So wurde ich mehr und mehr in Vaters Studierzimmer gerufen. Die Hühnchen wurden zu Hühnern. Zum Austausch für Mutters Arbeit baute uns der Nachbar im Garten ein richtiges Hühnerhaus. Er sagte: “Einige deiner Hühnchen, David, sind von der selben Rasse wie die unsrigen.”
Ich wurde rot vor Schreck und Scham. Er schien sich aber gar nicht darüber zu wundern, stellte ruhig in die Mitte des Hauses eine stolze, breite Hühnerleiter.
“David, unten ist der Platz für die Gänse.”
Gerechtigkeit
Es erwachten nun meine Großgrundbesitzerideen: Welches ungarische Haus kennt nicht die berühmten Stopfgänse!
“Schmalz für den Winter”, sagten die Frauen.
Ich hörte von diesen Stopfgänsen sogar in der Synagoge sprechen, derweil Vater sehr ernsthaft aus der Thora las und Mutter leise in ihr Gebetbuch hinein lächelte. Ach, wie liebte ich Mutter! Darum stahl ich mich manchmal aus der Männerseite unseres Synagögchens zu der Frauenseite hinüber und Mutter flüsterte: “Schnell, David, geh zurück!” Aber sie freute sich doch über mein Wagnis.
Die Frauen erzählten sich einmal von fünf oder sechs Gänsen, die sie schlachteten, so gab es Fett für den ganzen Winter. Bei uns gab es diesen Abend Bohnensuppe mit kalten Kartoffeln. Fleisch und Fett im Winter zu essen schien mir Ausdruck der Gerechtigkeit der Welt und ich hoffte auf Gottes Hilfe.
Es kam nun Jossele, ein zwölfjähriger Junge zu Vater, seine Bar-Mitzwa vorzubereiten. Er brachte jedesmal etwas Gänseschmalz als Geschenk für Mutter mit. War dies schon ein erstes Zeichen, dass der Allmächtige meine Wünsche verstand?
Endlich kam auch der Moment, es war ein Sabbat, an welchem die Bar-Mitzwa gefeiert wurde, und Jossele musste sein Können beim Lesen der Thora zeigen, um als Mann in der Gemeinde wirken zu dürfen. Seine Eltern luden alle Juden des Dorfes zum Feste ein, auch einige christliche Großgrundbesitzer saßen am selben Tisch mit Vater und dem Bürgermeister zusammen. Viele Neugierige kamen um zu sehen, wie man bei den Juden feierte. Es gab Tee mit Branntwein und viel Kuchen! Vater trank nur Tee.
Alle Leute baten jetzt Jossele, den neuen Mann, er möge seine Geige holen, um das berühmte ‘Kol Niedere’ zu spielen. Er war von allen Aufregungen so überwältigt, dass der zarte Jossele zitterte, es kam aus seiner Geige nur Krächzen wie Katzenjammer heraus. Dicke Tränen rollten über sein Gesicht.
Vater stand auf und rief ihn zu sich: “Jossele, du hast eine sanfte, gute Seele, nimm dir viel Zeit für deine Geige. Man muss seiner Violine das Singen beibringen, auf dass sie singe, so wie deine Seele singen möchte! Du kannst einmal ein Meister werden, du hast eine singende Seele und alle Menschen werden dem Gesang deiner Geige lauschen. Dann wirst du dich erinnern, wie der Herr Rabbiner zu deiner Bar-Mitzwa auf deiner Geige gespielt hat, und du wirst dann meine Worte verstanden haben. Komm, gib mir die Geige.”
Wir hielten den Atem an, nie hatte Vater Violine gespielt. Wir wussten nur, dass sein Leben vor der Flucht aus Russland ein ganz anderes gewesen war.
Das ‘Kol Niedere’ ertönte sanft und schön. Alles lauschte, still befriedigt. Dann aber wählte Vater das Lied ‘Szol-a-Kakasmar’, was in ungarischem und in jiddischem Text von allen Männern mitgesungen wurde, sogar draußen auf der Straße. Beflügelt schmetterte auch mein Sopran in den Chor. Begeisterung. Lauter Beifall. Alles klatschte: “David muss das Lied alleine mit der Violine singen!”
Nach dieser Ehrung gab Vater mir das Zeichen aufzuhören.
“Nicht du sollst heute glänzen!”
Er legte die Geige in die Hände Josseles zurück.
“Sie ist ein gutes Instrument, du kannst deinen Eltern Dank sagen. Schöne Klänge werden aus ihr kommen. Lege sie liebevoll an deine Seele, Jossele, dann wird sie singen. Und du ein Meister werden.”
