Das letzte Bier (eBook). Tommie Goerz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tommie Goerz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783747202401
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angehalten und geschimpft, und der hatte ja recht. Er hatte einfach nicht Obacht gegeben, nicht links und nicht rechts geschaut, wie man es schon den kleinen Kindern beibringt, sondern war, besoffen, wie er war, einfach so auf die Straße getorkelt, nein: geschlingert. Ein Wunder, dass er noch lebte, der hätte ihn auch sauber über den Haufen fahren können. Und das alles nur wegen dem »Bangg«. »Bangerd« hat man früher gesagt, das waren die, die der Esel im Galopp verloren hatte, die man »aus dem Tümpelteich gefischt« hatte und für die es keinen Vater gab. Weil der sich davongemacht oder die Frau es mit jedem irgendwie dings hatte und nicht sagen konnte, wer jetzt der Vater war. Das war ein Bangerd. Aber ein Bangg?

      »Ihch bringnern umm. Ahmoll bringinern nu umm!«

      Was dachte er denn da überhaupt für einen Unsinn, lauschte er seinen Gedanken nach: »Ahmoll bringinern nu umm!« Einmal bringe ich ihn noch um? Wie denn: noch einmal? Hatte er ihn denn schon einmal umgebracht? Auf Hochdeutsch wird die Sprache ungenau. Er sprach viel lieber in seiner.

      Der Bangerd setzte sich tatsächlich wieder zu ihm! Dabei war doch das ganze Wirtshaus leer! Überall wäre Platz für den! Grüßte ihn wie einen alten Kumpel mit »Sernsn, Möddl, alles gloar?«, tippte sich dazu mit dem Zeigefinger obercool an die Stirn, obwohl der doch nie beim Militär gewesen war, schmiss seine Tasche auf die Bank in die Ecke, setzte sich ihm gegenüber und bestellte sich auch sofort ein Bier. Die Alten vom Verein Zufriedenheit, die schwarz-weiß gerahmt an der Wand oben hingen, schlugen entschuldigend die Augen nieder oder sahen einfach weg. »Mari, maggsdmerahns?«, rief er hinüber in die Küche, und »sei­soguhd« hinterher. Die Mari kam aus der Küche, wischte sich die Hände an ihrer Kittelschürze, zuckte entschuldigend und hilflos mit den Schultern, Mörtel bedeutend »Tut mir leid, ich kann ja auch nichts machen«, ließ dem Dennis, so hieß der Bangerd, sein Bier einlaufen und stellte es ihm hin. Wie kann denn einer Dennis heißen, dachte sich der Mörtel. Es heißt doch auch keiner Schifoan oder Fußballn. Dennis spielt man, aber so heißt man doch nicht. Waren denn dem seine Eltern auch schon so blöd? Die waren bestimmt aus der Neubausiedlung drüben Richtung Reuthers, die sie in den 1980ern gebaut hatten. Da waren lauter Neue hingezogen damals, die man nicht kannte.

      Ach ja, seufzte er vor sich hin, die Mari, die hatte es gut! Die konnte sich einfach wieder in ihre Küche verziehen. Er aber, der Mörtel, konnte das nicht. Er musste hier sitzen und sich das Geschmarr dieses Jünglings anhören.

      Und was den alles so interessierte. So politisch. Das ging den doch alles gar nichts an. Hatte zu allem eine Meinung und wusste alles besser als die, die dabei gewesen oder dafür verantwortlich waren. Und musste einem das dann auch alles erzählen, stundenlang und immer das Gleiche. Endlosschleife. Ein kleiner Scheißer war der, ein Grünschnabel, ein Dummschwätzer – aber ein großer Klugscheißer.

      Nein, er war nicht alt geworden, um solche Probleme zu haben. Er war alt geworden, um keine Probleme mehr zu haben. Dafür hatte er ein Leben lang gearbeitet, sich krumm gemacht und schikanieren lassen, aber jetzt musste damit Schluss sein, ein für alle Mal – und dann kam so einer wie der.

      Ob er ihm einfach eine reinhauen sollte? So ganz unvermittelt, einfach mit dem Handrücken über das Gesicht? Dass ihm die Lippe aufplatzte, es ihn vom Stuhl runterhaute und er endlich sein blödes Maul hielt? Nein, dann würden bloß die Gläser umfallen, wahrscheinlich auch zerbrechen, es gäbe Scherben und überall würde das Bier he­runtertropfen, und die Mari hätte nur unnötig zu tun. Mörtel schüttelte es innerlich, denn eine dieser Erinnerungen kam wieder hoch. Bilder von einem zertrümmerten Kopf, einer Eisenstange und Matsch überall, Blut und ein Röcheln, das einfach nicht aufhören wollte, und immer und immer wieder diese Finger, die sich bewegten … krampften … Neineg damit! Das mit dem Grünschnabel müsste er anders machen.

