Mobile Röntgenstationen. Jurgis Kuncinas. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jurgis Kuncinas
Издательство: Bookwire
Серия: Literatur aus Litauen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783898968423
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hier die größte Schuld! – ein direkter Weg hin zum atomaren Schrecken. Unwichtig, dass es nicht gleich passierte. Unwichtig, dass der Mann das gar nicht gewollt hatte, alle sagen es. Unwichtig selbst, dass die Herren Erfinder anständige, ehrsame und gottesfürchtige Menschen waren. Vieles gibt es, was nicht mehr wichtig ist, selbst die Resultate, auf die seit Jahrhunderten zwei der dümmsten Kasten des Menschengeschlechts Zugriff haben: Militärs und Politiker. Dann kommen schon Geschäftsleute, Technologen, durchgedrehte Genies. Und erst danach die blinden Vollstrecker, auch sie sind Opfer. Und obwohl auch diese Reihenfolge völlig unwichtig ist – sie wird übrigens hartnäckig in Frage gestellt, und einige herausragende Persönlichkeiten werden unverdient in den Himmel gehoben! –, auf den Atom-Knopf drücken kann auch ein großer Humanist oder ein sentimentaler Akademiker, nichts ändert sich dadurch. Nein, vielleicht war schon der Blitzableiter zu viel. Gar nicht zu reden vom Wasserklosett. So sehe ich es vor mir: Einen Bauern, der auf offenem Feld kackt, erschlägt ein Ausfluss himmlischer Elektrizität, Amen. Man hätte sich mit dem Rad und dem Feuerstein begnügen sollen. Es wäre möglich gewesen, sich zu vermehren, Wege anzulegen ebenfalls. Du ratterst dahin, hältst an, entfachst ein Feuerchen, brätst dir einen Hirsch, bekreuzigst dich und ratterst wieder weiter und weiter. Mir reicht W. C. Röntgen. Es ist nicht an mir, ihn anzuklagen, das wäre allzu naiv. Jeder kluge Mensch würde, ohne die Stimme zu heben, erklären, wie viel Gutes er der Menschheit gebracht hat, uns Taugenichtsen, die wir in feuchten Kellerräumen vegetieren und billigen Tabak schmauchen, in Bergwerken, Fabriken, im Staub der Straßen husten, den Gestank von Asphalt und die Abgase von Autos einatmen. Er, Wilhelm Conrad, schaffte es, überraschend auch für ihn selbst, dass Begriffe wie Tuberkel, Kaverne, Schwindsucht unseren Ohren nicht mehr so düster und fatal klingen. Die Tuberkulose, einst eine schreckliche, fragiles Leben hinmähende Chimäre, wurde dank seiner Erfindung dramatischer, doch hoffnungsvoller Alltag. Zur Erinnerung: Ihr wirkliches Gesicht bekam die Schwindsucht erst, als sie sich im Röntgenogramm zu erkennen gab. 1896 entstand die erste Röntgenaufnahme: Die Heroen der Wissenschaft fotografierten damals ein totes Neugeborenes. Damit fing alles an! Und machen wir uns nichts vor, bis dahin hatte sich die zivilisierte Welt schön arrangiert mit der Schwindsucht und nicht mal den Versuch gemacht, ihr wirklich Paroli zu bieten. Das wäre doch albern gewesen. Wie viel frischen Wind trug sie unter das Dach der Künste! Giuseppe Verdi lässt sogar die reizende Violetta an Tuberkulose erkranken, die schön und traurig singt, dann noch mit Alfredo in Gesellschaft Champagner schlürft und liebend stirbt. Und Alfredo denkt nicht daran, sich mit einem Taschentuch oder einer sterilen Maske zu schützen. Zumindest auf der Bühne. Die Schwindsucht, das war die Schwester des Sensenmannes, die wahllos ihre