Der Arzt schien sich davon überzeugt zu haben, daß sie nicht zusammenbrechen würde. Leise verließ er den Raum, nachdem er noch einen Blick auf den Monitor geworfen hatte.
Julia merkte nichts von dem, was um sie herum vorging. Auch als Thomas erschien, nahm sie ihn gar nicht gleich wahr.
»Es… tut mir leid, Julia…«, sprach er sie leise an.
Sie zuckte so zusammen, als habe er sie geschlagen. Langsam drehte sie sich auf dem unbequemen Stuhl um und sah ihn an. Ihr Blick wirkte wie erstarrt.
»Wir müssen mit ihr reden…«
Sein Erstaunen war offenkundig. Alles hatte er erwartet, er wußte, wie temperamentvoll Julia sein konnte, aber diese stille, fast demütige Haltung überraschte und erschütterte ihn. Sie war schlimmer zu ertragen, als wenn sie über ihn hergefallen wäre.
»Ja, natürlich. Wir werden uns abwechseln…«
»Nein, ich mache das… allein.«
»Julia, das kannst du nicht. Da ist auch noch Patrick…«
Sie schloß kurz die Augen und öffnete sie dann wieder, als habe sie sich erinnern müssen, wer Patrick sei.
»Du… hast recht. Ja…«
Es war jetzt nicht mit ihr zu reden. Thomas schaute sich nach einem weiteren Stuhl um. Dann saß er neben seiner ehemaligen Ehefrau und hatte das Gefühl, als wäre Nele von ihnen allen noch am besten dran.
*
Ein neuer Rhythmus in Julias Leben spielte sich schnell ein. Ihr Arbeitgeber hatte Verständnis dafür, daß sie für die nächste Zeit nur noch halbtags arbeiten konnte. Vormittags, wenn ihre Mutter bei Nele war, weil Patrick den Kindergarten besuchte. Nachmittags löste Julia diese ab, nachdem sie Patrick abgeholt hatte. Abends kam Thomas, immer pünktlich, ohne sich je zu beschweren, daß er eigentlich arbeiten müßte.
Nele blieb weiterhin im Koma, während die äußeren Wunden langsam heilten. Die Ärzte teilten ihnen mit, daß sie genaugenommen vor einem Rätsel stünden.
»Es gibt keinen Grund, warum sie nicht aufwacht. Die Erschütterungen haben nichts verletzt, was uns nachweisbar wäre. Aber es gibt solche Fälle. Manche Patienten scheinen lieber im Koma zu bleiben, als sich erinnern zu müssen.«
Julia ahnte, warum ihre Tochter nicht erwachen wollte. Nele hatte ja gewußt, daß sie nicht nur von ihrem Vater, sondern auch von ihrer Mutter verlassen worden war. So bezeichnete Julia es bei sich, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Niemand konnte sie von ihrer Schuld freisprechen. An Torsten durfte sie überhaupt nicht denken. Ihre Liebesnacht hätte ihre Tochter fast das Leben gekostet. Das konnte sie nicht wiedergutmachen, aber sie mußte alles tun, um Nele wieder ins Leben zurückzuholen. Nur das war ihre Aufgabe, die noch zählte.
Julia sprach überhaupt kaum noch. Nur Patrick gegenüber tat sie so, als ginge es ihr gut, obwohl die traurigen Blicke, die er ihr zuwarf, sie nicht darüber hinwegtäuschen konnten, daß er mehr begriff, als gut für ihn war.
Angelika Bernsdorf machte sich große Sorgen um Julia, mehr noch als um Nele. Sie kannte Julia viel zu gut, um nicht zu wissen, was in ihr vorging. Es brach ihr fast das Herz zu sehen, wie Julia sich selbst bestrafte. Sie verdiente es, glücklich zu sein, und es war nicht leicht, einen Menschen zu finden, der gut zu einem paßte und das Gefühl gab, angekommen zu sein. Nach der gescheiterten Ehe hatte Julia sich schwergetan, mit dem Gefühl fertig zu werden, schuld zu sein, weil sie nicht genug Geduld bewiesen hätte. Nur im Unterschied zu jetzt hatte Julia mit ihrer Mutter darüber gesprochen.
Erstaunt war Angelika Bernsdorf über Thomas. Sie hätte nicht geglaubt, daß er so lange durchhalten würde. Jeden Abend erschien er pünktlich im Krankenhaus, saß bis gegen dreiundzwanzig Uhr an Neles Bett und ging dann bis zum nächsten Tag wieder. Sie wußte das von den Schwestern, die von ihm offenbar ziemlich beeindruckt waren.
