Berlin atomar. Katja Roeckner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katja Roeckner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783864081309
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und Du siehst das Morgen / den hohen, hellen Schornstein, der nicht raucht,“ dichtete eine „werktätige Lyrikerin“ dort.5 Ende der 1950er-Jahre verabschiedete die DDR eine „Perspektivplanung Kernenergie“, die vorsah, bis 1970 den steigenden Energiebedarf komplett aus Kernenergie zu decken. Bis 1975 sollten 15 Atomkraftwerke in Betrieb sein.6

      Von diesen erhofften Segnungen, die sich im Laufe der Jahrzehnte sämtlich als Illusionen erwiesen, wollte auch die Bundesrepublik natürlich profitieren. Für sie begann das Atomzeitalter allerdings verspätet: Erst mit der vollen Souveränität 1955 waren Forschung und Entwicklung in angewandter Kernphysik hierzulande wieder freigegeben. Zuvor war sie von den West-Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich unter scharfe Restriktionen gestellt worden. Während insbesondere die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion schon ein Jahrzehnt Vorsprung hatten, stieg die Bundesrepublik also erst zehn Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation 1945 in die neue Technologie ein. Ein erster Schritt waren der Aufbau von Institutionen, die die Atomtechnik vorantreiben sollten, und der Aufbau von Zentren mit Forschungsreaktoren.

      Letzteres förderten die Amerikaner durch ihr „Atoms for Peace“ (Atome für den Frieden)-Programm. „Die Vereinigten Staaten wissen, dass es kein Zukunftstraum mehr ist, aus der Atomenergie Kräfte für friedliche Zwecke zu gewinnen. Die erwiesene Möglichkeit dazu besteht jetzt – hier – heute“, hatte Präsident Eisenhower am 8. Dezember 1953 mit einer Rede vor den Vereinten Nationen (im Anhang) das Programm begründet.7 Die USA wollten bei ihren Verbündeten den Einstieg in die zivile Atomenergienutzung fördern, insbesondere durch die Lieferung von Forschungsreaktoren inklusive Brennmaterial. Zudem regte Eisenhower die Gründung der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) an. Der kurz nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki 1945 weit verbreiteten Angst vor Atomwaffen und nuklearer Aufrüstung zwischen Ost und West wollte die amerikanische Regierung so ein positives Image der friedlichen, Fortschritt und Wohlstand bringenden Atomkraft entgegensetzen.8 Tatsächlich schlossen die USA in der Folge mit zahlreichen Ländern Verträge über die Lieferung von Brennmaterial für Forschungszwecke ab. In der Bundesrepublik machte der Forschungsreaktor in München-Garching am 31.10.1957 den Anfang, Frankfurt am Main folgte im Januar 1958, der Berliner Forschungsreaktor war schließlich im Juli 1958 der dritte.9

      Als weltweit erstes kommerziell genutztes Kernkraftwerk gilt der gasgekühlte Reaktor in Calder Hall in England. Er war von 1956 bis 2003 in Betrieb. Mindestens so wichtig wie die Stromgewinnung war in diesem Fall auch die Gewinnung von Plutonium für die britische Atombombe. Calder Hall liegt auf dem Sellafield-Gelände, das immer wieder für Skandale sorgte: Hier kam es 1957 durch den Brand eines allein der Plutoniumproduktion dienenden Reaktors zu einem schweren Atomunfall mit dem Austritt großer Mengen von Radioaktivität. Außerdem war die zu Sellafield gehörende Wiederaufbereitungsanlage wegen der Verklappung radioaktiver Abfälle in das Meer immer wieder in der Kritik. Ursprünglich hieß das Gelände Windscale und wurde erst nach den Unfällen in Sellafield umbenannt.

      In der Bundesrepublik war das Atomkraftwerk Gundremmingen in Bayrisch-Schwaben der erste kommerzielle Nuklearstromproduzent. Der Siedewasserreaktor ging nach vierjähriger Bauzeit im November 1966 mit einer Leistung von 237 Megawatt ans Netz. Die Stromkonzerne RWE und Bayernwerk ließen sich ihren Reaktor vom Staat geradezu vergolden: Von 300 Millionen Mark Baukosten zahlten sie nur ein Drittel. Die zivile Nutzung der Atomenergie war von Anfang an ein gigantisches Subventionsgrab. Nach einer für die Umweltorganisation Greenpeace erstellten Studie flossen von den 1950er-Jahren bis 2008 insgesamt 165 Milliarden Euro Subventionen für Entwicklung, Bau und Betrieb von kerntechnischen Anlagen in der Bundesrepublik.10

      Mit der Atomstromnutzung war die DDR wenige Monate schneller gewesen. Im Mai 1966 wurde dort im brandenburgischen Rheinsberg, 70 Kilometer nördlich von Berlin, das erste Kernkraftwerk in Betrieb genommen. DDR-Minister Alfred Neumann sagte bei der feierlichen Eröffnung, die „ehemals rückständige märkische Streusandbüchse“, in der noch vor kurzem „tiefste Reaktion“ geherrscht habe, sei nun mit einem „Wahrzeichen modernster sozialistischer Technik“ ausgestattet worden.10a Das Kraftwerk war mit einem Druckwasserreaktor sowjetischer Bauart vom Typ WWER-210 ausgestattet und hatte eine Leistung von nur 70 Megawatt. Die Experten in der Errichtungsphase kamen direkt von der Baustelle im russischen Nowo-Woronesch, wo parallel das erste sowjetische Kernkraftwerk dieses Typs entstand.11

