Natürlich sah man ihr den Zustand an. Das schaffte eine Kluft. Das Reden der anderen ging ihr auf die Nerven, nicht einmal am Unterricht hatte sie Lust.
Laura blieb vor dem Eckhaus stehen. Antiquität Poppel stand kaum leserlich über dem Schaufenster. Man konnte kaum durch die Scheiben sehen, so schmutzig waren sie.
Aber Herr Poppel hatte sie trotzdem erspäht.
»Ich dachte, Sie wären ausgewandert, so lange haben Sie sich schon nicht mehr bei mir blicken lassen«, rief er ihr vorwurfsvoll entgegen. Herr Poppel und Laura waren alte Freunde. Im ersten Semester hatte Laura das Geschäft erspäht, aus dem verstaubten Trödel hatte sie eine Figur ausgegraben. Echt Meißen. Herr Poppel hatte sie vergessen gehabt.
In regelmäßigen Abständen besuchte Laura ihn, schleppte oft Studienfreunde mit. Durch Laura war ein wenig Schwung in seinen Laden gekommen, und auch ihn hatte sie aufgemuntert.
»Aber jetzt bin ich da«, lachte sie und gab ihm die Hand. Er zog sie in den Laden und schloß rasch die Tür, als hätte er Angst, sie könnte es sich anders überlegen. Seine Augen musterten sie gründlich.
»Gut sehen Sie aus.«
»Mir geht es auch gut.« Sie schnupperte den vertrauten Geruch mit Vergnügen in sich hinein. Dabei roch es nach Staub und ungelüftetem Raum, aber auch der feine Geruch nach Politur und Wachs mischte sich darunter.
»Von Ihnen kann man’s nicht sagen, Herr Poppel. Ist etwas?«
»Mich plagt das Rheuma heftiger als sonst. Und das bei der Hitze. Seit vorgestern hat sich kein Kunde mehr hierher verirrt. Es ist ein Kreuz. Aber jetzt sind Sie da!« Er freute sich sichtlich. Sein Gesicht wirkte gelblich, und er hielt sich noch krummer als sonst.
»Die Teekanne ist frisch gefüllt. Kommen Sie, gehen wir in mein Zimmer.« Sein Zimmer war ein winziger Raum, im Winter bullerte der Kanonenofen, der mitten im Zimmer stand. Aber die beiden Sessel und der wunderschöne Tisch mit der kostbaren Einlegearbeit waren zum Verlieben schön. Kaum einer kannte diese Prachtstücke, nur selten lud Herr Poppel jemanden in dieses Zimmer ein.
»Oder dürfen Frauen in Ihrem Zustand keinen Tee trinken?« fragte er besorgt.
»Mein Zustand ist eben nur ein Zustand und keine Krankheit.«
Mit einem Tuch staubte er den Sessel ab. »Sie haben so ein hübsches Kleid an«, entschuldigte er sich. »Hier ist nämlich schon lange nicht mehr geputzt worden.«
»Das sieht man. Vermutlich haben Sie auch schon lange nicht mehr anständig gegessen. Sie sind dünner geworden.«
»Was liegt an mir«, wehrte er ab. So niedergeschlagen kannte sie ihn nicht. Ängstlich betrachtete sie ihn. Der dunkle Anzug schlotterte um seine magere Figur, der Hals ragte dünn und viel zu lang aus dem weißen Kragen, der ihm zu weit geworden war.
»Herr Poppel«, rief sie vorwurfsvoll. »Sie wissen genau, wie wichtig Sie sind. Besonders für mich. Sie sind doch mein Freund«, sagte sie liebevoll, als spreche sie zu einem Kind. »Meine Freunde kann ich inzwischen an einer Hand zählen.«
»Sind Sie einsam?« Er goß den Tee in die hauchdünnen Tassen. Auf Ordnung und Sauberkeit legte er wenig Wert. Aber es gab Dinge, die von ihm nicht fortzudenken waren. Grundsätzlich nahm er seinen Tee aus kostbaren Tassen. Seinen Wein trank er aus alten Römern, die jedes Sammlerherz entzücken mußten.
»Ich bin nicht traurig darüber.« Sie unterhielten sich wie alte Freunde, die sie ja auch waren. Er kannte längst Lauras Geschichte, mit ihm hatte sie leichter sprechen können als mit ihrer Mutter.
»Ich freue mich auf mein Kind. Ich kann die Zeit kaum erwarten.«
Er schob ihr den Meißnerteller hinüber, auf den er Plätzchen gelegt hatte.
