“Nein, David, nein, das wäre ja schön; es bläst nur ein Blasebalg – so wie der Schmied ihn braucht, um sein Feuer zu schüren – in alle diese Flöten. Es ist ein einziger Musiker, der die Gewalt dieses Instruments anfachen muss. Aber es gibt Begnadete, die es können. Doch eine einzige Hirtenflöte klingt oft lieblicher zu Gott als die Gewalt der Orgel.
Die Musik ist eine der wunderbarsten Sprachen unserer Seele. Ist die Seele lustig, so tanzt es in der Musik, weint die Seele, so schluchzt es durch sie hin. Es klingen Licht und Finsternis aus der Musik, sie spricht auch vom Leben und sie spricht vom Tod. Sie ist eine der wunderbarsten Sprachen unserer Seele zu Gott.
Es gibt auch Orchester, wo viele Musiker mit vielen Instrumenten mit der Kraft eines ganzen Volkes zum Allmächtigen sprechen. Klingt aus solch einem Orchester einmal ein einziges Instrument in seiner Einsamkeit allein, das ist ein ‘Gebet’. So steht der Kantor in der Synagoge in seiner Einsamkeit allein vor Gott, um alle Seelen mit zu ihm zu tragen.”
“Papa, wie kann der Kantor die Seelen anderer mit sich tragen?” Vater lächelte, was er selten tat.
“Davidel, unsere Augen können die Seelen nicht sehen, wie unsere Hände sie nicht fassen und tragen können, aber die Seelen können in der Musik tanzen, denn sie sind aus Licht. Die Seelen sind nur winzige Funken von Gottes Licht. Gottes Licht aber hat die Kraft, den Staub der Erde aufzuheben. Dieser kleine Funken Licht in uns selbst, unsere Seele, hat die Kraft, viel zu tragen, zu heben und sogar zum Tanze mitzunehmen. Wenn es warm in der Seele wird und sie liebt, dann kann sie viel aufheben.”
Wenn ich auch noch ein Kind war, ich hatte den Sinn von Vaters Worten verstanden, suchte seine Hände und küsste sie.
Der erste Stein
Es kamen von Zeit zu Zeit Kameraden aus der Schule mich besuchen. “Warum kommst du nicht mehr mit uns lernen?”
Gerne wäre ich gegangen, doch Vater hatte bestimmt, ich solle das weltliche Wissen nicht mit christlichen Anschauungen lernen. Wie konnte ich ihnen das erklären?
“Alle meine Zeit brauche ich für die heiligen Schriften”, antwortete ich.
“Und den heiligen Katechismus? Lernst du den nicht?”
“Das ist zu vieles zusammen.” Verdrossen gingen sie fort. Bald darauf schrie Peter, der Sohn unseres Nachbarn, mir aus vollem Halse nach: “Verstunkener Jude!”
Eine große Traurigkeit überfiel mich. War ich stark genug, den großen Jungen zu schlagen? Ja! Meine Seele sagte laut “Ja!” Aber meine Hand wollte sich nicht heben und ich ging still weiter. War es nicht Mutter, die bei den christlichen Nachbarn bis tief in die Nacht hinein waschend und stopfend unser Brot verdiente? Wir waren fünf am Tisch. Mutter arbeitete mehr und mehr. Von seinen drei Gulden wöchentlich legte Vater zehn Prozent für Arme oder heilige Zwecke in eine Büchse.
“Sind wir nicht die Ärmsten der Armen?” hatte Mutter einmal gesagt und Vater antwortete: “Gott will es so. Zehn Prozent sind nicht für uns!”
Eines Abends beim Milchholen lief mir eine Gruppe Schulkameraden nach und ich hörte sie hinter mir schreien:
“Da ist der Jude! Da ist er! Der Jude!”
Ich wollte mit ihnen sprechen und drehte mich um. Da flog mir ein Stein an die Stirn. Das Blut rann schnell in die Augen, aber ich hatte gesehen, wer den Stein warf. Aufrecht, aber doch ein wenig schwankend, ging ich sehr langsam heim. Ich war “Jude” geworden. Sie liefen mir nicht nach. Mutter wusch mit zitternden Händen die Wunde und meine Kleider.
“Mamme, es war der Nachbarsohn.” Zu Vater sagte ich, ich wäre auf einen Stein gefallen. Diesmal beschaute er die Wunde.
“Bis zur Zeit, wo du mit Tephilin beten darfst, wird sie geheilt sein.”
Die Narbe ist geblieben, aber die Hoffnung, einmal die heiligen Gebetssprüche auf meiner Stirn zu tragen, war mir Balsam, denn dies bedeutete, die heiligen Gebote wirklich im Inneren zu tragen und danach zu leben, also ein “frommer” Jude zu sein. Meine Wunde tat nicht mehr weh, aber mein ganzes Inneres.
