinen Fähigkeiten am meisten entgegenkam, war die Leichtathletik. Vor allem der Stabhochsprung. Damit fing ich als Freshman in der High School an. Die Freiheit und das wie eine Spirale ansteigende Gefühl, mit sich selbst allein zu sein, sprachen mich an. Es war unvergleichlich, mit dem langen Stab in der Hand eine schmale Bahn hinunterzulaufen, die Spitze in den Einstichkasten zu stoßen und in einer langsamen Kurve emporzusteigen, um über die Latte zu federn. Körper und Geist waren beide gefordert, und der innere Aufruhr ließ dabei etwas nach. Mein Vater legte im Garten eine Sandgrube an, damit ich trainieren konnte. Noch zu High-School-Zeiten wurde ich Bester bei den Meisterschaften von Connecticut und zweimal herausragender Sportler meines Leichtathletik-Teams.

      Ich trieb allerdings nicht nur an der Schule Sport. Mein Vater war immer auf der Suche nach Aktivitäten, an denen sich die ganze Familie am Wochenende beteiligen konnte. Nachdem er sich für Wasserski entschieden hatte, kaufte er ein Boot. Damit ging es hinaus auf den Candlewood Lake in Connecticut. Ich hatte Angst, oder vielmehr, ich fürchtete mich vor einer neuerlichen Blamage, die meine Unsicherheit nur noch weiter vertiefen würde. Als Kind war ich oft genug bloßgestellt worden. Mein Vater kannte mich besser und bewunderte meine sportlichen Fähigkeiten viel mehr, als ich selbst es tat; meiner Meinung nach war ich nichts Besonderes. Nur ein verwirrtes Kind, das sich irgendwie durchzumogeln versuchte. Von meiner Legasthenie wusste mein Vater, aber er hatte keine Ahnung von meiner Faszination für den Kleiderschrank meiner Mutter, die mein Selbstbild zusätzlich beeinträchtigte. Und davon sollte er auch nie erfahren. Niemals. Das hätte ich ihm nie erzählt. Und es durfte nicht passieren, dass er mich erwischte. Niemals. Denn das war ja nur so ein komischer Tick, den ich damals gerade hatte. Irgendwann würde das schon wieder vergehen, warum sollte ich es also jemandem erzählen.

      Bei den Touren auf dem Candlewood Lake hatte er besonderen Spaß mit der so genannten „Peitschen-Technik“. Indem er einen weiten Kreis zog, wurden die Skier durch die Radialkraft immer schneller und schneller. Als er das zum ersten Mal tat, war ich erst zehn oder elf, und ich schrie, er solle aufhören. Er machte aber weiter, sodass ich noch mehr schrie. Meine Schwester Pam hatte dagegen den Bogen schnell raus, und das machte die Sache für mich nur noch schlimmer. Bis es dann plötzlich Klick machte und ich wusste, wie es ging. Dann aber wollte Vater, dass ich einen Ski ablege, um nur noch auf einem übers Wasser zu gleiten, und damit ging das Ganze von vorn los. Ich wollte das nicht. Ich konnte das nicht. Ich hatte mich gerade erst an zwei Skier gewöhnt und flehte ihn an:

      Bitte, Dad, zwing mich nicht, das zu versuchen. Ich ertrage es nicht, wenn ich versage. Das habe ich schon viel zu oft erleben müssen. Ich bin sowieso schon komisch. Das merke ich doch jeden Tag. Bitte Dad, mach es nicht noch schlimmer.

      Er gab jedoch nicht nach.

      „Nimm den verdammten Ski ab.“

      „Na gut, ich mach’s, aber hör auf, das zu sagen.“

      „Nimm den verdammten Ski ab.“

      „Ist ja gut, ich habe ja gesagt, dass ich es tue.“

      „Nimm einfach den verdammten Ski ab.“

      Ich probierte es aus. Ich tat es.

      Anschließend schwebte ich auf Wolke sieben. Als Jugendlicher gewann ich später dreimal die Wasserski-Meisterschaft der Oststaaten. Diese Siege waren an sich ein großartiges Gefühl, aber beim Wasserski lernte ich dank meinem Vater noch etwas viel Wichtigeres – eine Demut, die mich durch mein restliches Leben führen sollte. Sein Credo war ganz einfach: Taten sprechen für sich, mehr als Worte.

      Lass sie alle zeigen, was sie können, und dann machst du es, ohne vorher ein Wort zu sagen. Erzähle ihnen nicht einmal, dass du Wasserskilaufen kannst. Das werden sie schon merken, wenn du es getan hast.

