Dolmetschen als Dienst am Menschen. Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Группа авторов
Издательство: Bookwire
Серия: Translationswissenschaft
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783823303206
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Aspekte für unser Thema im Lebensweg des Soner Ö. können wie folgt zusammengefasst werden: Der Vater kam 1971 aus Anatolien nach Vorarlberg als einer der ersten „busweise angekarrten Gastarbeiter“ (Meinhart 2019:34), von den Einheimischen nicht erwünscht, aber von der Industrie als Hilfsarbeiter gebraucht. Die Unterbringung war entsprechend primitiv. Integration war kein Thema, vielmehr sollten die Migrantenkinder durch muttersprachlichen Unterricht „fit für die Rückkehr“ in ihre Heimat gemacht werden. Der 1991 eingeschulte Soner Ö., den eine Lehrerin als „charmant, ein Sonnenschein“ beschrieb (2019:35), landete aber immerhin in einer der ersten Inklusionsklassen. Als er zwölf ist, passiert jedoch ein Zwischenfall, die Polizei wird gerufen, ein Gendarm droht ihm „Du wirst abgeschoben“. Mit 14 gerät er in eine Gang von Kleinkriminellen, hat jahrelang Probleme mit Drogen und verschiedenen Straftaten (damals ohne sozialpädagogische Angebote) samt Anzeigen, Verwaltungs- und Haftstrafen und schließlich 2009 der Abschiebung in die Heimat seiner Vorfahren (wo er nie Fuß fasste) und dem damit verbundenen Rückkehrverbot. Anfang 2019 probierte er aber zu seiner Familie in Vorarlberg, „in meine Heimat“, zurückzukehren – als Asylwerber. (Berger 2020b:10). Der zuständige Leiter der Sozialhilfeabteilung ist zufällig dieselbe Person, die als Gendarm dem 12jährigen mit Abschiebung drohte und später als Fremdenpolizist diese tatsächlich durchführen ließ: Da ihn nun Soner Ö. wiedererkennt und zudem u.a. aus bürokratischen Gründen seine Grundversorgung nicht erhalten hat (er ist nicht versichert und mittellos), sticht er voller Wut auf den Amtsleiter ein.

      Das ist ein natürlich ein Extremfall – aber in den grundsätzlichen Fragen des sozialen Hintergrunds und der schiefgelaufenen kulturellen Kommunikation auch ein abschreckendes Beispiel. Anstelle der organisierten Kommunikationskette wie bei der jungen Syrerin bestehen hier scheinbar unversöhnliche Gegensätze, verhängnisvolle Zufälle und vermeidbare Missstände. Hier das eher unerwünschte kurdische Gastarbeiterkind, dort der Amtsinhaber aus einer angesehenen alteingesessenen Familie; hier der Versager, der glücklose türkische Kleinkriminelle, dort der Gendarm, der abschiebende Fremdenpolizist, der spätere zuständige Amtsleiter und schließlich das Mordopfer, fatalerweise allesamt dieselbe Person, der Soner Ö. vor seiner Tat sagte: „Du hättest nur nett sein müssen“. Dazu kamen bürokratische Pannen etwa bezüglich der Grundversorgung sowie Unwissen des Asylwerbers in rechtlichen Fragen wie bei der früheren Abschiebung (Meinhart 2019:35). An der sprachlichen Kommunikation lag es nicht: Vor Gericht sprach Soner Ö. „perfektes Hochdeutsch“ (Berger 2020b:10).

      5 Kommunikation in der Multiminoritätengesellschaft

      Es muss hier betont werden, dass im Falle Soner Ö. beim gegenständlichen Gerichtsverfahren kein juristischer Fehler moniert wird. Der Angeklagte hat eine engagierte Rechtsvertretung, die derzeit versucht, alle juristischen Möglichkeiten auszuschöpfen. Vielmehr geht es uns um die jahrelange Fehlkommunikation, die zu dieser Bluttat geführt hat. Das fängt bei der Stellung der türkischen Community in Vorarlberg an: Die Mutter des Angeklagten kann heute immer noch kein Deutsch (Meinhart 2019:34), von Integration kann also nicht die Rede sein. Hinzu kommen kulturspezifische Eigenheiten wie etwa patriarchalischer Stolz oder die Einstellung zum Thema Rache. Erschwerend sind auch die Unkenntnisse der juristischen Möglichkeiten, etwa ob die damalige Abschiebung in die Türkei überhaupt rechtens war, was jetzt untersucht wird, und gerade in diesem Stadium wäre Scheibers Forderung (2019) nach einem fairen Zugang zum Recht und einer angemessenen Informationspolitik außerhalb des Gerichtssaals relevant gewesen. Auf der anderen Seite steht die Haltung der Einheimischen: Wie wird aus dem einstigen „Sonnenschein“ ein mehrfach verurteilter Drogensüchtiger (ein klassischer Fall des Kleinkriminellen nach Scheiber), dann ein abgeschobener Totalversager und schließlich ein Mörder, der in der Rolle des „Asylanten“ dafür herhalten muss, dass generell für Asylwerber die Sicherungshaft gefordert wird? Das genaue Gegenteil bietet der Fall Nour, die Flüchtlingsfamilie aus Syrien, die zunächst im Libanon aufgenommen, dann über die Caritas nach Wien eingeflogen und bis zur Weiterfahrt nach Vorarlberg betreut wird, wo dank der dortigen Institutionen und einer aufgeschlossenen Floristenfamilie eine Lehre sowie Deutschunterricht zustande kommt. Zusammenfassend: Wenn der Wille auf beiden Seiten gegeben ist, kann die Kulturproblematik durch sprachliche Unterstützung, Empathie und ausreichende Information, und nicht zuletzt Hilfe bei bürokratischen und rechtlichen Hürden sehr wohl überwunden werden.