      In den 1950er-Jahren wurden in der Bundesrepublik zudem auch verschiedene Institutionen zur Förderung der Atomtechnik gegründet, allen voran das Bundesministerium für Atomfragen. Seit Oktober 1955 sollte es die „friedliche Nutzung der Atomtechnik vorantreiben“. Der spätere Bundesverteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) wurde erster Bundesatomminister. Die Gründung war wohl eher Ausdruck der damaligen Atomeuphorie, beflügelt durch die Genfer Konferenz, als der Notwendigkeit geschuldet, zahlreiche Atomvorhaben des Bundes zu verwalten: Die gab es damals, wie soeben beschrieben, schlicht noch nicht. Erst in den 1960-er und 1970er-Jahren wurde die Planung und der Bau von Atomkraftwerken mit Milliardensummen staatlich subventioniert. So entschieden Strauß später als Bundesverteidigungsminister die atomare Bewaffnung der Bundeswehr betrieb, so zurückhaltend war er als Bundesatomminister in der Förderung von kommerziellen Atomkraftwerken. Er sah in Forschung und Ausbildung von Fachkräften die erste Priorität. Als Atomminister folgte ihm Siegfried Balke (CSU), der das Ministerium bis 1962 leitete. Balke war Chemiker, hatte lange für Chemiefirmen gearbeitet und war sehr viel mehr an der zivilen, auch industriellen Nutzung der Atomkraft interessiert als sein Vorgänger. Allerdings beklagte er seinen geringen Einfluss in der Regierung Adenauer: Der damalige Bundeskanzler habe mit ihm in seiner vierjährigen Amtszeit nicht ein einziges Mal seine Ressortangelegenheiten besprochen. So wurde das Ressort nach Balkes Ausscheiden auch zum Wissenschaftsministerium umgewidmet, damals firmierte es zunächst als „Bundesministerium für wissenschaftliche Forschung“.12

      Durchaus einflussreich war auch die ebenfalls 1955 gegründete „Deutsche Atomkommission“. Sie beriet das Bundesatomministerium. Besonders stark vertreten war darin die Privatwirtschaft mit 13 Mitgliedern. Wissenschaftliche Institutionen entsandten acht Vertreter, die Energiewirtschaft zwei und die Gewerkschaften einen. Gemeinsame Entscheidungen waren in diesem Gremium meist schwierig zu erzielen, da die Interessen zu verschieden waren und ausgleichende Kräfte fehlten. Die milliardenschwere Subventionierung des Baus von Kernkraftwerken initiierte die Atomkommission immerhin. Jedoch büßte sie im Laufe der 1960er-Jahre immer mehr an Einfluss ein, 1971 wurde sie aufgelöst.13

      Heute ist Kernenergie stark mit der Protestbewegung dagegen verbunden, der Anti-Atombewegung. Die gab es in den 1950er und 1960er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts so nicht. Es gab allerdings 1957/58 eine sehr große Bewegung gegen Atomwaffen und insbesondere gegen die atomare Bewaffnung der soeben gegründeten Bundeswehr. Diese Bewegung „Kampf dem Atomtod“ wurde wesentlich getragen von SPD, Gewerkschaften und Kirchen und mobilisierte Hunderttausende von Menschen zu Protestmärschen und Kundgebungen. Sie gilt als eine der größten sozialen Bewegungen der frühen Bundesrepublik. Als sie ihr vorrangiges Ziel, die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen zu verhindern, erreichte, löste sie sich 1958 in der ursprünglichen Form auf, SPD und Gewerkschaften zogen sich aus ihr zurück. Ulrike Meinhof, die spätere RAF-Terroristin, erlebte in dieser Bewegung noch als Studentin in Münster einen wichtigen Teil ihrer politischen Sozialisierung.

      Proteste gegen die Entsorgung von Atommüll, wie sie heute seit vielen Jahren bei jedem Castor-Transport mit abgebrannten Brennelementen in die Zwischenlager Ahaus, Greifswald und Gorleben massiv und militant aufflammen, gab es erst seit Ende der 1970er-Jahre. 1977 traf der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU) eine folgenreiche Standortentscheidung für ein Endlager – den Salzstock Gorleben. Bis heute ist es nicht in Betrieb. Dass Atomkraftwerke überhaupt ein Entsorgungsproblem haben würden, sahen in den 1950er und 1960er-Jahren nur sehr wenige Experten. Der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker sagte noch 1969 bei einem Besuch im Kernforschungszentrum Karlsruhe, dass der gesamte Atommüll des Jahres 2000 „in einen Kasten“ passe. Wenn man den „gut versiegelt, verschließt und in ein Bergwerk steckt, dann wird man hoffen können, daß man das Problem gelöst hat“.14

       Berliner Besonderheiten