»Den Herrn kenn ich nicht. Und nenn Coba nicht alte Hexe. Sie ist die weiseste Frau, die du auf dieser Plantage finden kannst.«
»Ich muss zurück an meine Arbeit«, sagte der Junge und drehte Ife den Rücken zu.
»Warte, noch eine Frage: Darf ich diese Hütte nicht mehr verlassen?«
»Erst wenn unsere Expedition losgeht. Sir Sandquist ist für einige Tage in die Stadt gefahren, um Besorgungen zu machen. So lange rührst du dich nicht vom Fleck. Dein alter Mister hat streng verboten, dass du mit den anderen Sklaven redest.«
Ife kauerte auf dem Boden und betrachtete die Risse im gestampften Lehm. Seltsam, sie war gefangen und privilegiert zugleich. Sollte sie nun nicht mal mehr ihre alte Freundin Coba zu Gesicht bekommen, weil sie dem Mister und Ife dem Sandquist gehörte? Und John? Niemals. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, dass Ife hier war. Andererseits machten Gerüchte schnell die Runde.
Wenn Johanna hörte, dass Ife zurückgekehrt war, würde sie sich das Maul darüber zerreißen und dann wüsste es wirklich jeder auf der Plantage. Wie mochte es Azuka und Elisa gehen? Gehörten sie am Ende zu denen, die auch den Weg in die Wälder gewagt hatten? Diese quälende Ungewissheit, diese Trennung von der Welt, die direkt hinter den Brettern dieser Hütte lag. Ife spürte, wie das Gift des Selbstmitleids in ihre Glieder sickerte, sie wieder schwer machte. Sie streckte sich auf ihrer Strohmatte aus. Wenn doch wenigstens der Fremde zurückkommen würde. Ife hatte Gefallen daran gefunden, ihn an seinem Schreibtisch zu beobachten, so wie ein fremdes, aber wenig bedrohliches Tier im Wald.
Die Bücher. Wenn sie den Sandquist nicht beobachten konnte, konnte sie zumindest seine Bücher angucken. Sehen, ob sie zwischen den schweren Deckeln dieselben Geheimnisse fand wie er. Sie konnte zwar nicht lesen, aber es gab immerhin Zeichnungen.
Was würde ihr geschehen, wenn er sie dabei erwischte? Bücher, Porzellan und edle Stoffe waren nichts für ihre groben Sklavenfinger. Ife blieb liegen und blickte die Buchrücken an, die zu ihrer Linken zu einem ordentlichen Turm gestapelt waren. Sie waren aus braunem glattem Leder ohne Schrift, gleich gepressten Kakaotafeln. Es waren zehn Stück. Wie viel sie wohl auf die Waage brachten und in wie viel Zucker man sie aufwiegen konnte?
Ife näherte ihre Nase den ledernen Rücken. Sie wusste nicht, wie Bücher rochen. Ihr Duft war sanft und verwegen. Sie rochen nach keinem Tier und keinem Lebensmittel, nicht nach Schweiß und Arbeit. Der Geruch war leichter als der von Erde und dennoch entsprang er dem feuchten Element. Das Leder erinnerte nur vage an Sattelzeug. Ife ließ ihren Kopf auf der Erde neben den Büchern liegen, schnupperte an ihnen wie an einer fremden Pflanze, die sie auf ihre Genießbarkeit testen wollte. Sie schloss die Augen und witterte so eine ganze Weile, bis sie überzeugt war, dass ihr die Bücher kein Leid zufügen konnten.
Sie nahm das oberste vorsichtig mit beiden Händen vom Stapel und trug es in sicherem Abstand vom Körper zum Studiertisch Sandquists. Behutsam und fast ohne Gewicht setzte sie sich auf die Stuhlkante. Sie hatte auch nicht gelernt, ein Buch zu öffnen. Bei der Missus hatte sie es schon gesehen. Die Missus legte die Bücher vor dem Öffnen nicht auf eine Tischplatte. Sie setzte sich mit ihnen in einen Sessel und während eine Hand das Buch stützte, bewegte die zweite die Seiten darin. Ife wollte es aber machen wie Sandquist, weil es ja auch seine Bücher waren.
Sie atmete tief durch. Der Buchdeckel war glatt und namenlos wie der Rücken. Sie ließ ihre Finger an seinen Rand gleiten und hob ihn vorsichtig an. Das Papier darunter knackte leise. Die erste Seite war gelbbräunlich und enttäuschend leer. Ihr Rand war weitaus schwerer zu greifen als der lederne Einband. Ife wagte sich nur mit äußerster Vorsicht auf die nächste Seite vor. In deren Mitte stand eine Reihe großer geschwungener Buchstaben in schwarzer Tinte. Kein Bild. Ife war ein wenig enttäuscht, wollte aber so schnell nicht aufgeben. Ihre Finger tasteten nach der nächsten Seite. Auf dem Hintergrund des nächsten Papiers gab es schwarze Buchstaben, die Skizze eines Baumes und echte Blätter, mit kleinen Papierstreifen auf den Untergrund geheftet, damit sie nicht verrutschten.