      Genau das ist in den letzten Jahrzehnten bei der Zuwanderung nach Österreich geschehen, und bekanntlich zum Wohle des Landes. Im Oktober 2011 habe ich mit Mira Kadrić ein Symposium mit dem Rahmenthema „Sprache, Identität, Translationswissenschaft“ organisiert; für den Titel ihres Vortrags prägte sie einen sehr aussagekräftigen Begriff: „Die Multiminoritätengesellschaft“ (Kadrić 2012) – so lautete dann auch der Titel der darauf folgenden Publikation (Snell-Hornby & Kadrić 2012). Die Teilnehmenden am Symposium und späteren AutorInnen dieses Bandes hatten fast alle einen multikulturellen Hintergrund im weitesten Sinn: In diesem Fall lag der Schwerpunkt auf Südosteuropa, und manche waren in den 1990er-Jahren als Flüchtlinge nach Österreich gekommen. Solche Menschen verkörpern die kulturelle Vielfalt unseres Kontinents und sind eine Bereicherung für das Land, allen voran Mira Kadrić selbst, die in den 1980er-Jahren zum Studium nach Wien kam, wo sie eine herausragende wissenschaftliche Karriere aufgebaut hat und im Fach Dolmetschwissenschaft international anerkannte Pionierarbeit leistete. In ihrem Bereich Dialogdolmetschen ging es über rein sprachliche Probleme hinaus um wichtige Aspekte der Kultur und des Rechts, nicht zuletzt, wie ihr neuer Universitätslehrgang gezeigt hat, bei Polizei und Asylbehörden und vor allem mittels „exotischer“ Sprachen. Unklar sind noch die konkreten Ergebnisse in unserer Gesellschaft: Ob sich die Asylsuchenden als gut integrierte Fachkräfte, wie die Teilnehmenden am Wiener Symposium, hier heimisch fühlen, oder ob sie, wie die Israeliten in der babylonischen Gefangenschaft, in Gedanken noch jahrelang sehnsüchtig in der verlorenen Heimat verharren, ist wohl der wesentliche Punkt. Die hier geschilderten Beispiele sprechen eher dafür, dass moderne Asylsuchende eine neue Heimat suchen und – im Gegensatz zu den Gefangenen in Verdis „Nabucco“ – ebendort in Gedanken und Träumen verharren, um Perspektiven zu finden und ein sinnvolles Leben aufzubauen, wenn man es ihnen nur erlaubt und ihnen dabei hilft. Eine eindrückliche Bestätigung dafür liefert Ivana Havelka, eine Dissertantin von Mira Kadrić, in der Danksagung an ihre Eltern am Anfang ihrer 2018 als Buch erschienenen Doktorarbeit: „Sie haben mich gelehrt, Grenzen zu überwinden und niemals aufzugeben – als einstiges Gastarbeiterkind seinen Platz in der Gesellschaft zu suchen und zu finden.“ (2018:6)

      Bibliographie

      Berger, Jutta (2020a). „Lebenslange Haft für Mord an Amtsleiter.“ Der Standard 23/01/2020, 10.

      Berger, Jutta (2020b). „Angeklagter in Mordprozess ist zurechnungsfähig.“ Der Standard 22/01/2020, 10.

      Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nach der Übersetzung D. Martin Luthers. 1812. Stuttgart: Privilegierte Württembergische Bibelanstalt.

      Havelka, Ivana (2018). Videodolmetschen im Gesundheitswesen. Dolmetschwissenschaftliche Untersuchung eines österreichischen Pilotprojekts. Berlin: Franke & Timme.

      Kadrić, Mira (2000). Dolmetschen bei Gericht. Aufforderungen, Erwartungen, Kompetenzen. Wien: facultas.

      Kadrić, Mira (2011). Dialog als Prinzip. Für eine emanzipatorische Praxis und Didaktik des Dolmetschens. Tübingen: Narr.

      Kadrić, Mira (2012). „Die Multiminoritätengesellschaft. Zur Bedeutung der Sprache und Kultur im geeinten Europa.“ In: Snell-Hornby, Mary/Kadrić, Mira (Hrsg.), 13–26.

      Kadrić, Mira (2019). Gerichts-und Behördendolmetschen. Prozessrechtliche und translatorische Perspektiven. Wien: Facultas.

      Meinhart, Edith (2019). „Du hättest nur nett sein müssen.“ profil 14, 32–36.

      Reichart, Nora (2020). „Erfahrungsbericht zum ULG Dolmetschen für Gerichte und Behörden.“ Universitas Mitteilungsblatt 2/20, 23–24. Abrufbar unter: https://www.universitas.org/wp-content/uploads/Universitas_220_web.pdf (Stand: 22/08/2020).

      Scheiber, Oliver (2019). Mut zum Recht! Plädoyer