Am Morgen kam die Nachbarin mit Butter und Eiern für mich, setzte sich lange an mein Bett, nickte eine ganze Weile mit dem Kopf und sagte: “Ich habe aber Peter tüchtige Ohrfeigen gegeben! Der Geistliche hat im Katechismus zu den Kindern gesagt, dass die Juden den Heiland getötet haben, da wollte Peter in seiner Wut einen Juden töten. Er ist aber sonst kein schlechter Junge, mein Peter!”
Mutter stopfte eben Peters Hemd. Die gute Frau war sehr gerührt und rang die Hände: “Pop-Neni (Tante Geistliche), seien Sie nicht böse, kommen Sie bitte weiter zu uns herüber. Wenn Sie den Gendarmen nichts erzählen wollen, wird der gute Heiland Sie sicher dafür segnen.”
“Gut, gut”, sagte Mutter.
So verstrichen einige Wochen. Vater ging manchmal erregt im Zimmer auf und ab. Diesen Abend schien er sehr vertieft; ich profitierte davon und schlich mich leise hinaus, denn wir drei Geschwister wollten zur Sandgrube gehen, wo man so herrlich herunterrutschen konnte. Die Sonne stand noch am Himmel. Viele Kinder liefen auf dem gleichen Weg entlang und wir sahen den Herrn Lehrer, der auch der Dorfgeistliche war, mit einigen Großgrundbesitzern, ihre Büchsen geschultert, zur Grube zum Zielschießen gehen; die große Scheibe wurde am anderen Ende etwa dreissig Meter entfernt aufgestellt und die Herren begannen ihre Künste zu prüfen. Wir sahen jedesmal eine kleine Flamme aus dem Gewehr aufleuchten. Es war aufregend und so wir vergaßen zu rutschen. Plötzlich verlor die Zielscheibe ihr Gleichgewicht. Der katholische Geistliche rief mir zu: “David, stell sie wieder auf!”
Ich fühlte mich sehr geehrt und rannte eilends los. Kaum hatte ich meine Arbeit verrichtet, da ertönte ein Schuss. Verwirrt hörte ich aufgeregte Rufe. Karoline und Frieda rannten herbei, mich vom Platz reißend. Da kamen auch die Herren, um zu sehen, ob mir nichts fehle? Höhnisch sagte der Geistliche: “Sehen Sie, meine Herren, es ist ihm nichts geschehen, seine Seitenlocken werden keine Feuersbrunst ins Dorf tragen. Sie haben noch nicht Feuer gefangen.”
Plötzlich verstand ich und schrie: “Der Gott, der den Blitz und das Feuer ins Dorf geschickt hat, der Gott wird auch den Blitz zum Herrn Lehrer schicken! Amen!”
Karoline erzählte daheim erregt die Geschehnisse. Vater erhob sich sehr langsam und schwer, ging zum Schrank, wo sein Stock stand, holte ihn heraus und ein erstes Mal fühlte mein Rücken seine sehr harten Schläge. Vater sagte kein Wort. Ich weinte nicht. Ich lief nicht fort. Ich verstand “die Gefahr” draußen. Ich verstand, dass Vaters Liebe mich schlug. Ich verstand, dass ich ein Jude war. Dann gab Vater mir den Stock in die Hand. Ich durfte ihn zurück in den Schrank stellen.
Die Zadekeste
Wie fröhlich war es, wenn unser ‘König David’ und ich zusammen den Sonnenaufgang begrüßten. Er schmetterte laut sein Aufwecklied, ich betrachtete, wie das feurige Licht in den Himmel floss und dachte, das ist die unhörbare Musik, von der Vater sprach. Meine Lieblinge schüttelten derweil ihre Federn und kamen, mir die Maiskörnerchen vom Mund zu picken; dies war unsere Begrüßung, wir hatten uns wirklich gern. Aber der Kukurutzsack des Bürgermeisters wurde leer. Vater ging im Herbstregen seltener in die umliegenden Dörfer “zu seinen Juden”, wie er sagte. Es fehlte Futter und meine nun großen Gänse hatten sehr großen Appetit. Bald fing der erste Schnee zu fallen an und plötzlich hörte ich die Worte der Frauen wieder: “Fett und Fleisch für den Winter.” Ich erschrak. Ich erschrak sehr.
Und es geschah tatsächlich, dass auf unseren Tisch zu Ehren des heiligen Sabbat Fett und Fleisch kamen, dass es in der großen Suppenschüssel Geflügelbrühe gab. Langsam wurde es stiller und stiller in meinem Hühnerhaus. Eines Tages begrüßte auch ‘König David’ den Morgen und mich nicht mehr. Die Sonne stieg ohne Freude zum Himmel hinauf. Statt “Gottes unhörbarer Musik” tönte es in meinen Ohren “Fett und Fleisch für den ganzen Winter” und ich weinte, weinte bitterlich.
Rachel, die letzte, wollte nicht mehr alleine im Hühnerhaus bleiben, sie lief mir nach in die Küche; sie legte sich wie schutzsuchend zu Vaters Füßen und blieb dort liegen,