Mobile Röntgenstationen. Jurgis Kuncinas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968423
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hatte, war ihm gerade erst das Recht gewährt worden, das düstere historische Kapitel, das die Schwindsucht schrieb, zu beenden. In sämtlichen Publikationen jener Jahre wurde sie als historisch abgetan beschrieben, als beinahe so etwas wie die mittelalterliche Pest, und dem vermeintlich letzten an Schwindsucht gestorbenen Patienten hatte man neben der Kaunasser Klinik ein nicht sehr künstlerisches, dafür wirklichkeitsnahes Denkmal gesetzt. Für die Figur saß sogar eine konkrete Person Modell: Ein Mann mittleren Alters, der dort mit einer offenen Kaverne lag, stellte sich dem Bildhauer, Stalinpreisträger der Stufe III, willig für ein Denkmal in Lebensgröße zur Verfügung. Das Elend war nur, dass der Kranke, ein Mann von kristallklarer Gesinnung, Organisator der kollektiven Landwirtschaft und Proletarier der dritten Generation, den Künstler überlebte. Die beiden Männer freundeten sich während der Dauer des Entstehungsprozesses dieses Kunstwerks heftig miteinander an, und weil man auch ähnliche Ansichten hatte, begann man im Klub des Sanatoriums, wo ein Studio eingerichtet wurde, Frauen anzulocken (Köchinnen, Krankenschwestern), hemmungslos zu saufen, und der Bildhauer wurde bald von einem Delirium tremens heimgesucht. Von einer schweren Depression geplagt, stürzte er zusammen mit einem Scherbenregen aus dem Fenster und hatte sich glücklich aus dem Leben befördert. Die Statue, ein wenig modifiziert, beendete sein Schüler. Sie war wesentlich beleibter ausgefallen, und auf dem Gesicht zeigte sich etwas wie ein Lächeln. Neben der Klinik aufgestellt, stand sie noch bis zum Herbst 1961. Bis eine Gipshand und die Nase abgefallen waren, die Streben des Metallgerüstes an einigen Stellen herausragten und die ästhetisch gestimmte Klinikleitung das Meisterwerk abtragen ließ. Keinerlei Proteste, keine Nachricht in den Zeitungen.

      Zu dieser Zeit begriff es sogar die Regierung der UdSSR: Allein mit Enthusiasmus und den üblichen Hauruck-Aktionen war diese heimtückische Krankheit nicht zu besiegen. Also bekamen die Tuberkulösen noch mehr Privilegien, sogar in den Gefängnissen wurden ihnen etwas geräumigere Zellen zugewiesen, die als Krankenzimmer galten. Heutzutage, da die arme Schwindsucht längst verdrängt wurde von Seiner Majestät dem Krebs, von Herzkrankheiten und dem weltweit operierenden AIDS, hat jeder normale Mensch zumindest einige an Tuberkulose leidende Freunde oder Bekannte. Sie sind einsam. Gingen all ihrer früheren Privilegien verlustig. Verloren ihr Image. Es war noch gar nicht lange her, dass sich ein Patient dieser Art, nachdem er ausgeschlafen und ausgiebig gefrühstückt hatte, wieder ins ungemachte Nest legte, sich reckte und streckte, sich dann rumdrehte und wieder einschlief. Diese Zeiten waren ein für allemal vorbei. Ist doch unser Schwindsüchtiger heute isoliert, ungeliebt, mehr noch: Er wird leise verachtet. Da genießen Krebskranke oder Herzpatienten ein höheres Prestige, ganz zu schweigen von den Helden an der AIDS-Front. Röntgen hätten sich die Haare gesträubt: Weshalb, zum Teufel, hab ich mich angestrengt und Zeit vergeudet? Er möge sich beruhigen, sein Name ist in die Ewigkeit eingegangen. In Röntgen-Einheiten wird die elektromagnetische Hintergrund-Strahlung gemessen, die schon zu Zeiten Caligulas, Vytautas des Großen, Murawjows[8] und Vincas Kudirkas[9] existierte. Schön auch, wenn ein an einem Seeufer gemessener überhöhter Strahlenpegel öffentlich im Radio bekannt gegeben wird: Besser eine Ahnung zu haben von diesen Dingen als in Unwissenheit dahinzudämmern! Metalle wurden entdeckt, die nachts wie Johanniskäfer leuchteten, und die gestohlenen Behälter mit diesem Brennmaterial, die, sogar in der Erde vergraben, leise tickten – wie viele Röntgen kamen hier zusammen! Vielleicht zirpte das bereits zu Dschingis Khans Zeiten, wer weiß es? Aber hätten sich etwa die Kreuzritter um irgendeine Hintergrundstrahlung geschert, als sie ihre Katapulte auf dem Nemunas bis nach Kaunas heranschifften? Die Menschen hatten andere Sorgen. Zu essen und zu trinken zu haben war das Wichtigste, im Wald ein verirrtes Reh einzufangen oder ein Weibsbild, am Flussufer die stolpernden Lastpferde zu füttern und sich vor einem Hinterhalt der Heiden in Acht zu nehmen. Ähnliche Sorgen hatten auch Ritter, Handelsleute, Räuber und Wegelagerer, Heerführer, später Gendarme, Postkutscher, Mönche und einsame Wanderer. Jene Strahlung existierte, aber zu allen Zeiten gab es handgreiflicheres Unglück: Dürrekatastrophen, Ernteausfälle, Hochwasser und Seuchen, die das Vieh dezimierten. Und wo noch Feuersbrünste hinzukamen, Flucht vor Feinden, schmerzende Knochen, Impotenz, Beulen und später besagte Schwindsucht, da trocknete der Mensch allmählich ein, ein dürrer Strunk, bis schließlich ein Windstoß reichte, um den Stiel zu knicken. Dieses Ende ist jedoch so vielfältig, dass häufig niemand dieses leise Wegknicken bemerkt. In früheren Jahrhunderten – das ist wahr – gab es solche, die darauf aus waren, öffentlich zu sterben, nicht nur Russen, nein. Willig legte man den Kopf aufs Schafott oder steckte ihn in die Schlinge, damit es nur alle sahen! In Merkinė zum Beispiel. Dort gibt es einen Ort, wo das Sterbebett eines Königs zu besichtigen ist, direkt auf dem Platz gegenüber einer Kaschemme. Sollten alle sehen, wie die Großen dem Tod entgegensahen, so der letzte Wille des Mannes, der auch erfüllt wurde. Heute entschließt sich nur selten einer dazu, auch die Polizei würde es nicht erlauben. Sonst würden wir Betten dieser Art sicher auch auf Plätzen und bewegten Kreuzungen begegnen, obwohl meine Zeitgenossen Waggons, Zelte und durchsichtige Käfige bevorzugten. Sie erkrankten nicht an der Schwindsucht, wollten auch nicht öffentlich sterben, sie waren einfach Meister im Hungern. Vielleicht ist hier der Jude Franz Kafka ein wenig schuld, der einst seine Erzählung Der Hungerkünstler schrieb. Oder vielleicht auch nicht, erinnern wir uns an Franz von Assisi oder an einen, der noch schlimmer fastete, Bruder Klaus, ein Schweizer!

