Mira Kadrić’ wissenschaftliches Wirken bleibt nicht nur auf die Fachwelt beschränkt. Ihr kritischer Zugang und ihr Streben nach Gerechtigkeit, die von einem ausgewiesenen gesellschaftspolitischen Engagement getrieben werden, bewirken auch, dass sie den Dialog mit „der Gesellschaft“ im weitesten Sinne nicht scheut. So erwies sie sich über die Jahre als gefragte Gesprächspartnerin in Interviews, in denen sie nicht müde wird, auf die wichtige gesellschaftspolitische Funktion von Dolmetscher*innen und das Recht von Anderssprachigen „verstanden zu werden“ (2010c) hinzuweisen. Kritisch spricht sie dabei auch immer wieder die suboptimale Translationspolitik in verschiedenen öffentlichen Einrichtungen an, so etwa auch den problematischen Einsatz von Kindern als Dolmetscher*innen: „Der beste Arzt hilft nichts, wenn bei der Dolmetschung Fehler passieren.“ (2018)
Mira Kadrić’ aktives gesellschaftspolitisches Engagement zeigt sich auch an kritischen Kommentaren im Feuilleton-Teil von Tageszeitungen, etwa wenn sie vor dem Hintergrund anhaltender Debatten zum Thema Migration und Integration kritisch die negativ besetzte und primär mit Zuwanderung assoziierte Verwendung des Begriffs „Parallelwelten“ thematisiert und Leser*innen mit dem Hinweis auf auch nationale innergesellschaftliche Parallelwelten den Spiegel vorhält: „Österreich hält einige Parallelwelten aus“ (2010b). Auch hier stehen Grundwerte für sie im Vordergrund: „Gesellschaften funktionieren, solange dieselben Grundwerte für alle gelten. Dies bedeutet gleiche Rechte für Zugewanderte, umgekehrt sollen aber auch keine Sonderregeln bestehen.“ (2010b) Vor diesem Hintergrund ist auch das von Mira Kadrić in die Literatur eingeführte Konstrukt der „Multiminoritätengesellschaft“ (2012b; siehe auch 2019a) zu verstehen, als eine Gesellschaft, die von einer durch steigende Mobilität und komplexe globale Migrationsverläufe bedingten hybriden sprachlichen und kulturellen Vielfalt geprägt ist, so wie sie auch Mira Kadrić’ persönlichen Hintergrund kennzeichnet. Ihre Herkunft aus dem ehemals multikulturellen Vielvölkerstaat Jugoslawien war sicher auch Motiv für eine kritische translatorisch motivierte Stellungnahme in den 1990er-Jahren zum „serbokroatischen Sprachstreit“ (1999), in der sie darauf hinweist, dass die Trennung des Serbokroatischen in drei Teilsprachen für die Sprecher*innen dieser Sprachen auch mit einem hohen symbolischen und emotionalen Wert besetzt war und ein Mehr an „Sensibilisierung für die Benennung der Sprache in den Gerichts- und Dolmetschalltag gebracht [hat]“ (1999:10).
Sprache „als identitätsstiftendes Mittel im vielsprachigen Europa“ (Kadrić & Snell-Hornby 2012a) stand auch im Zentrum eines 2011 gemeinsam mit ihrer Doktormutter und langjährigen Mentorin, Mary Snell-Hornby, organisierten Symposiums zum Thema „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“, in dessen Rahmen verschiedene Referent*innen sich offen über ihre „gefühlte sprachlich-soziale Identität“ (Kadrić & Snell-Hornby 2012b:9) austauschten. Im Mittelpunkt der Diskussion standen die Vielschichtigkeit und Hybridität der sprachlichen und kulturellen Zugehörigkeit von Menschen in einer „Multiminoritätengesellschaft“ (Kadrić 2012b): „Der Prozess der Identitätsbildung beginnt mit der Formung der ersten Worte und ist in die Gesamtbiografie eingebettet“ (2012b:13). Die kritischen Diskussionen im Rahmen dieser Veranstaltung (Kadrić & Snell-Hornby 2012a) zeigen auch, dass Mira Kadrić mit diesem Thema wiederum einen Nerv der Zeit getroffen zu haben scheint.
Multilingualismus, die Einführung EU-weiter Standards zur Umsetzung eines Rechts auf Translation in diversen gesellschaftlichen Bereichen in einem vielsprachigen Europa und die zentrale gesellschaftspolitische Funktion von Dolmetscher*innen in diesem Zusammenhang greift Mira Kadrić als „shared European challenge“ auch in Kooperation mit Kolleg*innen aus anderen europäischen Ländern auf (Valero-Garcés & Kadrić 2015). Als Mitwirkende an der 2010 vom European Language Council ins Leben gerufenen Special Interest Group on Translation and Interpreting for Public Services (SIGTIPS) steuerte sie neben anderen europäischen Expertinnen zudem einen Beitrag für den von der GD Dolmetschen der Europäischen Kommission veröffentlichten Endbericht zum Thema Interpreting for Public Services bei (European Commission 2011).
