Das Haus, in dem Sam seine gesamte Kindheit verbracht hatte, stand nicht weit entfernt, und manchmal machte er sich zu Fuß auf den Weg, um seinen Kleiderschrank aufzustocken oder die alten Fotoalben durchzublättern. In letzter Zeit ging er jedoch immer seltener; er hatte gelernt, dass es nichts änderte.
»Wie ist es draußen so?«, wollte Felix wissen und sah Sam dabei kaum an.
Er war es gewohnt – und eigentlich war es ihm auch ganz recht –, dass die Menschen normalerweise Nikki ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten.
»Ruhig. Zombies hin und wieder«, antwortete sie und zuckte gelangweilt mit den Schultern.
Viel mehr gab es eigentlich auch nicht zu sagen. Die Welt gehörte nun den Toten, und das hatte sie sehr still gemacht. Keine Geräusche mehr von der Autobahn, keine Radios, die durch offene Fenster nach draußen plärrten, keine Gespräche, keine Unterhaltungen und kein Gelächter mehr; nur noch Hunger.
»Ich war schon lange nicht mehr draußen«, bemerkte Felix und strich sich nachdenklich durch den Bart. »Früher schon, aber seit alle damit angefangen haben, ist es einfach nicht mehr dasselbe.«
»Sicher«, sagte Nikki trocken und nickte zur Leiter hinüber, die aussah wie billig im Baumarkt erworben. Vermutlich hatte sie vor der Apokalypse ein trauriges Dasein in irgendeiner Garage gefristet und war erst jetzt ihrer eigentlichen Bestimmung zugeführt worden. Nun bildete sie den einzigen Aufstieg zu der Brüstung, die die gesamte Vorderseite ihres Lagers umspannte.
»Sollte da oben nicht jemand Wache halten?«
»Ja, klar, schon«, erwiderte Felix lapidar. »Ist aber doch eh nie was los da draußen.«
Er trug ein kurzärmeliges Hemd, das trotz der heraufziehenden Wärme bis oben hin zugeknöpft war. Bald würde der Sommer erneut die Straßen erobern, und die Hitze würde den Asphalt zum Glühen und die toten Körper zum Verwesen bringen. Sam erinnerte sich noch an das letzte Jahr. Der Gestank war unerträglich geworden, und die Fliegen hatten das vergiftete Fleisch umschwirrt wie an einem warmen Grillabend.
Erst als Sam von Nikki am Arm gepackt und in Richtung der Häuser fortgezogen wurde, kletterte die Wache auf ihren Posten zurück. Vielleicht hätte Sam beunruhigt sein sollen, aber im Laufe dieser zwei Jahre war die ständige Furcht allmählich abgeklungen. Was zu Beginn noch schrille Panik in ihnen ausgelöst hatte, war bald schon zur Routine geworden, gemischt mit der Trauer um das, was einmal gewesen war.
»Ist der Typ eigentlich zu fassen?«, fragte Nikki mit einem genervten Schnauben.
Die meisten Menschen schienen ihr auf die Nerven zu gehen – ob tot oder lebendig.
»Du musst das verstehen«, warf Sam beschwichtigend ein. »Für ihn ging die Welt unter, als der letzte Starbucks schloss.«
Nikki brach in klirrendes Gelächter aus. Ihr Lachen war hoch und vielleicht ein klein wenig unangenehm wie zerbrechendes Glas. Und es war vermutlich der einzige Grund, warum sie sich überhaupt mit Sam abgab. Mit Sicherheit hätte sie coolere und auch nützlichere Freunde finden können, aber nach all dieser Zeit war er der Einzige, der sie noch zum Lachen brachte.
Nebeneinander schritten sie auf eines der Gemeinschaftshäuser zu. Obwohl sie fleißig Solarzellen von Häuserdächern montiert und an Generatoren herumgewerkelt hatten, reichte der selbst produzierte Strom nicht annähernd aus, um die gesamte Nachbarschaft zu versorgen. Ein paar leidenschaftliche Heimtechniker und ein pensionierter Elektriker hatten es jedoch geschafft, drei der Häuser an ein Stromnetzwerk anzuschließen, das diese auf dem Stand der Technik hielt. Der Strom wurde sorgfältig eingeteilt für Kühlmittel, gekochte Lebensmittel und einen gelegentlichen Wäschedurchlauf. Hin und wieder auch für das Aufladen eines einzelnen Handys, obwohl das hier niemand gerne sah.
Die Gemeinschaftshäuser standen allen offen und wurden nicht als Privatwohnungen der Überlebenden genutzt. Das größte von ihnen war mit hellem Klinker verputzt worden und hatte schon vor ihren Umbaumaßnahmen Solarzellen auf dem Dach gehabt.