      Aber natürlich ging es auf der High School nicht nur um Sport. Zensuren spielten auch eine Rolle, aber mir reichte es, im unteren Durchschnitt zu bleiben, gerade gut genug zu sein, damit ich weiterhin für die Sportmannschaften ausgewählt werden konnte. Und ansonsten dachte man auf der High School natürlich an erste Treffen mit Mädchen und an Sex, was beides Hand in Hand ging, wenn man eine große Nummer auf dem Campus war.

      Ich war einer der Stars im Football-Team, dem beliebtesten Sport an der High School. Natürlich ging man da mit Mädchen aus. Aber gleichzeitig war ich schüchtern und verklemmt, weswegen ich nur eine Handvoll Verabredungen hatte, aus denen nichts weiter wurde. Von Sex redeten die Jungs ständig, also hatte ich das Gefühl, dass auch ich etwas tun musste. Das Problem war allerdings, dass ich Frauen eher auf einen Sockel stellte und sie bewunderte und beneidete, sodass ich nicht unbedingt der typische, aggressive Muskelprotz war. Zudem lag ich beim Sex eigentlich lieber unten als oben – in einer amerikanischen Vorstadt damals eine völlig ketzerische Vorstellung. Also übernahm ich notgedrungen die scheinbar aktivere Position oben, wie es sich gehörte, und tat mein Bestes.

      In der Oberstufe der Newtown High School in Sandy Hook, Connecticut, wohin wir inzwischen umgezogen waren, schlief ich zum ersten Mal mit einem Mädchen. Das Ganze fand auf dem Rücksitz eines schwarzen Ford Falcon Kombi statt, der meiner Mutter gehörte. Ich war ein totaler Romantiker. Das Einzige, woran ich mich heute noch ganz deutlich erinnere, war, dass sie viel besser Bescheid wusste als ich. Sie gefiel mir wirklich sehr, aber meine Hauptmotivation war Neugier. Und vielleicht fühlte ich mich auch ein bisschen unter Zugzwang und war bemüht, den äußeren Schein aufrecht zu erhalten. In der High School wusste halt jeder, wer mit wem schlief, und da war dies doch sehr förderlich für meine Tarnung.

      Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Sportlern, die ich nach der High School noch kennenlernen sollte, führte ich über meine Eroberungen nicht Buch. Es wäre auch eine ziemlich kurze Liste gewesen.

      Mein Bedürfnis nach Sex war einfach nicht sehr groß. Deswegen regt es mich auch so auf, wenn heutzutage dauernd über mein Sexleben spekuliert wird. Da spielt auch wieder diese uralte, falsche Annahme mit hinein, der Grund für eine Transition läge vor allem in der sexuellen Orientierung. Dauernd geht es um die Frage, was passiert, wenn ein Mann zur Frau wird und immer noch Sex mit Frauen hat, ob sie dann eine Lesbe ist oder nicht. Wen interessiert das? Warum muss auf alles immer gleich irgendein Etikett geklebt werden?

      Meine Vorlieben haben sich nach meiner Transition nicht verändert. Warum sollten sie auch? Ich habe immer gern mit Frauen geschlafen, ohne viel darüber nachzudenken. Auf der Rangliste von Dingen, die in meinem Leben wichtig sind, hat Sex keinen großen Stellenwert, und das ist schon seit langer Zeit so. Ob ich in Zukunft gern eine Partnerin hätte? Ja, durchaus. Eine Partnerin, mit der ich dann auch schlafe? Im Augenblick gibt es sie nicht, und ich weiß auch nicht, ob sich das je ändern wird.

      Und wie wäre es mit einem Partner, einem Mann? Bisher habe ich kein Verlangen danach gespürt. Aber vielleicht ändert sich auch das mit der abschließenden, geschlechtsangleichenden Operation. Vielleicht werde ich mich anders fühlen, wenn die letzten körperlichen Anhängsel meiner Männlichkeit, oder vielmehr meiner medizinisch definierten Männlichkeit, verschwunden sind. Manche meinen, dass es für eine Transfrau keinen Grund gäbe, eine solche OP durchführen zu lassen, wenn sie nicht beabsichtigt, Sex mit Männern zu haben. Ich möchte sie aber aus einem anderen Grund machen lassen – um mich so authentisch wie möglich zu fühlen.

      Auf der High School ließ ich mich weitgehend treiben. Selbst im Sport hatte ich keinen brennenden Ehrgeiz, da sich noch nicht herauskristallisiert hatte, wie ich meine Vielseitigkeit am besten zum Einsatz bringen konnte. Im Stabhochsprung war ich gut, aber ich trat noch nicht in nationalen Wettkämpfen an. Und der Zehnkampf, der Decathlon? Das