Zinnobertod. Reinhard Lehmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Reinhard Lehmann
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Ужасы и Мистика
Год издания: 0
isbn: 9783969010174
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zuckte die Achseln. »War nicht unproblematisch, dir gegenüberzutreten.«

      »Warum? Du verbreitest Angst. Sind die Kekse vergiftet?« Er wandte sich ihr zu, um daraufhin eine Antwort zu formulieren. »Nein, das bringst du niemals fertig. Wir standen uns in der Ehe einst nahe. Ich liebte dich auf meine Art. Erna, das Glück war uns hold. Mir hat es geholfen, die Freude am Leben zu fördern.«

      »Tja, Erich, obschon du seit langer Zeit enge Freundschaften zu den Ungläubigen pflegst, liebäugelst du mit deren schamloser Lust. Auf deiner Wanderschaft bekehrst du sie nicht zu unserer Konfession. Du sonnst dich in ihrem Schmalz. Gefällst dir in der Rolle des Mythenführers im Harzvorland. Ha, ha, ha, da lässt sich nicht drüber lachen. Du bleibst eine Galionsfigur, die weltliche Werte verbreitet.«

      »Das klingt gehässig. Gibt es ein Problem damit?«

      »Ja! Beweise, dass du dem Leben in der Gemeinschaft ebenso im hohen Alter gebührende Selbstachtung abringst. Wenn du vor Harmagedon stirbst, bekommst du eine zweite Chance, um dich für oder gegen Gott zu entscheiden. Ich spreche im Ältestenrat für dich.«

      »Erna, ich hoffe, dein Keksvorrat ist ausreichend. Bitte lass es mich in dieser Form sagen. Verzicht auf den himmlischen Genuss, nein, das zuzulassen ist eine fatale Sünde für die ohnehin arg strapazierten Geschmacksnerven. Die Leidensbilanz seit der räumlichen Trennung von dir ist erdrückend genug. Ich vermisse die überlegene Kochkunst meiner ehemaligen Gemahlin. Ich potenziere das Lob, welches bis auf den heutigen Tag die täglichen Weissagungen für ein beschaulicheres Leben einschließt.«

      »Erich, vierzig Jahre lang berührte dich das kaum.«

      »Das sagt sich mühelos dahin. Am Ende des Tages zerbrach alles an der Vergangenheit. Ungeachtet dessen hegst du den Wunsch, mich zu bekehren?«

      »Richtig! Du gabst mir lange Beistand, warst wie ein Anker. Trotz alledem gelang es mir nicht, ausreichend Seelenfrieden für dich zu erbitten.«

      »Nein, unbestreitbar nicht. Verstehe! Zumindest ist dir meine Lage vertraut.«

      »Das ist im Nullkommanichts gesagt. Da verkommt alles zur Ausrede! Die Wahrheit lautet anders. Du leugnest die Geschichte, denn die brachte Tränen in die Augen. Sie erzählt das schmerzliche Geschehen über den Tod unseres Sohnes, den meines Bruders in den Nachkriegswirren. Wir liebten sie. Sie starben für den Gottesglauben.«

      »Das lässt sich für mich mühelos nachvollziehen. Ich bin mir sicher, der abgrundtiefe Hass in dir zerstört dich eines Tages.«

      »Hör auf, Erich, ich beschwöre deine Seele. Das ist eine nicht haltbare Vision. Fakt ist, sie erfuhren einen Wandel.«

      »Lass das. Ist doch purer Blödsinn!«

      »Hör auf, du verträgst die Wahrheit nicht. Ihr Tod schmerzt heute wie in jenen ausweglosen Stunden. Sie sind nicht umsonst gestorben, weil wir dadurch lernten, die Bibel noch tiefgehender zu lesen und zu erfahren. Die Gebote zu befolgen, ist eine der Lehren daraus.«

      »Schluss damit, Erich. Ich habe genug davon. Es ist unerträglich, wie die ehemalige Hand Gottes ständig Lügen fabriziert.«

      »Und du schaffst einen Mythos, indem du seine Gebote mit einer Vielzahl von Verboten belegst.«

      »Ach ja? Was stimmt nicht mit deiner Seele, die vor Hurerei strotzt? Untreue in der Ehe erfordert konsequente Ahndung. Von dem Recht hast du reichlich abgebissen.«

      »Schweig! Erna, ich verzeihe dir nie, dass du mir Fehlverhalten wegen des Kontaktes zu Ungläubigen vorwirfst. Grund genug für dich, um die Beständigkeit unserer Beziehung zu leugnen. Ergo, lass das Aufplustern. Dieses verdammte Orakeln hat mich zur geistigen Gefahr verschrien. Ich versuche, meiner Heimat ein geachteter Wanderführer zu sein. Was ist daran verkehrt? Wieso verstößt du einen alten Gefährten aus der Gruppe?«

