„Und tot bis du …“, zitierte eine belustigte Stimme einen bekannten Reim. Überall auf dem Gelände wurde das Licht eingeschaltet. „Übung nicht bestanden“, konstatierte die Stimme hinter der Pistole nüchtern. „Noch einmal von vorne.“
Orest warf seine Paintball M 16 in den Schnee und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
„Und waschen Sie sich um Gottes willen, Mann“, fügte sein Ausbilder hinzu. „Sie stinken, als seien Sie in eine Jauchegrube gefallen.“
Kapitel 6
Der alte Mann war sorgfältig gekleidet. Alles an ihm war unauffällig und nur wer einen zweiten Blick wagte, bemerkte, dass der Mantel aus bestem britischen Tweed und die Schuhe maßgefertigte Rahmenschuhe waren. Das Besondere an der Kleidung war, dass sämtliche Hinweise auf ihre Herkunft sorgfältig aus dem Innenfutter herausgetrennt waren. Ebenso verhielt es sich mit den Koffern, der rindsledernen Aktentasche und der edlen Handaufzuguhr aus deutscher Manufaktur.
In der Aktentasche befanden sich sämtliche Ausweispapiere, die ein Reisender brauchte und eine Auswahl von Bonus- und Kreditkarten, die ein unabhängiges Leben ermöglichte. Karten und Ausweise lauteten auf den Namen Hans Rudy. Es waren exzellente Fälschungen, die man nicht auf der Straße kaufen konnte. Hans Rudy war in Montevideo beerdigt, nachdem er als Auswanderer in seinem Gastland ein erhebliches Vermögen mit deutschen Backwaren gemacht hatte. Deutsches Handwerk war im Südamerika der späten vierziger Jahre geschätzt. Viele Volksdeutsche, die eine Entnazifizierung wegen ihrer Verstrickungen in das nationalsozialistische System nicht unbeschadet überstanden hätten, galten als wertvolle Zuträger für die Alliierten, die nichts mehr fürchteten, als einen Einbruch der stalinistischen Horden in die westliche Hemisphäre. Die Verfolgung von Kriegsverbrechern in Kreisen außerhalb der Galionsfiguren des Dritten Reiches, die in den Nürnberger Prozessen vor Gericht standen, hatte keine Priorität. Wer wollte, konnte sich mit einer neuen Identität in Südamerika und den USA ein neues Leben einrichten. Der Preis, den man zu zahlen hatte, war der Verlust einer zerbombten Heimat und die unbedingte Loyalität zu den neuen Verbündeten.
Hans Rudy war nur zu bereit, diesen Preis zu zahlen. Er war im Dritten Reich mit Sonderaufgaben betraut gewesen. Als Kunsthistoriker und Kurator mehrerer Museen in den besetzten Gebieten des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren bestand seine Aufgabe darin, Kunstwerke aller Art zu requirieren, zu katalogisieren und ihren Wert zu schätzen. Rudy war kein glühender Nationalsozialist, sondern ein opportunistischer Emporkömmling, der sich in der trüben Suppe nationaler Aufwallung nach oben treiben ließ. Als man ihn mit der Aufgabe der ,Bergung und Sicherung von Kunstschätzen für das Deutsche Reich‘ betraute, wehrte er sich nicht dagegen. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, seine Arbeit als Kunstraub und ungerechtfertigte Enteignung anzusehen. Er handelte auf Anordnung, die wiederum auf Gesetzen beruhte, den Gesetzen der neuen Zeit, die die ganze Welt zu überrollen drohten. So kam es, dass Kunstgegenstände im Wert von Milliarden durch die Hände eines Mitläufers des Regimes ohne militärischen Rang gingen. Es war ein risikoloses und einträgliches Geschäft. Manchmal musste Gewalt angewendet werden, aber das taten andere, die dafür besser ausgebildet waren als Hans Rudy.
Später, als zwei Fronten auf das Deutsche Reich zurasten und das Ende absehbar war, übernahm Rudy auch die Beschaffung von Devisen über verschwiegene Kanäle im arabischen Raum. Immer häufiger wurden die Kunstschätze in Eisenbahnwaggons aus den neuen Kriegszonen gebracht und in Bergwerken und Stollen versteckt.
Rudy war einer der Ersten gewesen, der sich bei den Alliierten meldete und seine Dienste anbot. Er konnte genaue Listen und Fundorte vorweisen. Außerdem hatte er sich notiert, welche Familien, Banken und Geschäfte enteignet worden waren. Er wollte keine Bezahlung für seine Arbeit, die General Brolin vom alliierten Oberkommando als ,Restitution‘, bezeichnete. Er wollte lediglich für seine Arbeit eine Provision, die sich vom Wert der wiederbeschafften Kunst ableitete. Rudy bat auch darum, man möge seine Akten, die im Reichssicherungshauptamt in Berlin lagerten, vernichten und ihn als ,minderschwer belastet‘ einstufen, damit er seiner Arbeit als Kunsthändler nachgehen konnte. Dass er über Jahre von der Kostenstelle ,Beschaffung‘ des Dritten Reiches große Geldbeträge als Provision für die Requirierung der Kunstschätze erhalten hatte, verschwieg Rudy.