Opfer niederstreckte, ohne sich um Titel, Verdienste, Rechtgläubigkeit oder Häresien zu scheren. Zu Zeiten Prinz Kazimirs gab es nicht so viel Rauch, Gase und hundert andere Übel der Jetztzeit, aber die Lungenseuche mähte auch ihn nieder. Und der lebte doch in einem Schloss, hatte zu essen und zu trinken und war vermutlich Nichtraucher. Poeten, Musikanten, Heerführer, hohe Adlige, Männer der Bildung und Wissenschaft – der Bazillus mochte sie alle gleichermaßen, richtete sich in ihren Körpern ein, entschlossen, nicht zu weichen, bis deren Besitzer ihren letzten Atemzug getan hatten. Damit die Schwindsucht nicht als Krankheit der Oberen erschien wie Podagra oder Migräne, befiel der Bazillus regelmäßig auch die unteren Schichten: Proletariat, Plebs, Handwerker, Bürger und Beamte. Einzig die Bauern schienen sich ihm zu entziehen, aber auch nicht alle. Andererseits: Wer wollte behaupten, dass zum Beispiel die Poeten ohne Ihre Majestät die Schwindsucht wären, was sie geworden sind? Jede Literaturgeschichte sollte den Tuberkulosekranken wenigstens einen stattlichen Band widmen. Den Litauern reichte eine solide wissenschaftliche Abhandlung. Die könnte man dann ausweiten und ergänzen. Ohne es selbst zu wollen, hat diese Krankheit Völker, Rassen und Klassen mehr vereint, als Naturkatastrophen oder auch Gleichheitslosungen es vermochten, sie war der beste Gleichmacher. Könnte sie selbst einige Worte über sich sagen, würde sie sicher verkünden: Ich bin eine, die hinterhältig ist und sich Zeit lässt. Ich bin eine Geißel, eine Unheilbringerin. Und eine Schande für euch, eine heilende Wunde. In der Epoche des Sozialismus – so etwas gab es! – wurde alles Elend, das die Tuberkulose brachte, mit dem größten Vergnügen dem faulenden und sterbenden Kapitalismus angelastet, klar, ein schöner Nährboden für Bazillen! Aber als sie sich auch in den Zeiten des reifen Sozialismus nicht verabschieden wollte, hörte man auf, laut über sie zu sprechen. Doch diese Krankheit ließ sich durch nichts beeindrucken und streckte unbekümmert weiter ihre langen Krallen aus. Ratlosigkeit breitete sich aus. Man konnte sie weder zum Tode verurteilen noch nach Sibirien verbannen, wo sie sicher an der Kälte krepiert wäre. Es war nicht möglich, sie raffiniert zu foltern oder einfach zu erschießen. So oft man auch anlegte, man schoss immer vorbei. Die Schwindsucht saß gleichsam nebenan, selbst in KGB-Zentralen und deren zahlreichen Filialen. Sie konnte man verhören bis zum Abwinken, auspeitschen, mit Schlaflosigkeit oder Hunger quälen. Alles umsonst! Man konnte ihr nicht einmal damit drohen, sie niemals ins Ausland zu lassen, diese Übeltäterin überschritt die Grenzen, wo und wann immer es ihr passte. Daher ehrten die Sowjets Röntgen, wenn auch mit einem Stirnrunzeln. Doch offiziell galt die Schwindsucht weiterhin als ein Erbe des Kapitalismus, genau wie Syphilis, Diphtherie, Messerstechereien, Opportunismus, Darmverstopfung und eine Menge anderer Unbill, die geeignet war, den Volkszorn zu mobilisieren. Liebend gern hätte man auch die Trunksucht dazugezählt, es sogar versucht, bis man es schließlich aufgab: Lassen wir das. Obwohl die Medizin jener Zeit auch verkündete, dass Branntwein die Tuberkulose kaum heile, das Gegenteil sei der Fall. Es war auch wirklich zum