Wien. Ludwig Hirschfeld. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ludwig Hirschfeld
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783903184701
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einzelne Herren, namentlich am Vormittag, ihr Bureau etablieren, ihre Korrespondenz erledigen, Geschäftsfreunde empfangen und die Kaffeehauskasse als Poste-restante-Bureau benutzen. Auch Vermittlung von Telephonnachrichten wird gratis und diskret besorgt, indem der Zahlmarkör den eintretenden Stammgast mit dem durch den ganzen Raum hallenden Ruf begrüßt: »Herr von Pollitzer wurden von einer Dame angerufen, war aber nicht die Frau Gemahlin.« Von seinen Stammgästen weiß der Zahlmarkör überhaupt alles: Biographie, Bekanntenkreis, Beziehungen, auch steht er langjährigen Kunden als Kreditinstitut zur Verfügung, wobei er allerdings, trotz seiner Menschenkenntnis, auf einen neuen, aber unbezahlten Stadtpelz blind hineinfällt. Trotzdem ist noch kein Wiener Zahlmarkör im Armenhaus gestorben, obwohl die Trinkgelder nicht groß sind, aber es summiert sich eben. Man gibt dem Zahlmarkör 20–30 Groschen, und 10–20 Groschen lässt man auf der Tasse für den Zuträger zurück. Geben Sie ja nicht mehr, sonst machen Sie sich sofort irgendwie verdächtig. Nur wer im Wiener Kaffeehaus das Übliche gibt, der wird von den Kellnern geschätzt. Ist das nicht ein feiner Zug?

      Nach dem Mittagessen, also zwischen ein und drei Uhr, das ist der Beginn der eigentlichen Kaffeehauszeit, da gehen die Geschäftsleute, die Beamten und Angestellten auf einen Schwarzen, ein Abendblatt und einen Plausch. Daran schließen sich ohne Pause die übrigen Kaffeehauszeiten: die Kartenpartien im Hintergrunde und die Billardpartien im Vordergrunde. Weichen Sie den oft leidenschaftlichen Spielern sorgsam aus, denn nach einem ungeschriebenen Wiener Kaffeehausgesetz haben sie das Recht, unvorsichtigen Vorübergehenden die heftigsten Stöße zu versetzen.

      Dann kommt die Jausenzeit und der Zustrom der Damen, die hier an großen runden Tischen Jour halten und nebst viel Gebäck, Indianer- und Faschingskrapfen, Eis und Schlagobers den guten Ruf von abwesenden Freundinnen konsumieren. Von dieser Stunde an bleibt das Kaffeehaus überfüllt und Sie müssen sich zu fremden Leuten an den Tisch setzen, was ich als älterer Wiener Sonderling prinzipiell nicht tue. Ab 7 Uhr wird im Kaffeehaus genachtmahlt. Auf die Frage: »Was kann man zu essen haben?«, antwortet der Kellner mechanisch: »Schinken, Butter, Eier, Ham und Eggs, Käse, Aufschnitt, Frankfurter, Debreziner, zwei Stück Sardinen.« Aber es gibt jetzt immer mehr Kaffeehäuser mit kleinerem oder größerem Restaurationsbetrieb, da und dort gibt’s auch Bier vom Fass. Die warmen Nachtmahlesser werden hier durch das Aufbreiten eines, allerdings nicht immer ganz einwandfreien weißen Tischtuches, geehrt, während die gewöhnlichen Eier- und Schinkenbrotesser auf dem bloßen Tisch speisen müssen. Bitte, daran ist nicht zu rütteln! Von 9 Uhr an kommt man wieder nach dem Nachtmahl, nach dem Kino, Theater oder Konzert ins Kaffeehaus, das bis Mitternacht und darüber Vollbetrieb hat. Es ist eben trotz aller unerträglichen Steuern noch immer ein ganz gutes Geschäft und mit keiner besonderen Anstrengung verbunden als der, von Tisch zu Tisch zu gehen und freundliche Buckerln zu machen. Der abgeklärte, freundlich zerstreute Herr, der dies tut, ist nämlich der Kaffeesieder, was auf Deutsch Cafétier heißt.

      Mit diesen allgemeinen Vorkenntnissen ausgestattet, können wir uns jetzt schon auf die Kaffeehauswanderung begeben. Natürlich kann ich Sie nur in die größten, wichtigsten und charakteristischsten führen. Das richtige, gute und solide alte Kaffeehaus ist das CAFÉ REBHUHN in der Goldschmiedgasse. Mitten im Geschäfts- und Modewarenviertel gelegen, hat es angesehene Kaufleute, Ärzte, Rechtsanwälte und Beamte zu Stammgästen. Ähnlicher Art sind die älteren Ringstraßen-Kaffeehäuser, nur durch die Korsonähe etwas luxuriöser: das CAFÉ KAISERGARTEN an der Ecke der Eschenbachgasse, das CAFÉ OPERA an der Ecke der Operngasse und das CAFÉ IMPERIAL im Hause des gleichnamigen Hotels. Von den Eigentümlichkeiten dieses Kaffeehauses erwähne ich: sehr viele Zeitungen, ein aus Schreibtischmenschen, Damen und Turfleuten gemengtes Publikum und durch die Küche des Hotels Imperial angenehme Nachtmahlmöglichkeiten. Hier, meine Gnädige, können Sie Scheidl-Bäckereien ruhig essen. Sie können hier aber auch den eigenartigsten Schriftsteller Wiens sehen: Karl Kraus, den witz- und sprachgewaltigen Herausgeber der »Fackel«, der hier in gewollter Isoliertheit jeden Abend sitzt. Von den Fremden wird das CAFÉ LEBMANN in der Kärntner Straße, das CAFÉ RITZ am Neuen Markt und das GRABENCAFÉ bevorzugt. Auf dem Graben sind vom Frühjahr bis zum Herbst zwei Kaffeekioske in Betrieb, wo man ruhig und beobachtend mitten im Trubel sitzen kann. Hier ist der Großstadtweise Peter Altenberg mit Vorliebe gesessen.