»Was wird aber dann, Laura? Haben Sie sich mal Gedanken gemacht, womit Sie ihren Lebensunterhalt verdienen? Sie halsstarrige Person lehnen ja jede Hilfe ab, nicht einmal von Ihrer Mutter wollen Sie sie.«
»Ich bin in den letzten Monaten sehr sparsam gewesen.« Sie nahm das Plätzchen, aber anstatt es zu essen, zerbröselte sie es zwischen den Fingern und merkte es nicht einmal.
»In einem Monat habe ich das Studium abgeschlossen.«
»Und was dann?«
Sie nahm ihm die Frage nicht übel, es war ja keine Neugier. »Ich habe meine Studentenbude aufgegeben und mir eine kleine Wohnung genommen. Ich habe Sie schon oft gebeten, sich mein Zuhause einmal anzusehen. Ich könnte zu Hause arbeiten.« Sie hob den Kopf mit den wunderschönen Haaren. »Ich will zu Hause arbeiten. Auf keinen Fall gebe ich das Kind in fremde Hände. Ich habe ein hübsches rundes Sümmchen auf dem Konto. Wenn ich gut wirtschafte, kann ich einige Jahre davon leben.«
Seine Hände zitterten, als er sich Tee nachgoß.
»Das stelle ich mir für eine Frau wie Sie sehr langweilig vor. Ich habe auch über Sie nachgedacht und über mich natürlich auch.«
Er schien sehr aufgeregt zu sein. Sie musterte ihn aufmerksam. So braune Augen wie sie hatte seine Frau gehabt. Überhaupt erinnerte sie ihn an die verlorene Zeit.
»Als meine Frau noch lebte, war dieser Laden, den man jetzt einen Trödlerladen nennt, ein wirkliches Antiquitätengeschäft. Ich hatte ausgesuchte, sehr schöne Dinge. Meine Frau fuhr zu Versteigerungen, wußte genau, wo eine Wohnungsauflösung war, sie hatte das richtige Gespür für schöne Dinge.
Nach ihrem Tod ging es stetig bergab, mit mir und mit dem Laden. Jetzt ist es wirklich nur noch ein Trödlerladen.«
Seine Augen unter den schweren Lidern hefteten sich auf das junge Gesicht.
»Ich habe Sie oft beobachtet, Laura. Sie haben sehr viel Sinn für Schönheit, von alten Möbeln und Porzellan verstehen Sie etwas.« Sie horchte verwundert.
»Kurz und gut, ich will sagen, steigen Sie bei mir ein. Ich habe keinen Erben, ich bin allein. Je älter ich werde, um so mehr drückt mich die Einsamkeit. Mit Ihnen an der Seite wird mir das Arbeiten wieder Spaß machen. Sie werden für mich ein Jungbrunnen sein.«
Ihr blieb der Mund vor Staunen offen stehen.
»Sie werden dem Geschäft neuen Schwung geben. Ich weiß es. Sie sind voll Energie und besitzen das Gespür, das nun mal zu dem Beruf gehört. Die obere Etage können Sie sich als Ihre Wohnung ausbauen lassen. Die Mieter sind schon lange ausgezogen, es ist ja eine Schande, daß so schöne Räume leer stehen.«
»Und Sie? Was ist mit Ihnen?«
»Ich bleibe in meiner Mansardenwohnung. Da kriegt man mich lebendig nicht heraus.«
Ein verschämtes Lächeln spielte um seinen Mund.
»Ein wenig Egoismus ist natürlich auch dabei, Laura. Ich fürchte langsam das Alleinsein, früher war mir meine eigene Gesellschaft genug, da las ich oder lebte von der Erinnerung.
Ich stelle es mir wunderbar vor, mit Ihnen zu arbeiten, zuzusehen, wie aus diesem heruntergekommenen Laden wieder etwas Rechtes wird.
Und ihr Kind… ihm möchte ich so gern der Großvater sein.«
Sie merkte gar nicht, daß sie weinte.
»Sie werden ein wunderbarer Großvater sein. Und ob ich will? Das ist ja ein Traum, der Wirklichkeit wird. Drehen Sie sich um, Opa Poppel, ich muß doch sehen, ob Ihnen Flügel gewachsen sind. Für mich sind Sie ein Engel.«
*
Drei Jahre waren seitdem vergangen. Die Hausfassade prankte im neuen Glanz. Das große Schaufenster blitzte wie ein Spiegel. Ungehindert konnte man in den Laden sehen. Der Blick fiel sofort auf ein besonders schönes Stück. Herr Poppel hatte recht gehabt, Laura hatte die richtige Hand.
Der alte Mann war nicht wiederzuerkennen. Er hockte auf dem Teppich, den Laura bei einer Wohnungsauflösung gefunden