Im Lager wirkte sie nie so glücklich wie auf offener Straße, und manchmal sorgte Sam sich deshalb. Ihm machte es nicht viel aus, eingesperrt zu sein. Auch vor den Zombies hatte er die Wohnung nicht öfter als nötig verlassen, aber er konnte erkennen, dass viele der anderen Überlebenden seine Einstellung nicht teilten. Wie Nikki wurden sie leichtfertig und etwas zu risikofreudig, aus dem Drang heraus, sich zu bewegen und frei zu sein. Für Sam ähnelte das schon fast einer Art Todessehnsucht, aber er hütete sich, das Thema anzuschneiden.
»In dem Kurs haben sie euch bestimmt nicht beigebracht, eine Axt zu verwenden«, stellte er trocken fest, während sie zu ihm aufschloss.
Gelassen zuckte Nikki mit den Schultern. Wie immer schien sie sich seine Worte nicht allzu sehr zu Herzen zu nehmen.
»Und was machen wir jetzt?«, wollte sie stattdessen wissen.
Sam blickte auf das Smartphone, das er immer noch in der Hand hielt. Der Bildschirm blieb schwarz, obwohl das Plastik in seiner Hand sich sehr warm anfühlte.
»Wir sollten zurück zum Lager, Fotos können wir heute eh keine mehr schießen.«
Scheinbar resigniert seufzte Nikki auf.
»Schon? Und ich dachte wir wären hier, um Spaß zu haben.«
Je näher sie dem Lager kamen, desto gepflegter wirkte die Gegend. Weniger Schutt lag umher, und sämtliche Häuser sahen aus, als hätten ihre Bewohner sich nur auf einen längeren Urlaub begeben.
Natürlich hatte es militärische Maßnahmen gegeben, als die Seuche ausbrach, doch konzentrierten sich diese vornehmlich auf das Landesinnere. Explosionen und Zerstörung hatten Häuser niedergerissen und im Kampf gegen die Zombies auch viele Möglichkeiten, sich zu verbarrikadieren, vernichtet.
Die Landesgrenzen hingegen waren schnell gesichert worden, damit das Virus sich nicht hinüberschlich und die ganze Welt bald nur noch in die Zukunft torkelte, statt voranzuschreiten. Die benachbarten Nationen hatten ein erstaunliches Engagement entwickelt, als es darum ging, die eigene nationale Sicherheit zu schützen, und Deutschland hatte es nicht gewagt, mögliche Unterstützung durch einen kleinen Querschläger im Eifer des Gefechts zu gefährden. Doch Unterstützung war nie gekommen; stattdessen hatten die anderen Länder sich offenbar zurückgelehnt und das Spektakel begutachtet. Viel zu lange war Deutschland davon ausgegangen, dass man die Lage wieder unter Kontrolle bekommen würde. Es war keine Katastrophe; es war bloß so etwas wie die Vogelgrippe, und solange man sich regelmäßig die Hände wusch und ausschließlich in die Armbeuge nieste, würde alles bald wieder vorbei sein. Nun, schnell vorbei gewesen war es tatsächlich.
Die meisten Leute waren so sehr überrascht worden, dass sie es nicht einmal geschafft hatten, die kopflose Flucht in irgendeine Richtung anzutreten.
Sams eigene Eltern waren losgefahren, um die Einkäufe fürs anstehende Wochenende zu erledigen, und einfach nicht mehr nach Hause gekommen. Oft fragte er sich, ob er nach ihnen hätte suchen sollen, doch ihm war ebenso klar, dass nicht seine Feigheit die Schuld daran trug, dass er sie verloren hatte. In dem plötzlich ausartenden Chaos hätte er sie so oder so nicht wiedergefunden. Dass er nicht ebenfalls zerfleischt worden war, während er seiner Mutter dabei half, die Einkäufe zu tragen, verdankte er einzig und allein der Tatsache, dass er auch freitags gerne ausschlief.
Wortlos schritten sie um die Autos herum, die verlassen auf der Straße standen. Nikkis Schritte hallten lauter auf dem Asphalt wider als seine eigenen, doch sie sprach kein Wort. Eigentlich sprach sie nie, wenn sie an diesen Autos vorbeikamen. Er vermutete etwas dahinter, eine Trauer, die sich nicht in Worte fassen ließ. Aber genau aus diesem Grund hatte es keinen Sinn zu fragen, und vielleicht fürchtete er sich auch ein wenig vor der Antwort. Die Geschichten, die man sich heute erzählte, hatten für gewöhnlich kein glückliches Ende.
Von Wracks konnte man nach nur zwei Jahren noch nicht sprechen, aber dennoch strahlten die liegengebliebenen Autos Tod aus. Ironischerweise waren es die Toten, die weiterlebten, und die Gegenstände, die starben, weil niemand sie mehr benutzte.
