Auf der anderen Seite steht eine ganze Reihe von Untersuchungen und Veröffentlichungen zu einem veränderten Schulbau. In den Veröffentlichungen von Prof. Schönig Gestalten des Schulraums (2013) und Inklusion sucht Raum (2015) geht es um flexible Lernumgebungen und offene Räume an der Schule von heute und morgen. Die Montagsstiftung beschäftigt sich seit Jahren mit veränderten Raumkonzepten an Schulen, die Stadt München hat das Lernhauskonzept als Vorgabe für alle Schulhausneubauten festgelegt, die Firma LernLandSchaft ist inzwischen europaweit unterwegs und begleitet Schulbauten ab der Planungsphase Null.
Und dann wird vor wenigen Jahren in einer mittelfränkischen Kleinstadt ganz stolz ein 23 Millionen teurer Mittelschulbau eingeweiht, an dem all diese Entwicklungen spurlos vorbeigegangen sind.
Warum die schulische Bau- und Raumrealität oft noch so ganz anders aussieht, hat sicher auch damit zu tun, dass Schulleitungen und Kollegien zu wenig bereit sind, Unterricht und Schule neu zu denken, und als Folge davon, Veränderungen an Schulen umzusetzen. Spätestens alle zwei Jahre machen unsere Smartphones einen deutlichen technischen Sprung nach vorne. Das wird von den Verbrauchern erwartet und ist normal. Dass sich Schulräume zwischen 1960 und 2020 kaum verändert haben, das irritiert nur wenige.
Dass dem so ist, hat wiederum mehrere Gründe: Die eigene Schulerfahrung gehört sicher dazu, aber auch ein Lehramtsstudium an den Universitäten, das traditionellen Denkmustern folgt und Innovationen weder anregt noch vor Ort erleben lässt. (So verfügt die Universität Eichstätt derzeit nur noch über einen Seminarraum mit flexibler Möblierung. Dass die fachgerecht verwendet wird, habe ich bei meinen regelmäßigen Besuchen dort aber noch nie gesehen.) Das sich anschließende Referendariat erfolgt – mangels genügend innovativer Schulhauskonzepte – zwangsläufig in klassischen, traditionellen Klassenzimmern.
An der Grund- und Mittelschule Thalmässing, an der ich 21 Jahre in der Schulleitung aktiv war, war Schulentwicklung immer auch Unterrichts- und damit auch (Lern-) Raumentwicklung.
„Stärken stärken durch eigenaktives, gemeinsames Lernen“ - unter diesem Motto machten wir uns recht frühzeitig auf den Weg. Im Laufe der Jahre ist eine enge und wertvolle Zusammenarbeit mit der Universität Eichstätt, besonders mit dem Lehrstuhl von Prof. Schönig, entstanden. Er hat unsere Schulentwicklung über all die Jahre verfolgt und begleitet. Wir als Schule waren offen für Studierende und Seminare. Wie Lernen gut gelingt, wie Lernumgebungen aussehen müssen, um dieses Gelingen zu unterstützen, all das ist hinreichend erforscht und bekannt. Hier gibt es kein Wissens-, aber ein erhebliches Umsetzungsdefizit.
Wir in Thalmässing haben unsere Ausgangspunkte klar formuliert:
Lernen braucht Gelingensfaktoren
Lernen geschieht allein, zu zweit oder in der Gruppe
Lernen gelingt dann gut, wenn die Schülerinnen und Schüler die für sie passende Lernumgebung vorfinden
Lernen hat kognitive und soziale Aspekte
Lernen braucht Raum
Davon ausgehend gestalteten wir zunächst alle Klassenzimmer von Klasse 1 bis 9 zu flexiblen Lernumgebungen mit leicht fahrbaren Dreieckstischen und verschiebbaren Tafelelementen um. Pro Schülergruppe steht jeweils eines dieser Tafelelemente zur Verfügung. In einer weiteren Phase bauten wir unsere bisherigen Gänge zu offiziellen Lernräumen um. Lernen ist somit im gesamten Haus möglich. Ein 40 Jahre altes (Flur-) Schulhaus wird dank des Großraumbürokonzeptes mit dazugehörigem Brandschutzkonzept zur offenen Lernlandschaft. Ist dieser Aufwand nötig, bringt das alles was? Solche Fragen wurden mir als Schulleiter immer wieder gestellt.
Wir als Erwachsene suchen uns für die jeweilige Arbeit möglichst den passenden Arbeitsplatz: Ein Buch oder die Tageszeitung lesen, einen Brief schreiben, ein Formular ausfüllen, die Unterlagen für die Steuererklärung zusammenstellen, all das geschieht an verschiedenen Plätzen.