Vater konnte sehr gütig sprechen.
Der Bürgermeister wurde aufgeschlossen: “Herr Rabbiner, welch gottbegnadete Familie haben Sie, Ihr David hat ja Gold in der Kehle! Sind bei Ihnen Dach und Haus in gutem Zustand? Brauchen Sie noch etwas?”
Vom Erfolg angespornt war ich es, der sofort antwortete:“Herr Bürgermeister, wir haben schon ein Hühnerhaus und unten gibt es Platz für Stopfgänse.”
“Habt ihr auch schon Hühner, David?”
“Ja, ich habe 18 Stück. Aber es gibt noch Platz für Gänse!”
Er lachte und trank einen tüchtigen Schluck Branntwein.
Am Sonntagmorgen in der Frühe kam ein Wagen vorgefahren. Vater und ich saßen längst beim Studium. Mutter war es, die öffnete. ‘König David’ schrie Krawall, es gab Aufruhr im Hühnerhaus. Der Bürgermeister trat ein. “David, ich habe dir zwei Gänse in dein Hühnerhaus gebracht, mit einem Sack Kukurutz, damit kannst du sie fett machen.” Er reichte fröhlich Vater die Hand und dann Mutter. Mutter machte einen Schritt zurück.
“Herr Bürgermeister, ich reiche niemals einem Manne die Hand, es ist bei uns nicht Sitte.”
Mutter sagte es mit viel Liebenswürdigkeit und einem kleinen schelmischen Lächeln. Er lachte laut.
“Frau Rabbiner, das müssen wir auch bei uns einführen, dann brauchte manches Mädchen nicht so früh unter die Haube!”
Er war lustig, zog aus der Westentasche seinen Tabaksbeutel, schob eine gute Menge des groben Krautes in einen Mundwinkel und sagte: “So, jetzt kann ich zur Kirche gehen, mir unseren Geistlichen anhören.”
Still ging er hinaus, fast sorgenvoll, und drehte sich nochmals um: “Wenn David auch ein kleines Schweinchen aufziehen will, dann bringe ich ihm eines.”
Sogar auf Vaters Gesicht spielte Lustigkeit, dann seufzte er und sagte: “Ribeuno-Schel-Eulam, Schöpfer der Welt, könnten nicht alle Menschen in Freundschaft am Tisch beisammen sitzen?”
Er aber schien Vater zu antworten: “Geduld, Geduld.”
Und Vater seufzte abermals.
Ich war überzeugt von Gottes Gerechtigkeit, man musste Ihn ja nur darum bitten! Er hatte mir schon geantwortet: Fleisch und Fett für den Winter! Dass Gott aber die Gerechtigkeit und die Verteilung der Schätze der Welt anders sah als ich, das musste ich erst langsam von Ihm lernen.
Die Geige
“Papa, wie kommt es, dass du Geige spielen kannst?”
“Das war ein Geschenk meines Bruders, der Musik studierte. Er hat mir seine Geige anvertraut und auch meine Hände auf sein Klavier gelegt; so haben wir zusammen Tage und Nächte musiziert, zur Freude unserer Mutter, aber auch der Kameraden und uns selbst.”
“Papa, was ist ein Klavier?”
“Der König David spielte eine Harfe zu seinen Gesängen. Er trug sie zum Sonnenuntergang, wenn der Wind erwachte, auf die Terrasse seines Schlosses in Jerusalem. Dort also spielte der Wind leise in ihren Saiten und David lauschte dieser Musik des Schöpfers. Darauf sang der König wohl die schönsten Liebeslieder der Welt, die Psalmen zu Ehren des Allmächtigen. Später glaubte man, dass eine Riesenharfe größere Musik erzeugen würde und man erfand das Klavier. Man spielte viele Saiten darauf, so viele, dass das Klavier zu schwer war, im Wind zu singen. Nur eine komplizierte Technik erlaubt, alle diese Saiten zu berühren. Nun wollte ein jeder Klavier spielen. Aber Menschen, die nicht des Schöpfers Musik erlauschen, sie können nur Lärm erzeugen.”
“Papa, ist es auch ein Klavier, das am Sonntag in der Kirche erklingt?” Ich zitterte. Vaters dunkelblau leuchtende Augen schauten mir bis in mein Innerstes. Dann antwortete er freundlich: “David, in der Kirche hier spielt nur ein kleines Harmonium. In großen Kirchen ertönt die Orgel. Die Menschen haben nach immer größerer Harmonie und Kraft in der Musik gesucht, sie haben viele Flöten,