An einem schönen Abend will man natürlich lieber im Freien nachtmahlen. Im Prater? Das ist ein Kapitel für sich, davon reden wir noch. In der Stadt gibt es eigentlich nur zwei Restaurants im Grünen: VOLKSGARTEN und den anspruchsvolleren KURSALON im Stadtpark und wie ich unsere teure Gnädige kenne, hat sie sich bereits für den Kursalon entschieden. Das ist wirklich ein idealer Nachtmahlplatz: unten der halbdunkle Garten mit den unentgeltlich luftschnappenden Spaziergängern und Liebespaaren, dann der weite Kaffeehausplatz, wo die bescheidenen Butterbrotesser und Soda-mit-Himbeer-Trinker sitzen und darüber die festlich beleuchtete, erhabene Terrasse der Soupergäste. Es ist kein Restaurant, wo man Ersparnisse zurücklegen kann, denn das Konzert einer Musikkapelle erzielt in Wien nicht nur akustische, sondern auch preissteigernde Wirkungen. Aber man sitzt hier sehr angenehm und wenn man manchmal ein bisschen lang warten muss, so wartet man wenigstens in frischer Abendluft, sieht den Wiener Fremdenverkehr und die noch zahlungsfähige Wiener Gesellschaft und die neuesten legitimen und illegitimen Verhältnisse. Sehen Sie dort unter dem roten Lampenschirm den beleibten Herrn mit der nicht gerade hinreißenden Brünetten? Seine eigene Frau ist viel hübscher, viel reizvoller. Warum er nicht mit ihr hier sitzt? Weil seine Frau jetzt mit einem anderen auf dem Cobenzl nachtmahlt … Aber nicht einmal diese Ehebruchsstatistik scheint unsere Gnädige gegen die Jazzbandklänge taub zu machen, deren hämmernder Rhythmus unerbittlich aus der Tanzbar im Kursalon lockt. Mein Herr, haben Sie ein Einsehen und kaufen Sie Ihrer Dame für eine Viertelstunde einen Eintänzer um fünf Schilling, denn das ist ihr gutes Recht. Wenn eine Frau einmal in frischer Luft im Freien nachtmahlen will, dann wird sie doch wenigstens drin, in der heißen, überfüllten Bar tanzen dürfen …
Jetzt haben wir aber wirklich schon genug ausgegeben und wollen ohne Smoking, ohne Jazz nachtmahlen, natürlich gut. Dass Wien einmal die Hauptstadt eines vielsprachigen Reiches war, merkt man noch immer an den Restaurants mit Nationalküche, wie das UNGARISCHE WEINHAUS in der Spiegelgasse, wo man ganz Budapesterisch isst und trinkt. Dorthin geht der Wiener nur ab und zu, wenn er einen »Gusto« hat (Lust auf etwas Ungewöhnliches). Wenn er Meerfische, Scampi, Risotto essen und einen echten Chianti trinken will, dann geht er in das RESTAURANT LIDO auf dem Neuen Markt oder in den uralten GRÜNEN ANKER in der Grünangergasse. Dort isst und trinkt er mehr als sonst, gibt auch viel mehr aus, hat also den kompletten Eindruck einer italienischen Reise …
Ich weiß nicht, ob das in anderen Großstädten auch so ist, aber in Wien können Sie tatsächlich auch außerhalb der Inneren Stadt in jeder Vorstadt drei, vier gutbürgerliche Restaurants finden, wo man solid und nicht teuer isst. Natürlich nur dann, wenn ich mit Ihnen gehe, allein würden Sie sich wahrscheinlich gar nicht hineintrauen. Schon der Namen dieser Altwiener Gasthäuser ist so komisch: ZUR FLUCHT NACH ÄGYPTEN oder so ähnlich. Und das alte Haus mit seinem niederen, düsteren Eingang sieht auch nicht sehr einladend aus, eher wie eine Kutscherkneipe. Aber drin ist es ganz nett: dicke Mauern, tiefe Fensternischen, gewölbte Decken, kaum irgendein Luxus, nicht einmal der ganz reiner Tischtücher. Auch die Kriegsangewohnheit der Papierservietten können sich diese Wirte nicht mehr abgewöhnen. Die Kellner sind hier nicht abgeklärt und distinguiert englisch, sondern aufrichtig wienerisch. Sie schleudern dem im Wege Stehenden warnend den Kriegsruf zu: »Sauce bitte!«, was so viel bedeutet wie: »Aus dem Weg oder der Bratensaft ergießt sich über deinen Rock!« An Samstagen transpirieren sie heftig, aber wozu ist das »Hangerl« da, die Kellnerserviette für alles.