Unseren Schülerinnen und Schülern gestehen wir diese individuelle, an die Anforderungen der jeweiligen Arbeit angepasste Wahl nicht zu. Wir setzen sie um 8:00 Uhr in einem oftmals zu kleinen Klassenzimmer an einen der festen Zweiertische, oft neben eine zufällige Partnerin bzw. einen Partner. Wir erwarten, dass die Schülerin bzw. der Schüler dort hoch konzentriert und möglichst durchgängig motiviert bis 13:00 Uhr all die verschiedenen Arbeiten erledigt, die wir ihr/ihm aufgeben.
Das macht die überwiegende Mehrzahl der Lehrkräfte an allen Schularten jeden Tag, ein Dienstleben lang. Und nur wenige denken darüber nach, wundern sich darüber und stellen das traditionelle, gewohnte – deswegen aber ja nicht zwangsläufig sinnvolle – System in Frage.
Offene Lernumgebungen verändern das Klima an der Schule
Flexible Lernumgebungen, die Öffnung der Klassenzimmer, die Nutzung des gesamten Schulhauses als Lernraum sind die Grundvoraussetzungen, damit sich Schule und Unterricht in wesentlichen Bereichen verändern. „An dieser Schule herrscht ein ganz besonders Klima; das spürt man gleich, wenn man hereinkommt.“ So hörte man in den vergangenen Jahren in Thalmässing oft von den zahlreichen Gästen an der Schule.
Verändern offene Lernräume, verändert eine Öffnung von Unterricht das Klima einer Schule?
Unsere Erfahrung sagt: eindeutig ja! Wenn man offenen Lern- und Unterrichtsformen Raum gibt, wenn man Lernräume radikal aufmacht und auf das gesamte Schulhaus ausdehnt, wenn die Klassenzimmertüren durchgängig offenstehen, dann steht dahinter eine bestimmte Vision von Schule: Eine, deren Ziel eine veränderte, eine andere Schule ist. Eine offene Schule beginnt im Kopf der Schulleitung und des Kollegiums. Sie rückt Anderssein, individuelles Lernen, Verantwortung für das eigene Lernen und das des anderen, Selbstständigkeit, Eigenaktivität und gegenseitige Wertschätzung in den Mittelpunkt ihrer Arbeit. So eine Schule verlangt nach einem reflektierten Berufsverständnis der Lehrkräfte und gibt der Sicht auf Eltern, Schülerinnen und Schülern eine neue Bedeutung. Das positive Klima, die gegenseitige Wertschätzung von Schülerinnen und Schülern untereinander und die zwischen Schüler- und Lehrerschaft, die Normalität und Selbstverständlichkeit von Inklusion wird entscheidend durch die Öffnung der Räume und deren individuellen und differenzierten Nutzungsmöglichkeiten erzeugt. Denn dort, wo alle Lehrerinnen und Lehrer für alle Schülerinnen und Schüler verantwortlich und Ansprechpartnerinnen und Partner sind, wo sich Lernende unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Kompetenzen und unterschiedlicher Handicaps begegnen, wo im eigenen Tempo gelernt werden kann, wo nicht jeder zur gleichen Zeit das Gleiche machen muss, dort bleibt Raum für ein positives, offenes und wertschätzendes Miteinander. Die Öffnung des Unterrichts führt notwendigerweise zu einer Öffnung der Räume - und umgekehrt!
Noch stärkere Individualisierung mit Betonung der eigenen Lerngeschwindigkeit, das verstärkte Angebot an offenen, kreativen, selbst zu gestaltenden Aufgaben motiviert und ermöglicht Erfolgserlebnisse in ganz unterschiedlichen Bereichen, auch und gerade in solchen, die im traditionellen Unterrichtsalltag kaum Bedeutung haben. Die flexible Möblierung erlaubt die mühelose Realisierung verschiedenster Sozialformen, die verschiebbaren Tafelelemente ermöglichen das Neben- und Miteinander unterschiedlicher Arbeits- und Präsentationsformen.
Mit der konsequenten Einführung der freien Lernzeit (FLZ) ab der 1. Klasse gelingt es, das gesamte Schulhaus als Lernraum zu nutzen. Die FLZ wird stufenweise eingeführt und soll in der Mittelschule zwei Stunden täglich umfassen. In dieser freien Lernzeit wählt sich die Schülerin bzw. der Schüler sowohl den Unterrichtsinhalt, mit dem sie/er sich beschäftigen will, als auch die Intensität der Beschäftigung damit selbstständig aus. Frei gewählt werden auch die Lernpartnerin bzw. der Lernpartner, der Lernort im Schulhaus und die notwendigen und für das Lernen in dieser Phase geeigneten analogen und/oder digitalen Medien. Lernen wird zum (eigen-)aktiven Prozess, der von der Lehrkraft unterstützt und begleitet wird, der aber individuell gestaltet und geplant werden muss.