»So ein toller Vater…«, beendeten sie ihre Schwärmerei dann immer.
Angelika hätte ihnen natürlich sagen können, was ihn dazu brachte, sich so um Nele zu kümmern. Aber sie tat es nicht, es ging niemanden etwas an. Dagegen beobachtete sie genau, wie Julia es aufnahm.
Ihre Tochter schien in gewisser Weise eifersüchtig auf die Zeit zu sein, die Thomas mit Nele verbrachte. Wollte sie das Opfer ganz allein auf sich nehmen?
Julia vermied es, mit Thomas sprechen zu müssen. Wenn sie ihn sah, dachte sie automatisch an Torsten und wieviel er ihr bedeutete. Aber das mußte sie vergessen.
Die Ärzte, mit denen sie jeden Tag kurz sprach, bemerkten die Veränderung, die mit ihr vorging.
»Frau Bogner, Sie dürfen sich nicht so erschöpfen. Sonst brechen Sie zusammen. Bleiben Sie ein paar Tage zu Hause, erholen Sie sich, schlafen Sie. Es ist doch immer jemand da für Nele.«
»Es ist meine Aufgabe. Ich weiß, daß ich es schaffen kann, daß sie aufwacht.«
Julia war überzeugt, daß ihre tägliche stundenlange Anwesenheit Nele unterbewußt zeigen würde, wie ernst es ihr war, sich um sie, und zwar ausschließlich, zu kümmern. Nele würde es irgendwann glauben, daß sie ihrer Mutter wieder vertrauen konnte, und dann würde sie aufwachen. Sie durfte nicht nachlassen in ihrem Bemühen, nicht schwach werden. Und deshalb würde sie auch nicht zusammenbrechen.
Als sie an diesem Abend nach Hause fahren wollte, stand Torsten vor dem Krankenhaus. Er ging auf sie zu, versuchte, sein Erschrecken bei ihrem Anblick zu verbergen.
Julia geriet für Sekunden in Panik. Er war ihr so vertraut… Aber ihr Gesicht zeigte nichts davon. Kühl sah sie ihn an.
»Julia…, warum höre ich nichts von dir? Warum schließt du mich so aus? Ich möchte dir helfen.«
»Das kannst du nicht. Das geht nur mich und die Familie etwas an.«
Harte Worte. Thomas zuckte unter ihnen zusammen, aber er versuchte, es nicht allzu persönlich zu nehmen.
»Bitte, Julia… Wir gehören doch zusammen. Hast du das vergessen?«
»Ich gehöre zu meinen Kindern. Mehr nicht. Wir werden uns nicht wiedersehen. Und jetzt entschuldige. Ich muß Patrick abholen.«
Sie ließ ihn einfach stehen und ging steif aufgerichtet zu ihrem Wagen hinüber.
Torsten sah ihr nach. Er hatte das Gefühl, als habe sie ihm ein Messer in den Bauch gestoßen. Warum war sie so hart zu ihm? Konnte er mehr beweisen, wie ernst es ihm war? Vielleicht mußte er noch ein wenig warten, möglicherweise stand sie noch unter Schock.
*
Drei Wochen verstrichen. Julia arbeitete wie ein Roboter und war froh, daß sie nur selten vorn im Laden stehen mußte. Sie wäre eine schlechte Verkäuferin. Die Arbeit mit den Bestellungen und den Zahlen war reine Konzentration. Sie verlangte nicht, daß sie lächelte.
Hin und wieder mußte sie aber doch einspringen, zum Beispiel, wenn wie heute, eine der Verkäuferinnen krank wurde und nach Hause gehen mußte. Sobald mehr als zwei Kunden im Laden waren, mußte Julia nach vorn kommen, damit die Kunden nicht ungeduldig wurden und gingen, ohne etwas zu kaufen.
Ihre Kundin war Frau Dorn. Julia bemühte sich um ein Lächeln, was vermutlich mehr zu einer Fratze geriet, denn Frau Dorn sah sie unverwandt sehr ernst an.
»Was ist passiert? Sind Sie krank? Was machen Sie dann hier im Laden?«
»Ich bin nicht… krank. Kann ich Ihnen helfen?«
»Sie sehen aus, als bräuchten Sie dringend Hilfe. Wollen wir darüber reden? Ich habe eine Menge Lebenserfahrung, vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ich würde es gern tun, denn ich mag Sie.«
Die herzlichen Worte trieben Julia die Tränen in die Augen.
Frau Dorn zog sie in eine Ecke. Sie reichte Julia ein spitzenbesetztes Taschentuch.
»Hier,