Zinnobertod. Reinhard Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhard Lehmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Ужасы и Мистика
Год издания: 0
isbn: 9783969010174
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um die Geschichte des steinernen Hufabdrucks auf dem Aussichtspunkt mit Leben zu erfüllen. Pointenreich erzählt, entwickelte sich das Geschehen um das Granitmassiv zum Renner der geführten Touren. In Gedanken versunken hörte er den Hund aus der Sage um Ritter Bodo und Brunhilde tief aus dem Schlund des Bodekessels heulen. Jener Kultplatz zählt heute in der Öffentlichkeit zu den heiligen Stätten der Vorfahren. Sie baut auf einer facettenreichen, visionären Geschichte auf. Angst beschlich ihn. Übelkeit setzte ihm zu. Nein, er war keiner von den vier Jünglingen, die beim Versuch, die Krone aus der Bode zu retten, starben. Tot sein heißt Leben in einer anderen Dimension. Seine Stimme brummte in der Euphorie der Erwartung.

      »Ja, lehne dich weit hinaus. Beweg deinen Arsch. Was sind denn 86 Lebensjahre.« Tonlos, weil in der alten Kehle festgehakt, verhallte die Zahl. Die Unfähigkeit, sie lauthals hinauszuschreien, verschwand in der Akzeptanz der Unsichtbarkeit. Zu einem war sie fähig, sie trieb die müden Knochen an.

      »Gib nicht nach, das Paradies zeigt sich alleinig dem wahren Gläubigen.« Die scharlachrote Büchse in der Hand, den himmlischen Genuss verinnerlichend, schritt er das kurze Stück Weg bis zum Hotelkomplex der Rosstrappe zurück.

      »Erich, siehst müde aus. Komm für einen Moment rein«, überhörte er das Angebot eines Angestellten vor dem Restaurant. Ebenso verlor sich: »Na okay, an einem anderen Tag passt es besser. Wünsche dir einen geruhsamen Nachhauseweg. Pass auf, heute sind wieder die Downhiller unterwegs.«

      »Danke, ich werd`s mir merken. Da besteht keine Gefahr«, antwortete er halblaut, wobei der Rufer unbefriedigt den Kopf schüttelte. Der Wanderer zog unbeirrt weiter. Er verzog schmunzelnd die Mundwinkel, denn dem modernen Bergabfahrsport jugendlicher Enthusiasten an der Rosstrappe gewann er Positives ab. Seine Harzstadt brauchte das Image. Die Mountainbiker rasten die Strecke unter fünf Minuten hinab ins Tal. Für ihn hatte heute die tickende Uhr null Bedeutung.

      »Ich gönne mir einen Moment Auszeit«, sagte er kleinlaut vor sich hin. Kein Wanderer erhielt davon Notiz, dass er sich am Wegrand gegen einen Baumstamm lehnte. Er liebäugelte damit, Teile des Radweges der Sportler zu benutzen. Die zählten zu den couragierten Mountainbikern, die im Harz eine neue touristische Attraktion ins Leben riefen. Bei allem Verständnis, die Müdigkeit in den Knochen siegte. Ein Schluck Kräutertee aus der Thermoskanne, eine Handvoll Kekse aus der roten Blechbüchse. In Sekunden senkten sich die Augenlider. Nachdem er drei Stunden dahindämmerte, traf ihn die Ernüchterung. Dunkelheit hatte sich ausgebreitet. Die Blätter in den Baumkronen der Laubbäume verschluckten jedes Fünkchen Licht vom glasklaren Abendhimmel.

      »Verdammt, hab verpennt.« Er fasste es nicht, mitten in der Nacht im Wald zu sein. Nach einer Lösung suchend schaute er sich um. »Okay, ich bin am Leben und frei in meiner Entscheidung!«, sagte er vernehmbar in dem Bewusstsein, dass ihn kein Mensch hörte. »Wanderweg oder die Straße hinunter in die Stadt«, fiel wie ein Schatten über seine Miene. Sein Ausdruck verfinsterte sich augenblicklich. Die Asphaltschlange bedeutete ein Vielfaches vom Weg durch den Wald. Der Vorteil: Sie bot ein bequemeres und sicheres Geleit.

      Auf halber Wegstrecke registrierte er den grellen Lichtschein eines Fahrzeuges, das sich flott näherte. Leider bergauf. Schade. Das hieß, den Trip fortzusetzen.

      Er hob den Arm, um die Augen zu schützen. Dass der Fahrer das Kennzeichen abgedeckt hatte, sah er nicht. Es entging ihm, dass derjenige eine Sturmhaube mit Sehschlitz trug, wie sie Gangster benutzten. Dagegen blieb die Identität des abendlichen Wanderers kein Geheimnis. Ihr kam die Rolle zuteil, schicksalsbesiegelnd zu sein. Dem routinierten Profi, der sich hinter dem grellen Lichtstrahl verbarg, perlte der Schweiß auf der Stirn. Nicht, weil die Angst ihn jagte. Nein, wegen des zu erwartenden Aufpralls auf menschliches Fleisch. Das vorauseilende Geräusch brechender Knochen trieb die Erregung auf den Höhepunkt. Das Gaspedal im Fahrzeug berührte den Boden. Millisekunden lang regte das vegetative Nervensystem an, die Kontraktion der Haarbalgmuskeln anzukurbeln. Die Follikel erhoben sich über der Hautoberfläche und das Haar richtet sich auf. Der sogenannte Gänsehauteffekt setzte ein. Der Tod des Menschen vor ihm war beschlossene Sache. Grelles, weißliches Fernlicht fokussierte die unscheinbare Figur.