Verzweifeln: Der Faschismus war zerschlagen, die Überreste der Bourgeoisie im Lande beseitigt, und diese Krankheit ging noch immer ihrer schwarzen Arbeit nach. Und Blut hustete selbst der eine oder andere Parteisekretär. Dabei war es niemandem angenehm zu sehen, wenn ein Bestarbeiter, der eben noch eine feurige Rede gehalten hatte, auf einmal ein Taschentuch auseinander faltete und leise – andere hörten es umso mehr! – hineinhustete und Blut spuckte. Der wird’s nicht mehr lange machen, flüsterte man dann im Publikum. Geschlechtskranke, Homosexuelle und andere raffinierte Perverse überwand die Sowjetmacht auf einfache Weise, man steckte sie in Lager, isolierte sie von der geschlechtslosen Gesellschaft, schwang die Peitsche der Satire. Schwindsüchtige, klar, hätte man auch hinter Gitter bringen können, auf dass sie nicht husteten und Blut spuckten, wo es sich nicht ziemte. Aber das schien wenig sinnvoll, weil auch Parteimitglieder an Tbc erkrankten. Die Strategen des Kommunismus waren zum Umdenken gezwungen. Sie trieben nun diese Patienten in Prophylaktorien, diverse Institute, Spezialkliniken und Sanatorien, man verabreichte ihnen fettreichere Kost. Nach und nach verwandelte sich der sowjetische Schwindsüchtige geradezu in einen Privilegierten. Die Krankheit, so hörte man, habe er aus der Vergangenheit mitgebracht oder sich sogar als Folge des Kampfes mit dem Weltimperialismus zugezogen. Mochte er es sich also in seinen letzten Tagen gut gehen lassen, an der See oder sonst in einem Kiefernwald, mochte er den Pazifisten Remarque lesen oder besser noch Čechov, der im zaristischen Jalta Dienst tat, einem wahren Schwindsüchtigenparadies. Die Welt sah, die Sowjets standen dieser Krankheit nicht gleichgültig gegenüber. Sie taten, was in ihren Kräften stand, man konnte ihnen keine Vorwürfe machen. Währenddessen waren die Schwindsüchtigen selbst dabei, sich mit ihrem Unglück zu arrangieren. Sie erfreuten sich an kleinen Privilegien, indem sie sich etwa, ein wenig zu Kräften gekommen, nicht mehr mit Schnaps therapierten, sondern mit Kognak. Und nicht mehr Machorka rauchten, sondern Kazbek oder sogar Hercogovina-Flor, wie Väterchen Stalin. Abgelegene Sanatorien richteten für die hoffnungslosen Fälle komfortable kleine Häuser ein, wo die Moribunden, bevor sie ihre Reise ins Nichts antraten (der Himmel war verboten), es noch schafften, sich Schallplatten anzuhören, Akkordeonmusik zu lauschen, berauschende alkoholische Getränke zu verköstigen, um danach, die letzten Kräfte mobilisierend, mit einer Schicksalspartnerin ins Bett zu steigen.

      Der Fortschritt auf diesem Gebiet war übrigens so augenscheinlich, dass bereits 1947 med. Felčeris[6] Zigmantas Strazdas unschwer eine Dissertation verteidigte mit dem Thema: Der Einfluss der Sowjetmacht und ihr Sieg im Kampf mit Tbc. Nachdem er seinen Doktortitel in der Tasche hatte, wurde ihm auch erlaubt, seinen Nachnamen zu ändern, seit 1948 wurde er schon überall Z. Erelis[7] genannt. Dieser Name findet sich, in eine Granitplatte eingemeißelt, auf dem Friedhof von Petrašiūnai, gestaltet in der unregelmäßigen Form eines rechten Lungenflügels. Die Schwindsucht mähte Erelis im Jahre 1950 nieder. Er starb im Herbst, einer heiteren Jahreszeit für alle von der Tuberkulose Geplagten, und wurde neben einem