Auch auf sonstige Eigentümlichkeiten der Wiener Kellner muss ich Sie schonend vorbereiten. Wenn Sie hier verhungert anlangen, wird Sie zunächst ein winziger Knabe zum Alkoholismus bekehren wollen, indem er die scharfe Frage an Sie richtet: »Trinken, bitte?« Das ist nämlich der Pikkolo, der die Getränke bringt. Sie sagen ihm: »Vor allem möchte ich die Speisekarte.« Darauf wiederholt er mechanisch: »Speis’karten auf drei rechts« (die Nummerierung Ihres Platzes), welcher Ruf sich von einem Kellnermund zum anderen so lang fortpflanzt, bis Sie sich selbst die Speisekarte vom nächsten Tisch holen. Während Sie im besten Aussuchen und Gustieren sind, senkt sich eine derbe Faust mit einem Bleistift auf die Karte und fängt zu linieren an, der Speisenträger, der hierzu bemerkt: »Alles schon aus. Nur mehr Lungenbraten à la Crême. Sehr fein.« Dann fügt er milder hinzu: »Oder ich lass Ihnen ein Schnitzerl machen.« Sie sagen: »Gut. Ein Wiener Schnitzel mit Reis.« Der Kellner ungehalten und belehrend: »Das passt ja nicht dazu. Heurige Salzgurke oder gemischten Salat.« Wenden Sie nichts dagegen ein, er bringt Ihnen ja doch das, was er will.
Wenn aber der Fremde eine ungestrichene Speisenkarte vorfindet, dann ist das Problem der Bestellung noch schwieriger. Denn eine Wiener Speisenkarte ist so lang wie ein Heldenepos und in einem seltsamen, französisch-ungarisch-tschechischitalienisch-wienerischen Idiom abgefasst. Ohne Dolmetscher kommen Sie da unmöglich weiter oder Sie verirren sich in die gefährlichsten Magenabgründe. Gestatten Sie, dass ich Ihnen die hier verzeichneten 87 Genüsse verdeutsche und erläutere.
Wollen Sie ein Menü essen? Diese unwienerische Einrichtung hat sich allmählich, so wie die schlechten Zeiten, durchgesetzt und was da für 1,50 bis 2,50 Schilling geboten wird, ist ja meistens ganz anständig. Aber ein Menü ist nicht das richtige Studienobjekt für eine Kochkunstwanderung. Also: Es gibt fertige und frisch gemachte Speisen wie Rumpsteak mit Hindernissen (zu Deutsch: vielfache Garnierung), Salzburger Nockerln oder Kaiserschmarrn, was im Baedeker so erläutert wird: »In Stücke zerrissener Mehlpfannkuchen«, aber es ist viel wohlschmeckender als diese Definition. Das alles steht nur auf der Karte, damit man es sich nicht bestellen soll, denn dadurch macht man sich beim gesamten Personal unbeliebt und bis man die frisch gemachte Speise bekommt, ist man selbst längst nicht mehr frisch. Bleiben wir lieber bei den fertigen Speisen. Es gibt eine klare, angebliche Rindsuppe, die sich ehrlich um das Problem bemüht: »Macht mit Maggi gute Suppen – wenn ihr könnt.« Dann gibt es dicke oder falsche Suppen. Heute gibt es Schöberlsuppe, das ist eine Einlage von viereckigen, gebackenen Biskuitteigstücken, wenn es nicht Hirn- oder Schinkenschöberl sind. Und dann gibt es eine Rindspilafsuppe. Das Wort stammt vom Balkan und so unsicher sind die Zusammensetzungsverhältnisse dieser Suppe, die eine Fleischpüreesuppe mit dunkler Vergangenheit ist. Man muss sich eben hier auskennen, dann isst man ausgezeichnet. Zum Beispiel das berühmte, gekochte Rindfleisch. Aber