Auf dem Weg zur grauen Haustür kamen sie an einem zerbeulten Van vorbei, der in der Auffahrt stand. Der Lack mochte einmal weiß gewesen sein, doch nun war er verschmiert mit Blut und Zombie. Die getrockneten Körperflüssigkeiten hatten ein unangenehmes Braun angenommen und bildeten ein makabres Logo der Moderne auf der Seite des Wagens. Sam hatte das Fahrzeug noch nie hier gesehen; daran hätte er sich mit Bestimmtheit erinnert. Der Van sah aus wie der Albtraum eines jeden Autos mit einer TÜV-Plakette. Er fragte sich, ob neue Flüchtlinge zu ihnen gestoßen waren.
Wie immer regte sich bei dem Gedanken der leise, verräterische Funken Hoffnung in seinem Innern, aber nach zwei Jahren hatte er gelernt, ihn geübt sofort wieder zu ersticken. Niemand, den er kannte, hatte jemals einen solchen Van gefahren.
Er stieß die Haustür auf und ließ Nikki den Vortritt. Im Eingangsbereich verteilt lagen diverse Gartengeräte – darunter eine ziemlich zerbeulte Heckenschere – und ein Schwert, das Sams Wissen nach früher bloß auf Mittelaltermärkten zum Einsatz gekommen war.
Inzwischen gehörte es zum guten Ton, seine Waffen abzulegen, wenn man ein Haus betrat, zumindest in geschützten Zonen. Die Schuhe konnte man anbehalten; so konnte man wenigstens schnell wegrennen, wenn man schon unbewaffnet war. Streitigkeiten um Nahrungsmittel und Werkzeuge hatten dazu geführt, dass es dieser kleinen Gesten des guten Willens bedurfte, um den Frieden dauerhaft zu wahren.
Sam lehnte seinen Spaten an die Wand des Flurs und betrat das Wohnzimmer. Die Couch und sogar der nutzlos gewordene Fernseher standen noch an Ort und Stelle, nur die gerahmten Familienfotos hatte inzwischen jemand beiseitegeschafft. Sam erinnert sich vage an eine brünette Frau, die auf allen Bildern lächelte, und an ein junges Mädchen mit einer Zahnlücke. Er war froh, dass die Fotos fort waren.
»Hast du das Handy?«, wollte Nikki nach einem kurzen Gruß in den Raum wissen.
Vier andere Personen hielten sich derzeit im Zimmer auf; die Gemeinschaftshäuser waren so etwas wie der soziale Treffpunkt für die Lebenden. Hier hielt man das Kaffeekränzchen ab, auch wenn Kaffee mittlerweile knapp geworden war.
Zwei Frauen unterhielten sich am Fenster, ein Mann blätterte in einer Zeitschrift, die schon seit zwei Jahren nicht mehr aktuell war, und ein weiterer schraubte an irgendetwas herum, dem Sam keine nähere Beachtung schenkte.
Im Lager hatten sie sich zu einer Zweckgemeinschaft zusammengefunden, aber engen Kontakt hatte er nur zu Nikki geknüpft. Man brauchte irgendjemanden, vermutete er.
Er zog das Handy aus der Hosentasche, in der er es verstaut hatte, und ging zu der kleinen Anrichte direkt neben einer der Steckdosen, wo er das Ladekabel aufbewahrte. Er schloss das Smartphone ans Stromnetzwerk an. Schon nach ein paar Sekunden vibrierte es sanft in seiner Hand und der Bildschirm leuchtete auf. Der Hintergrund war in neutralem Blau gehalten. Es wäre ihm falsch vorgekommen, ein Foto aus glücklicheren Zeiten zu verwenden, wenn es inzwischen nur noch Untote zu fotografieren gab.
Er kniete auf dem Boden, und neben ihm hatte Nikki sich in einem eleganten Schneidersitz niedergelassen. Sie wirkte ruhig und gelassen, aber er konnte die leichte Anspannung in ihren Schultern sehen. Selbst in der Sicherheit des Lagers war ihr Körper in ständiger Bereitschaft, augenblicklich die Flucht anzutreten. Sam selbst konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal richtig locker gewesen war. Eine ausgiebige Massage stand bei ihm auf Platz zwei seiner derzeitigen Wunschliste.
Gemeinsam beobachteten sie, wie sein Daumen den Code eingab und das Netzwerk auswählte. Natürlich war alles um sie her nach und nach zusammengebrochen, das Internet genauso wie