      »Oh, klingt nach schwerem Vorwurf. Mich mit Worten zu berauschen, gelingt dir nicht. Das zählt nicht. Sag mir Bescheid, sobald mein Versprechen deine Seele mit Ernsthaftigkeit erreicht und dir Schutz bietet. Erich, das gilt bis in die Ewigkeit. Eines akzeptiere. Der Eintritt in das Paradies kostet dich ein erneutes Bekenntnis. Überwinde den Schmerz. Ich kümmere mich um dein Seelenheil, egal, ob ich dafür Unmengen Plätzchen backe. Rette unsere Familie. Tritt vor die Versammlung. Den Brüdern und Schwestern fehlt eine orientierende Stimme. Meine Kraft reicht nicht aus, um die Botschaft Gottes nachhaltig zu verbreiten.«

      »Nein, na sowas. Das ist ein verblüffend neuer Zug. Da erschließt sich mir leider eine andere Auffassung.«

      »Ach? Erklär´s mir, Erich.«

      »Erna, es dreht sich hier nicht um irgendeine Rettung des Seelenheils. Wenn wir uns nicht in der ganzen Komplexität des realen Lebens in der existierenden Welt verantwortlich einbringen, entfremdet sie sich uns. Nein, diese Stimmungslage frisst alles Bewährte auf. Sieh dir die Alten in den Gruppen an. Sie sind wie Wölfe in Schafskleidern. Ihre Heuchelei mit einem Riesenhass auf mich sind allgegenwärtig. Warum verbreiten sie, dass ich es für angebracht heiße, die Religion der Gemeinschaft zu verleugnen. Es gibt Mitglieder, die frönen in übertriebener Selbsteinschätzung offen den weltlichen Freuden. Dein Neffe Wilhelm zum Beispiel ist ein Trinker. Ist dir bekannt, dass er öfters Sex außerhalb der Ehe praktiziert? Wieso ehelicht er nicht eine Schönheit aus der Mitte der Gläubiger? Die Gelegenheit hierfür ist allgegenwärtig. Stattdessen raucht er Unmengen an Zigaretten, trinkt, kifft und beflügelt andere, es ihm gleich zu tun.«

      »Stopp! Jammere nicht. Schlage den Maulaufreißern, den Müßiggängern vor, mehr zu beten. Lass sie die Bibel studieren. Bringe sie auf unseren Pfad Gottes zurück.«

      »Erna, du verwirrst mich. Ich entspreche bedingt deinem Wunsch. Mein Rat ist, hinaus zu gehen, um die Unordnung dem Schöpfer im Gebet darzulegen. Wenn er aufrichtig ist, findet Wilhelm jemand, der ihm vertraut. Du dagegen hast dich vor langer Zeit von mir abgewandt. Eines habe ich mir bewahrt, Gott der Allmächtige gibt mir Freiheit.«

      »Erich, ich fasse es nicht. Dieses Verhalten war es, welches dich von der Gemeinschaft entfremdete. Okay, bleib dabei. Zurückziehen ist eine der Lösungen. Erwarte nicht, dass sich in nächster Zeit jemand um deine Seele bemüht.« Beschwörend hob sie eine Hand, um damit enthemmt in der Luft herumzufuchteln. Erstaunlicherweise entwertete sie den erzeugten Druck. »Versteh, du gehörtest trotz des Verstoßes gegen das Gebot der außerehelichen Fleischeslust zu den aufrichtigen Ehemännern. Es ist mein sehnlichster Wunsch, dass du erneut zum angesehenen Mitglied der Gemeinde aufsteigst. Begreife, Ungehorsam erfordert Bestrafung. Es ist alles gesagt. Trinke den Tee. Wende dich mir zu. Ansonsten erwarte nicht, dass du in nächster Zeit wieder die Gelegenheit hast, dem Familientribunal Antworten zu erläutern.«

      »Ich kapiere das nicht«, brummte er im Weggehen von der langen Rede betäubt vor sich hin. In aller Regel gab es keinen Rückwärtsgang.

      »Nimm die Büchse mit den Glückskeksen, gönne der Zunge die Freude«, murmelte sie, sodass er den Rest nicht hörte. Ihr wohlmeinender Gesichtsausdruck erstarrte dabei zu einer Maske. »Sie bringen dich mir zurück, in eine andere, heile Welt. Geh, bevor mich dein Verlust schmerzt«, verlor sich im Raum. Die Tränen verbarg sie. »Verdammt, die Jahrzehnte im Dienst am Herrn, unserem Gott, verschwende ich nicht sinnlos.«

      Das Gespräch lag eine Weile in der Vergangenheit verborgen. Die Sonne auf dem Aussichtsplateau der Rosstrappe zeigte in der Ferne das Ende des Tages an. »Einen Schluck Tee aus der Thermoskanne, ein paar Kekse gönn ich mir. Ein Nickerchen auf dem Granit vor dem untergehenden gelbroten Licht am Horizont schadet nicht.« Die letzten verblassenden Gedanken in der freien Natur. Sein Blick schweifte von dem 403 Meter hohen Granitfelsen über die um Haaresbreite senkrecht abfallenden, schroffen Berghänge. Kaum sichtbar drücken sie da unten im Tal die Bode in ein enges Flussbett. Undeutlich erkennbar blieben ebenfalls die 18 Spitzkehren des Wanderwegs Schurre zwischen den Baumwipfeln. Ein lohnendes Streitobjekt, weil Felsabstürze durch die jahrelange Sperrung des Weges sich zum Objekt des Zornes erhoben. Grund genug, morgen den Menschen anderweitig