      »Leck mich am Arsch, alter Knabe«, brummte er verdrossen. Die zweihundert PS brachten den Ford Ranger DoKa Limited auf einhundert Stundenkilometer.

      »Halte drauf, ramme ihn«, schrie eine quirlige Stimme in seinem Kopf. »Erlöse ihn! Los!« Zeit für Überlegungen verblieb nicht. Millisekunden später gewann das schwere Gefährt den Kampf für sich. Das breit bereifte rechte Vorderrad übernahm den Job des Mordwerkzeugs. Der Aufprall, das Knacken des Schädels, verlor sich im Getöse des Motors und dem Geräusch des abrupten Bremsvorgangs.

      Die Gestalt mit dem vermummten Kopf parkte den Pick-up in der Todeszone. Die Scheinwerfer erzeugten um ihn herum gespenstische Schatten. Er bemerkte sie nicht. Grinsend, herablassend zeigte er dem Toten nach getaner Arbeit sein Antlitz.

      »Mein Versprechen ist eingelöst. Niemand bringt dich zurück. Nimm das hier mit auf den Weg in die Ewigkeit. Wilhelm lässt herzlichst grüßen. Deine letzte Begegnung mit den Wäldern im Harz. Genieße sie«, sagte er mit brutalem Sarkasmus in der Stimme. Zugleich drehte er das Gesicht der am Boden klebenden Hirnmasse zu, um sie sorgsam aufzuklauben. Der verschließbare Behälter mit der eingesammelten Todesfracht landete achtlos auf der Ladefläche. Gleiches geschah mit dem besudelten Laub, Gras und Erdmaterial. Die benutzte Schaufel schlug er aufs Genaueste in einer Plastetüte ein. Alles Tätigkeiten, die ihm geläufig waren. Jeden Zentimeter entkernte Fläche versetzte er mit einer 10%igen Lösung aus Wasser, Wasserstoffperoxid und einem Industriereiniger. Desinfektion funktionierte nie besser. Der Todesfahrer lächelte bei diesem Gedanken. Spuren würde hier niemand finden. Das scharlachrote Metall der Keksbüchse übersah er ungewollt.

      »Es ist Zeit. Mach dich auf die Reise, Alter. Dein Sohn lässt ebenfalls grüßen.« Er starrte den toten Körper im Lichtschein der zusätzlich benutzten Taschenlampe an. »Ich bin gekommen, um auf das zerstörte Fleisch zu spucken. Dir widme ich meinen ganzen Hass. Du bist ein Verräter unseres Glaubens. Daher schuldest du mir diesen Kopf hier. Freue dich drauf. Du bestreitest die Macht der Gemeinschaft nicht mehr. Vergiss nicht, die Kameraden sind zahlreich! Ich bin ihr Glaubenswächter und Rächer. Deine Seele gehört mir.«

      Aus einem Etui mit Reißverschluss entnahm er ein Skalpell, wie es Mediziner verwenden. Das Scheinwerferlicht reflektierte den Glanz der hochwertigen Edelstahlklinge in den Pupillen. Was übrig blieb, war ein Blitz darin, der von einem Sieg kündete. Der setzte sich in einer geübten Handbewegung fort. Die scharfe Klinge drang unterhalb des Kieferrandes am Kopf in den Hals ein. Wie Butter zerteilte sie die Haut, Knorpel, Muskeln, Sehnen, Arterien und Venen. Die Hand führte das Instrument kraftvoll. Der kompetent auf Zug und Druck abgestimmte Bewegungsablauf zerstörte mühelos den ersten Halswirbel, dessen medizinischer Begriff – Atlas – ihm vertraut war. Seine Aufgabe, das gesamte Gewicht des Kopfes zu tragen, fand damit ein Ende.

      »Ab in den Sack, Alter«, sagte er zufrieden, um ihn sofort in einen undurchsichtigen Folienbeutel zu schieben. Zum Schluss verbog er die sterblichen Überreste, indem er solange an ihnen zerrte, bis alles hineinpasste. Die Aufregung war vorbei. Atem und Puls beruhigten sich. Die Dunkelheit verschluckte das Verbrechen. Sie war Teil der sich schleichend ausweitenden Routine im Job des selbständigen Bestatters. Vorsichtshalber kontrollierte er die Verschnürung der Fracht auf dem Pick-up.

      »He, hast es bequem?«, nickte er dem Paket zu. »Wir beide fahren in ein Versteck, wo niemand auf die Idee kommt, uns zu suchen. Mit deinem Antlitz habe ich zur Freude der Anhänger Besseres im Sinn.«

      Nach ein paar Kilometern wendete das Fahrzeug auf Höhe des Abzweigs zur Rosstrappe. Seine Anwesenheit blieb unbemerkt.

      Den nervigen Klingelton des Smartphones gewahrte der Gast im Berghotel auf dem Hexentanzplatz wie im Rausch. Minuten vergingen, ehe er begriff: »Für mich. Scheiße, Augen auf. Oh verdammt, wie spät ist es?« Den Oberkörper abrupt senkrecht aufgerichtet, saß er im Bett. »Ah, eine WhatsApp.« Die Nachricht ließ seine Alarmglocken schrillen.

      »Ich