      Das sind lauter Kaffeehäuser, die man aufsucht, um Kaffee zu trinken, ausdauernd zu sitzen, zu lesen, zu tratschen. Wohl auch, um Geschäfte einzuleiten und abzuschließen, obwohl die große Zeit der Kaffeehausgeschäfte vorüber ist. Auf den Marmortischplatten findet man manchmal noch verblasste Kalkulationen, die einzigen Überbleibsel der Inflationskonjunktur.

      Die meisten übrigen großen Lokale haben eine Salonkapelle oder eine Jazzband, sind auf Luxus- und Nachtbetrieb eingestellt: CAPUA in der Johannesgasse, CAFÉ LURION in der Siebensterngasse, CAFÉ ARLON in der Rothgasse, das KRYSTALLCAFÉ auf dem Aspernplatz. Das sind schon mehr Tanz- und Vergnügungslokale von Allerweltscharakter.

      Jetzt könnte ich Ihnen nur noch jene Lokale zeigen, die ich Berufskaffeehäuser nennen möchte, weil sich dort die Angehörigen bestimmter Gruppen zusammenfinden: Im RINGCAFÉ auf dem Stubenring die Fußballgrößen, im ARTISTENCAFÉ in der Praterstraße die Leute vom Varieté und Zirkus. Natürlich gibt es auch eine ganze Menge Theaterkaffeehäuser. Die Wiege der Wiener Operette war vor 25 Jahren der berühmte Stammtisch von Karczag, Lehár und den anderen Größen im CAFÉ MUSEUM in der Friedrichstraße. Die Lokale der Operetten-, der Varieté- und Kabarettleute sind jetzt das CAFÉ HEINRICHSHOF gegenüber der Oper, CAFÉ DOBNER und CAFÉ PAYR auf dem Getreidemarkt, und vor allem das CAFÉ SACHERBAR auf dem Opernring. Am Nachmittag zwischen 3 und 6 Uhr können Sie hier die verschiedenen Meister, Verdiener und Mitläufer des Operettenmarktes sehen: Da fährt Emmerich Kálmán vor, bereits von seinen getreuen und eifersüchtig wachsamen Leiblibrettisten Brammer und Grünwald erwartet, da sitzt der witzige Rudolf Österreicher, der abgeklärte Dr. Willner, der höflich ruhige Bela Jenbach, der tiefsinnige Heinz Reichert, der gedankenblasse Willy Sterk, da sitzen die Operettenverleger, namentlich die kleineren, die Tenöre und Komiker, da wird fachgesimpelt, werden Misserfolge prophezeit, Tantiemenerfolge geschätzt. Wer die zwei absolut gleich aussehenden und gleich gekleideten Herren von nicht unbedingt christlichem Typus sind? Ja, das sind Zwillinge, schon seit ihrer Geburt, und sie halten an dieser Tradition seit mehr als 50 Jahren fest. Dadurch sind sie in Wien und im Sommer in Ischl die bekanntesten Straßen- und Lokalfiguren geworden. Außer ihrer lustigen Ähnlichkeit verfügen sie noch über sehr viel Witz, den sie teils im Gespräch, teils in ihren Jargonschwänken für die Werbezirk freigebig ausstreuen. Man nennt sie abgekürzt »die Gölze«, weil man ohnehin nicht genau weiß, welcher der Emil und welcher der Arnold Golz ist. Der dicke Herr in ihrer Gesellschaft ist Herr Piffl, Gatte der Frau Werbezirk und Neffe des Kardinals von Wien. Sie sehen, es kann nicht so arg sein mit den konfessionellen Gegensätzen, wenn der Kardinal und Fürsterzbischof der Onkel der jüdischsten Schauspielerin ist …

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       Café´Sacher-Bar

      Und die berühmten Wiener Literaturkaffeehäuser? Sie kommen eigentlich nur mehr in den in Berlin geschriebenen Literaturgeschichten vor, deren Verfasser noch immer beim CAFÉ GRIENSTEIDL, bei Jung-Wien und beim süßen Mädel halten und die noch immer jeden Wiener Autor als müde Kaffeehauspflanze schildern. Das war einmal, vor 25 Jahren, aber jetzt gibt’s kein Griensteidl mehr, kein Jung-Wien – und die süßen Mädel? Davon reden wir später. Die jungwiener Dichter Bahr, Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann sind heute würdige, abgeklärte Herren, die sich in ihre Cottagevilla oder in eine mit allem kirchlichen Komfort ausgestattete Weltanschauung zurückgezogen haben. Und der Nachwuchs hat gar kein Bedürfnis, sich zu einer Richtung, einer Schule zusammen-zuschließen, weil jeder schon ausgelernt zu haben glaubt und jeder auf einem anderen Weg strebt: teils vorwärts und auch sonst. Heute befasst man sich nicht mehr mit geistiger und artistischer Revolution, sondern lieber mit Konkurrenz, Neid und Missgunst. Außerdem muss der Schriftsteller heute viel mehr arbeiten, natürlich auf der Schreibmaschine, was im Kaffeehaus doch nicht gut möglich ist. Trotzdem gibt es noch immer eine Anzahl von mir ebenso beneideter wie bedauerter Autoren, die ihre Nachmittage und Abende im Kaffeehaus verbringen. Nicht mehr im CAFÉ CENTRAL in der Herrengasse, das zwar, schon wegen seiner Fülle an Zeitungen, noch immer der Treffpunkt von geistigen Menschen aller Art ist und das