Diese Fahrzeuge hier waren von denen zurückgelassen worden, die versucht hatten, sich bis zur holländischen Grenze durchzuschlagen, und dabei gescheitert waren. Einige hatten es bis zur Grenze geschafft; im Lager gab es einige von ihnen. Doch genützt hatte es niemandem. Soweit Sam wusste, war nie jemand durchgekommen, nicht einmal am Anfang. Nicht einmal Politiker oder Promis hatten es in ihren Privatflugzeugen hinausgeschafft, nach allem, was man im Internet so las. Im Internet las man aber natürlich so einiges.
Vor ihnen kam allmählich der hohe Wall in Sicht, der das gesamte Lager zum Landesinneren hin abgrenzte.
Auch auf der anderen Seite gab es Zäune, doch die waren viel niedriger, durchlässig fast und eher ein Symbol als eine tatsächliche Abwehr.
Sie lebten so nah an der Grenze, dass sie sich beinahe an den nächsten Stützpunkt schmiegten. Die Fläche dort wurde von der niederländischen Armee und Mitgliedern der NATO freigehalten, die sicherstellten, dass die Untoten nicht zu nahe an ihre eigenen Linien gelangten.
Das verschaffte ihnen als Zufluchtsort den großen Vorteil, nur eine Seite sichern zu müssen, und die Möglichkeit, von Zombies eingekesselt zu werden, schied für sie dankenswerterweise fast gänzlich aus.
Obwohl sie sich von den Soldaten keine direkte Hilfe versprechen konnten, profitierten sie doch indirekt von ihrer Anwesenheit, und es war ihnen gelungen, sich eine sichere Zone zu schaffen, wie man sie in Deutschland wohl nur noch selten antraf.
Sam hatte die Gegend hier nie verlassen, aber manchmal kämpften sich einzelne Überlebende zu ihnen durch; geschundene Gruppen von nie mehr als drei Mann, die in der irrigen Hoffnung aufgebrochen waren, man würde die Grenze für sie – und nur für sie – öffnen. Jeder glaubte daran, die eine Ausnahme zu sein, die es aus dieser Hölle hier herausschaffen würde.
Die Berichte, die die Neuankömmlinge mit sich brachten, waren fürchterlich.
Nahrungsmittel und Medikamente stellten hin und wieder ein Problem dar, aber alles in allem hatten sie die Lage gut im Griff, und auch der Komfort konnte sich für eine Zombie-Apokalypse wohl sehen lassen. Manchmal vermisste Sam allerdings frisches Obst aus sonnigeren Gefilden, den Eintopf seiner Mutter und natürlich das Pay-TV-Programm.
»Hey, Felix, mach das Tor auf, wir sind’s«, rief Nikki neben ihm zu der Mauer aus Holz empor, die sie in der Anfangszeit eilig zusammengezimmert und nach und nach weiter verstärkt hatten.
Ein junger Mann mit äußerst dichtem Bart lehnte sich vor, um sie über die Brüstung hinweg näher in Augenschein nehmen zu können. Wahrscheinlich behinderte die dicke Brille seine Sicht, doch offenbar war er trotzdem nicht gewillt, sie abzunehmen. Sein Leben verdankte er vermutlich einzig der Tatsache, dass selbst Zombies nicht den Drang verspürten, ihn zu verspeisen. Felix war Veganer.
»Yo, Nikki, Sam, wusste gar nicht, dass ihr heute draußen unterwegs wart. Wartet, ich lass euch rein.«
Sein Kopf verschwand, als er die Leiter hinunterstieg, um ihnen zu öffnen.
Felix war einer der wenigen anderen jüngeren Menschen, die es in ihr Lager geschafft hatten. Zwar lag die Aachener Universität ganz in der Nähe, doch die meisten Studierenden wohnten in der Stadt und hatten es nicht geschafft, der Invasion zu entkommen. Außerdem studierten viele dort Maschinenbau, und die Zombies waren unter den restlichen leblosen Gestalten viel zu spät bemerkt worden.
Sam hatte doppelt Glück gehabt: freitags keine Vorlesungen, und das Haus seiner Eltern lag äußerst praktisch in Uni-Nähe, sodass es sich nicht gelohnt hatte, sich eine eigene Wohnung in Aachen zu nehmen. Hätte er nicht eine so starke Aversion gegen die Möglichkeit eines Nebenjobs gehabt, wäre er bestimmt als Zwischenmahlzeit geendet.
Das Tor schwang auf und offenbarte den Blick auf eine Nachbarschaft, die genauso aussah wie die, die sie gerade durchschritten hatten. Die Häuser wirkten allerdings weniger verlassen, die Autos waren nicht einfach auf