War sie zunächst noch hellhörig wie im Wald, bereit, das Buch beim leisesten Geräusch zuzuklappen und zurück in ihre Ecke zu hasten, vertiefte sie sich mit der Zeit immer mehr in die Sammlung von Schrift, Zeichnungen und Gegenständen aus der Natur. Sie war fasziniert, wie die Blätter und Blüten, die sich draußen im Wind bewegten, hier auf dem Papier in flacher Gestalt erstarrt waren, die Blüten sich nicht mehr der Sonne und den Schmetterlingen öffnen konnten, sondern in der Dunkelheit zwischen den Buchdeckeln auf die Morgendämmerung der Betrachtung warteten. Sie fand auf den Seiten des Buches Bekannte und Unbekannte. Sie fand nicht heraus, warum gerade diese, unter den Tausenden, die dort draußen wuchsen, in einem Buch vereinigt waren. Vielleicht hätte sie es verstehen können, hätte sie die Zeichen dazu zu Worten verwandeln können. Ife blätterte das Buch von vorne nach hinten, dann von hinten nach vorne durch, als hätte sie das Geheimnis irgendwo zwischen den Seiten übersehen. Aber sie kam dem Sinn der Sammlung nicht näher.
Sie nahm schließlich ihren rechten Zeigefinger und fuhr den geschwungenen Linien der Buchstaben nach, verirrte sich in deren Kurven, nahm mal naheliegende Abzweige, mal verwegene Umwege. Wie wäre es, wenn diese Kurven aus dem eigenen Finger flössen, verlängert durch das Gerät, das die Missus Füllfederhalter nannte? Würde sie den seltsamen Sandquist fragen können, ob er sie das Lesen und Schreiben lehrte? Ife hatte nur selten von Sklaven gehört, die lesen und schreiben konnten. In Sugar Creek verstand es Pieter Zahlen zu schreiben. Er notierte jeden Tag in einem dicken Buch, wie viele Oxhofte Zucker von der Siederei zum Trocknen ins Lagerhaus gebracht wurden. Ife glaubte nicht, dass er nur ein einziges Wort schreiben konnte. Mutlos geworden ließ sie den Buchdeckel zuklappen und starrte in die Luft, wie es auch Sandquist an dieser Stelle manchmal zu tun pflegte.
Sie war so sehr versunken, dass sie George nicht kommen hörte. »Was machst du denn da?«, fuhr er sie mehr erstaunt als verärgert an. »Das ist der Arbeitstisch von Herrn Sandquist!«
»Ja, ich weiß.« Nur langsam stand sie von dem Stuhl auf und stellte sich George gegenüber. Er war nur einen Kopf größer als sie und ein wenig kräftiger. Wenn sie ihn überraschte, hätte sie vielleicht sogar die Möglichkeit, sich ihm zu entwinden. Aber da draußen waren die Wachen und, wenn George laut um Hilfe rief, sicherlich auch bald die Hunde.
»Kannst du lesen und schreiben?«, fragte sie ihn stattdessen.
»Der Pater hat gesagt, ich könnte es lernen. Dann könnte ich die Bibel selber lesen und mich an Gottes Worten erbauen. Aber wir haben dann doch nie damit angefangen. Und, um ehrlich zu sein, ich finde es einfacher, wenn mir der Pater die Dinge erklärt.«
»Diese Bücher hier – könnte die dein Pater auch erklären?«
»Es sind die Angelegenheiten des Herrn Sandquist. Sie gehen mich nichts an. Ich versuche nur, Gott zu Gefallen zu sein, indem ich ihn bei einfachen Arbeiten unterstütze.«
Ach, was war dieser Junge doch für ein beschränktes Wesen! Wieso hatte man ausgerechnet ihm, der nichts damit anfangen konnte, das Gut der Freiheit geschenkt?
»Wenn ich nicht hier sitzen und studieren darf, was soll ich dann tun?« Das Wort studieren musste Ife bei Sandquist aufgeschnappt haben. »Ich komme allmählich zu Kräften, und der Herr hat mir vor seiner Abreise keine Aufgabe gegeben. Meinst du, es ist eine gute Idee, wenn ich diese Hütte in Ordnung bringe?«
»Nein, auf gar keinen Fall. Ich habe einmal versucht bei ihm zu putzen, und er hat es mir sehr übel genommen.«
George konnte Ife nicht lange von den Büchern des Herrn fernhalten, und sie wusste, sie würde nicht eher Ruhe geben, bevor sie ein jedes von vorne bis hinten durchgeblättert hatte. Ihre Finger bekamen die Seiten immer geschickter zu fassen. Den Buchstaben Bedeutung zuzuordnen, gelang ihr jedoch nicht. Sie konnte aber sehen, dass sich die Buchstaben voneinander unterschieden. Mal waren sie verschlungen und vornüber geneigt wie in dem ersten Buch, mal waren sie gleichmäßig und perfekt auf einer Linie angeordnet. Ife konnte nicht sagen, ob es sich bei ihnen vielleicht um eine ganz andere Buchstabenfamilie handelte. Die Bilder waren