      Aber kehren wir zu unserem Thema und zu den Schwindsüchtigen zurück. Noch einmal begeben wir uns in jene famosen Zeiten, als diese Kranken noch hoch geehrt wurden, verhätschelt und verwöhnt, nicht nur mit Penizillin, auch mit reichlich Obst und Früchten. Ist es auch nicht leicht, die Kaste der Schwindsüchtigen mit wenigen Worten zu beschreiben, einige ihrer charakterlichen Besonderheiten sind sowohl Poeten, Priestern als auch von Tbc befallenen Proletariern eigen. Ein von dieser Krankheit befallener Mensch ist für gewöhnlich äußerst reizbar, nervös, er hasst soziale Ungleichheit. Auch ist er bereit, sich rasch zu verlieben, wenn diese Liebe nur ohne Erwiderung bleibt. Dann kann so einer sich wirklich unglücklich fühlen, bis zu den Ohren ins eigene Elend eintauchen. Andererseits ist ein so geartetes Wesen auch empfindlich für das Unglück seiner Mitmenschen. So ein ausgetrockneter Wurm kann sich aufopfern, um in einem Fluss einen Dickwanst vor dem Ertrinken zu retten, aus einem brennenden Haus eine Alte oder einen Invaliden hinauszutragen. Sind doch die Tage jener Moribunden ohnehin gezählt. Außerdem neigen diese Leute dazu, umgehend alle möglichen Fragen zu diskutieren: vom Klimawechsel über die Politik bis hin zur Menstruation der Mücken. Der von der Tbc Heimgesuchte war damals häufig auch eine politisch engagierte Person. Die eifrigsten Propagandisten und Agitatoren des Kommunismus rekrutierten sich aus ihren Reihen. Schwindsüchtige vernichteten die gefährlichsten Bunker der Waldbrüder[10]. Das Wissen, dass das Ende nahe war, inspirierte, es fiel dann leichter, Heldentaten zu vollbringen. Schon fiebernd, verfassten die Poeten ihre besten Gedichte, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass nach vielen Jahren, wenn der letzte Tbc-Bazillus ihre sterblichen Hüllen verlassen haben würde, gesunde und satte Literaturologen, ohne die geringsten Gewissensbisse, ihre Tragödien zu unsterblichen Traktaten verarbeiten und sich damit Ruhm erwerben würden.

      Auch das ist kein Geheimnis: Der fatale Bazillus stimulierte die Sexualität der auf diese Weise Verurteilten, der zugrunde gehende Organismus bündelte, in einem letzten Aufflackern, so viele Energien, dass er zuweilen wie eine Flamme loderte, und dann musste auch der größte Moralist und Puritaner eingestehen: Das kann man nicht verbieten! Und in der Tat, hier gibt es nichts zu verurteilen. Wo wenig Zeit bleibt, ist das Gefühl echt, heiß und schnell. Keine Zeit mehr, Intrigen zu spinnen, nach Herkunft und materieller Lage des Partners zu fragen, ästhetische Ansichten zu erkunden, noch weniger politische, obwohl es – klar – auch Ausnahmen gibt. Die Liebe der von der Schwindsucht Heimgesuchten ist rein, keusch und uneigennützig, eine Kompensation für alles Elend, das Gefühl schicksalhafter Verstrickung. Sie verstehen doch, dass die so genannten Gesunden sie nur beneiden, auch das tröstet. Man weiß, jede fatale Krankheit hat auch ihre Vorteile, zumindest bei uns. Diese naive und heuchlerische Gesellschaft, einige Spezialisten ausgenommen, schert sich überhaupt nicht, um ein Beispiel zu nennen, um das traurige Schicksal von Syphilitikern oder Alkoholikern, um ihr Elend, ihren Schmerz und ihren Selbsthass. Man ist fest davon überzeugt, dass alles nur Ausschweifung und Willenlosigkeit ist. Diese Unglücklichen werden ein wenig anders behandelt als die sich offen gebenden Schwindsüchtigen, nämlich mit Schadenfreude, kaum verhohlenem Hass und einem wohligen Seufzer, wenn so ein armer Kerl den