Universitäten und Ausbildungseinrichtungen für Übersetzen und Dolmetschen nimmt Mira Kadrić vor dem Hintergrund der europäischen Sprachenpolitik und -vielfalt kritisch in die Verantwortung: Ihr Beitrag muss aus der Sicht Kadrić’ auch sein, die „mission impossible“ (2014b) einer bedarfsorientierten Ausbildung zu bewältigen, aus der TranslatorInnen hervorgehen, die verantwortungsbewusst ihre gesellschaftliche Aufgabe zu wahren in der Lage sind. Auch der Berufsstand selbst ist hier aus der Sicht Mira Kadrić’ gefordert, sich aktiv der Ausgestaltung des Berufsbildes, die auch die Entwicklung allgemeiner „Imagekriterien“ umfassen kann, und der „Pflege einer Translationskultur“ (2007a:144) zu verschreiben. Translationsprozesse sollten möglichst transparent gestaltet sein, damit der gesellschaftliche Blick von außen auf die Berufsgruppe nicht weiterhin mit dem viel bemühten Bonmot traduttore-traditore verwoben wird (Kadrić 2007a:143). So beschreibt sie vor der Schablone undifferenzierter oder widersprüchlicher Sichtweisen das „grundlegende Prinzip der translatorischen Tätigkeit“ als die „Verpflichtung, die Interessen der an der Kommunikation Beteiligten zu wahren. Unabhängig davon, wer diese beteiligten Personen sind“ (2007a:142) und schließt in einer Publikation zu Image, Selbst- und Fremdbild mit den Worten: „In diesem Sinne: Der Gesellschaft ihre Translation, der Translation ihre Freiheit, und das alles im Bewusstein: Don’t shoot the messenger!“ (2007a:145)
4 Im Dialog mit Lehrenden und Studierenden
Wissenschaft bedeutet für Mira Kadrić immer auch Anwendung, dies wird besonders deutlich im Feld der Translationsdidaktik. Ihre Vision eines zeitgemäßen Übersetzungsunterrichts (z. B. 2006) vor allem aber des Dolmetschunterrichts (2004c, 2007b, 2010d, 2011b, 2014c, 2017b) ist dabei von einem multidirektionalen Verständnis von Dialog geprägt. Will man Dolmetschen in diesem Sinne als eine partizipative und selbstbestimmte Tätigkeit begreifen, so muss man zunächst einmal die vielfältigen Dolmetschformen und -settings in ihrer Spezifik begreifen und darüber hinaus den Gedanken an starre Vorschriften über Bord werfen (2014c:452)
Die Dolmetschdidaktik war die längste Zeit vor allem auf das Konferenzdolmetschen fokussiert. Die interaktiven Dimensionen, die das Behörden- und Dialogdolmetschen prägen, wurden erst spät in der Didaktik berücksichtigt, und damit rückten auch neue Fragestellungen für den Unterricht in den Vordergrund, nicht zuletzt, wie mit sozialen Hierarchien in Dolmetschsituationen umzugehen ist und wie ein zeitgemäßer Dolmetschunterricht diesen Aspekt integrieren könnte (Kadrić 2010e:232f.) Hierfür entwirft Kadrić ein „ganzheitliches Kompetenzprofil“ (2011b:27), das nicht nur fachliche und methodische Dimensionen, sondern auch sozial-kommunikative und individuelle Aspekte berücksichtigt. Mit der ihr eigenen Beharrlichkeit und dem Mut zum Hinterfragen tradierter Meinungen scheut Mira Kadrić in diesem Zusammenhang auch nicht davor zurück, darauf hinzuweisen, dass ein derart partizipatorisches, verantwortungsbewusstes und ethisch reflektiertes Handeln nicht als selbstverständlich vorausgesetzt, sondern im Rahmen einer kritisch-konstruktiven „emanzipatorischen“ Didaktik gelehrt und erlernt werden muss (2016:111). Dass sie mit Forderungen wie dieser durchaus auf Konfrontation mit langjährig in der Fachwelt tradierten Ansichten und Praktiken geht, unterstreicht ihren Mut Neuland zu betreten.
Der dabei notwendige Dialog findet nicht im Elfenbeinturm statt, die Universität ist aufgerufen, mit den Institutionen wie Polizei, Gericht und Gesundheitsbehörden, in denen Dolmetschleistungen benötigt werden, und der Gesellschaft zusammenzuarbeiten (Kadrić 2014b). Die (Aus-)Bildung an den Universitäten sollte in diesem Zusammenhang nicht so sehr von einer Dienstleistungsmentalität geprägt sein, sondern die Aufgabe haben, Mehrsprachigkeit, die nicht nur vermeintlich prestigeträchtige Sprachen umfasst, als Ausdruck einer Multiminoritätengesellschaft (2012b) ins Bewusstsein der politischen Instanzen und Entscheidungsträger zu rücken.
Die gesellschaftliche Funktion, die Dolmetscher*innen mit ihrer Tätigkeit erfüllen, integriert Mira Kadrić in ihrem Habilitationsprojekt in ein didaktisches Modell, in dem sie mit der Einbindung leitender Prinzipien des Theaters der Unterdrückten nach Augusto Boal disziplinäre Grenzen sprengte und den Hörsaal zum „Ort des Dialogs“ machte, in dem der einzelne Mensch gestärkt und zur „Bildung eines kritischen Selbstbewusstseins“