Als seine Dienste nach drei Jahren nicht mehr benötigt wurden, konnte Hans Rudy als reicher Mann nach Südamerika ausreisen. Dank seines Vermögens, das von einer UBS-Filiale in Genf verwaltet wurde, baute Rudy mehrere Großbäckereien auf, die bestens florierten. Er hielt den Kontakt zu den alten Kameraden über ein engmaschiges Ehemaligen-Netzwerk, bis er betagt in Montevideo im Kreis seiner Großfamilie starb.
Jetzt war Rudy nach Genf zurückgekehrt. Ein anderer Mann war in seine Identität geschlüpft. Ein Mann mit besten Verbindungen und einem erlesenen Geschmack. Unterhalb des ,Le Richemond‘ mit seinem diskreten Charme und dem zurückhaltend exklusiven Interieur in Gold, Creme und Karmesinrot funkelte die Südwestspitze des Genfer Sees, einer riesigen Sichel aus Wasser, die mehrere Schweizer Kantone mit Frankreich verband. Genf war anders als das geschäftige Lausanne am Nordufer des Sees, eine Enklave der schönen Künste, ein Rückzugsbereich für altes Geld und royales Understatement. Die alteingesessenen Manufakturen hochfeiner Chronometer, die Tuchmacher und Juweliere, die ihre Tradition unerschütterlich fortschrieben, auch wenn die Welt um sie herum in Krieg und Chaos versank, präsentierten ihr Angebot für die solvente Kundschaft in pittoresken Gebäuden mit bunten Läden und restauriertem Mauerwerk, das noch keine Zerstörung erlebt hatte. Es war die Zeit der großen Segelregatta Bol d’Or, die besonders zahlungskräftiges Publikum in die Stadt schwemmte. Hotelzimmer waren rar und kaum bezahlbar. Für Hans Rudy hielt das ,Richemond‘ stets eine Suite reserviert. Er war ein gern gesehener Gast.
Der alte Mann wirkte erschöpft. Er hatte keinen Blick für die sattblaue Weite des Sees, die getrimmte Gartenanlage des Hotels oder die exquisite Einrichtung seiner Suite. Fahrig sah er sich um und erkundigte sich nach seinen Koffern. Der Concierge nahm die weiteren Wünsche des Gastes diensteifrig zur Kenntnis. Er verzog keine Miene. Das Trinkgeld würde entsprechend ausfallen.
Der alte Mann machte sich nicht die Mühe zu überprüfen, ob die Suite verwanzt war. Er wusste, dass ein Expertenteam wenige Stunden vor seiner Ankunft die Räume gescannt hatte. Noch einmal ging er die Fakten in Gedanken durch. Alles hing davon ab, dass er überzeugend war. Die ersten Kopfschmerzen kündigten sich mit einem Ziehen im Nacken an. Die abhörsichere Anlage war genau in den Metallkoffer eingepasst. Er trug ihn nie bei sich, sondern ließ ihn von einem zuverlässigen Versender befördern, der keine Fragen stellte. Der elektronische Passworttresor in Form eines rechteckigen Kästchens verwaltete eine schier endlose Reihe an Ziffernfolgen. Der alte Mann drückte auf das Display, das rund um die gewählten Ziffern grün aufleuchtete. Die Telefonanlage im Koffer startete einen Selbstwählmechanismus. Ein Freizeichen ertönte. Als weitere Sicherheitsmaßnahme würde ein Scrambler die Stimmen der Telefonierenden für Dritte unverständlich machen.
„Ja“, sagte die Stimme in englischer Sprache. Die Verbindung war zustande gekommen. Der Puls des alten Mannes beschleunigte sich. Er hatte die Stimme sofort wiedererkannt, nach so vielen Jahren wiedererkannt. Bilder drohten seinen Kopf zu fluten. Mit eiserner Disziplin zwang er sich zur Ruhe. Langsam begann er zu sprechen.
„Bayard sighed with exasperation but maintained a fragile hold on his temper. A difficult discussion followed during which Bayard was slowly forced to accept that it was Pastor Knoedler who was in overall charge of the service and not he.“
Der Beginn des letzten Absatzes von Seite 195 des Romanes von Reggie Oliver ,Virtue in Danger‘ in der Ausgabe der Ex Occidente Press.
Ohne zu zögern nahm die Stimme am Telefon die zitierte Stelle auf und führte sie weiter. Die Stimme war tief und mit einem kaum merklichen Akzent behaftet.
Nach einem Moment des Schweigens nahm der alte Mann das Gespräch wieder auf. „Juri“, sagte er. Seine Stimme wurde weicher. „Juri, mein Lieber. Es wird Zeit“. Dann brach das Gespräch ab.
In den Abendstunden klingelte der Concierge bei dem hoch geschätzten Monsieur Rudy an, um den Besuch anzukündigen. Das Hotel hatte sich genau an die Vorgaben gehalten. Die Dame war hochgewachsen