      Manchmal schlief ja der Mörtel auch ein in der Gaststube, vor allem wenn der Ölofen so leise vor sich hin bullerte, und aus der Küche hinterm Tresen die Geräusche kamen, die die Mari beim Kochen machte. Mit den Töpfen, den Bestecken, dem Geschirr. Dann fiel dem Mörtel auf seinem Platz manchmal so langsam der Kopf nach vorn, und er döste wohlig ein. Hörte sich manchmal sogar selber zu beim leisen Schnarchen. Dann war es am schönsten. Dann erinnerte er sich dabei an seine Kindheit, da war das auch so gewesen: Am besten hatte er schlafen können, wenn Lärm war. Wenn seine Geschwister durch die Küche tobten, sich an den Haaren zogen oder sich zwickten und immer sehr viel Geschrei war. Einmal, das fiel ihm gerade ein, da waren seine Geschwister alle weg, in der Schule vielleicht oder auf dem Acker, das wusste er nicht, da hatte er auf der Schäslong in der Küche gelegen und wollte schlafen, aber es ging nicht. Da hatte er seine Mutter gebeten:

      »Mama?«

      »Joh Buh?«

      »Konnsd villaichd aweng Lärm machn?«

      »Wäisu Buh?«

      »Dermiddi aischlohfm koh.«

      Denn es war ihm zu leise gewesen zum Einschlafen. Eigentlich wusste er gar nicht, ob die Geschichte so stimmte, aber seine Mutter hatte sie immer so erzählt. Deshalb wusste er das auch nur. Bevor sein Vater wieder zurückgekommen war, also vor ʼ49. Da hatte an einem der ersten warmen Tage im Jahr plötzlich ein fremder Mann vor der Türe gestanden, ganz gruselig und nur noch Haut und Knochen, und hatte Einlass begehrt. Dies hier sei sein Haus, hatte er gesagt, und er, der kleine Mörtel, sei wohl der Sohn seiner Frau, aber nicht seiner, denn dazu sei er, der Mörtel, zu jung.

      »Oder wie alt bist du?«

      »Fünf.«

      »Dann bist du doch von mir.«

      Ab dem Tag hatte sich das Leben geändert daheim. In Russland sei er gewesen und jetzt zweihundert Kilometer gelaufen, alles zu Fuß, und jetzt habe er Hunger und Durst und wolle seine Frau. Besoffen hat der sich dann jeden Tag und herumgeschrien, den Mörtel geprügelt und die Mama, dass sie manchmal ein ganz blaues Gesicht hatte und kaum noch laufen konnte.

      Scheiß Erinnerungen. Der Mörtel nahm einen Schluck Bier.

      »Du wersd ner doh amoll nu schderm«, hatte die Mari einmal gesagt und dabei gelacht und hatte damit gemeint, dass er, weil er den ganzen Tag bei ihr herinnen saß, hier sicher auch einmal den Geist aufgeben würde.

      Was »Du wersd ner doh amoll nu schderm« auf Hochdeutsch hieß? Wahrscheinlich so viel wie »Du wirst noch einmal hier drinnen sterben.« Was der gleiche Quatsch war wie »Ahmoll bringinern nu umm!« Denn wie sollte er hier drinnen noch einmal sterben? Da müsste er ja zuvor erst einmal woanders sterben, und nach allem, was er wusste, tat man das nur einmal. Hatte der in der Erinnerung ja auch. Nachdem er endlich zum Röcheln aufgehört hatte, war bei dem Ruhe gewesen. Dann hatte er ihn nur noch wegschaffen müssen.

      Apropos Geist aufgeben. Wie der alte Wischer noch gelebt hat, hat der auch immer mit hier herinnen gesessen. Zu zweit waren sie dann hier am Tisch, Tag für Tag. Gesagt hatten sie nicht viel in dieser Zeit, es gab für sie ja auch nichts zu besprechen, sie mussten nichts tun. Nur ab und zu ein »Seidla« bestellen oder einmal hinaus auf den Ort. Affs Örddler. Brunzn. Es ist schwer, eine Geschichte auf Hochdeutsch zu erzählen, wenn sie im Dialekt stattfindet. Aber egal. Beim Geist war ich grad, dachte sich der Mörtel, und beim alten Wischer. Den hatte er dann einmal gefragt, einfach so, und weil es ihn auch interessierte und weil er selber immer so komische Sachen im Kopf hatte: »An was denkst du denn?« Er hatte also gefragt: »Wos dengsdner?« Da war er beim zweiten Seidla gewesen. Als er dann das fünfte schon halb getrunken hatte, spät am Nachmittag, hatte der Wischer auf einmal so geschnauft, auf seine Hände gesehen und dann gesagt:

      »Vor dem Denken, da musst du dich in Acht nehmen. Denn solange du nicht denkst, hat alles seine Ordnung. Sobald du aber mit dem Denken anfängst, kommt alles durcheinander. Nein, ich denke mir nichts mehr.«

      Hatte er natürlich nicht so gesagt, sondern so: »Dengne? Nah, vorm Dengne mussdi hühdn. Wall – solangsder niggs dengsd, schdümmd allers. Ohber wennsd erschdermoll dermihd ohfängsd, ner kummd allers durcherernander. Nah, ihch dengmer niggs mehr, des hobbi schon längsd affghöhrd.« Und dazwischen hatte er immer wieder lange Pausen gemacht und überlegt, wie es weitergeht.

      Komisch, dachte sich der Mörtel irgendwann einmal, bei mir kommt nichts durcheinander, wenn ich denke. Bei mir kommt