»Bis Dienstag hab ich jetzt gebucht«, sagte ich, »bis die Kärwa rum ist.«
»Dann könner S’ ja mit uns ah di Sau eigrohm.«
»Sau eingraben?« Ich wusste nicht, was er meinte.
Da grinste er nur verschmitzt. »Des wern S’ dann scho sehn.« Und das sollte ich auch.
Inzwischen war es draußen lauter geworden, die Männer mit dem Baum kamen aus dem Wald zurück. Es war ein bestimmt zwanzig Meter langer, gerade gewachsener und bis auf die Spitze entasteter Nadelbaum. Das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein.
Die restlichen Kärwatage sind schnell erzählt. Der Baum wurde unter großem Hallo aufgestellt, die Musikkapelle spielte, die Kärwasburschen bewachten in der ersten Nacht den Baum, damit er von den Burschen der Nachbargemeinde nicht abgeschält würde – was eine Schmach fürs ganze Dorf gewesen wäre. Der Bauer Malter, aus dessen Wald der Baum stammte, erzählte mir, genau das sei vor Jahren einmal passiert, da hätten es die Kärwasburschen mit dem Trinken übertrieben und seien in der Nacht eingeschlafen. Schon sei der Baum bis auf Mannshöhe abgeschält gewesen. Er aber sei dann noch »gleich in der Früh, bevor’s alle gsehng ham«, hinaus in den Wald gefahren, habe einen anderen Baum entrindet und die Rinde am Kärwasbaum angebracht. »Alle Welt hätt doch es ganze Joahr über uns glacht, wenn do so a naggerder Baum mittn im Dorf gschdandn wär.« Seitdem sei nachts zur Baumwache immer wenigstens ein Erwachsener da, der über die Kärwasburschen wache. Damit die nicht gar zu viel tränken und noch halbwegs zurechnungsfähig blieben. Trotzdem sahen die Kärwasburschen am nächsten Tag reichlich verorgelt aus, und nach nur sehr wenig Schlaf zogen sie mit drei Musikanten durchs Dorf und tanzten ihre Madli raus.
Der Sonntag ließ sich dann schon etwas gemütlicher an, alle schienen inzwischen reichlich mitgenommen, man aß gut nach einem gemütlichen Frühschoppen, überwiegend Braten und Klöße, und saß danach bei Musik und Tanz unter den großen Bäumen zur einen oder anderen Maß Bier. Erst im Lauf des späteren Nachmittags zog die Stimmung, dem Alkohol und der Musik geschuldet, wieder an.
So endete der Sonntag. Während all der Tage war mir immer wieder der Mann an der Schiffschaukel aufgefallen. »Schiffschaukelbremser« wurde er von den Einheimischen etwas abfällig gerufen. Er war ein noch relativ junger Mann, zahnlückig und etwas heruntergekommen, der sichtbar lustlos seinem Geschäft nachging, immer etwas zu viel getrunken zu haben schien und selbst zu den Kindern nicht freundlich war. Einmal bremste er eine der Schiffschaukeln mit seinem Holzkeil derart ruckartig ab, dass das Kind darinnen, es war die Petra, die Enkelin vom Zeilmann, den Halt verlor, nach vorn geschleudert wurde und sich zwei Schneidezähne ausschlug. Gott sei Dank waren es nur die Milchzähne, wie ich, der als Arzt sofort hinzugezogen wurde, feststellte. Trotzdem gab es beinahe eine Schlägerei, denn der Zeilmann war sofort zur Stelle und hatte den Schausteller schon am Kragen. Dann aber griffen ein paar der anderen ein und trennten die beiden, die Lage beruhigte sich wieder. Der Zeilmann aber warf ab da immer wieder wild funkelnde Blicke hinüber zur Schiffschaukel.
Am Montagabend dann, nach einem letzten »s’is Feierahmd«, wurden draußen im Hof die Lichter gelöscht und man ging teilweise heim, teilweise in die Wirtsstube zum »Sau eigrohm«, einem Brauch, wie ich ihn bisher noch nie gesehen hatte. Die Männer im Wirtshaus suchten den aus, von dem man meinte, er habe während der letzten Tage am meisten getrunken. Der musste die »Kärwasau« machen. Die Wahl fiel unter dem Gejohle der Mannsbilder auf den Kerl von der Schiffschaukel, der allein im Eck saß. Er konnte kaum mehr geradeaus schauen, schwankte mit dem Oberkörper und drohte jeden Moment vornüberzukippen. Er war – ich konnte mir diesen Blick nicht verkneifen, er gehörte über Jahrzehnte zu meinem Berufsalltag – in seinem Alkoholismus schon sehr weit fortgeschritten, spindeldürr und längst in der Phase des Austrocknens, der mit Alkohol natürlich nicht entgegenzuwirken war. Aber sein Durst schien hemmungslos. Man servierte ihm noch einen Schnaps, er leerte sein halb volles Bierglas, dann begleitete man ihn hinaus, und er nahm in einer Schubkarre Platz, die schon bereitstand. Dem Schausteller schien das alles zu gefallen, er machte das Spiel offensichtlich freudig mit, vielleicht fühlte er sich auch nur endlich einmal akzeptiert. Der Weisel malte ihm das Gesicht weiß an, der Meindl warf ihm eine schwarze Decke über, und dann zog man mit der Schubkarre zum zweiten Wirtshaus von Oberspring, das eigentlich schon seit Jahren geschlossen war und nur zu diesem Zweck wieder öffnete. Der dicke Zeilmann hatte einen weiten Mantel angezogen, einen Eimer Wasser mit einer Klobürste dabei und mimte den Pfarrer der Beerdigung, indem er immer wieder Wasser verspritzte. So erreichte der Trupp den Blauen Hund, wie das Wirtshaus hieß. Hier gab es noch mal Schnaps und Bier, auch für den Schaukelbremser, und man sang echte Sauflieder. Ich schrieb schon wieder und sammelte.
»O du edler Gerstensaft,
wie stärkst du meine Glieder,
gestern hast mi in Grohm neigschmissn,
heut probierst’s scho wieder.«
Irgendwann schließlich, es ging schon auf halb zwei zu, stand die Wirtin mit ihren – wahrscheinlich aufgrund einer Herzinsuffizienz – dick angeschwollenen Beinen im Raum, stemmte die Arme in die Seite und wetterte: »Schluss jetzt, die Sau is eigrohm. Ham geht’s!« Und, oh Wunder, die Männer machten sich fast ohne Widerspruch auf den Weg nach Hause. Der Zeilmann und der Malter mussten den Schaukelbremser inzwischen beinahe tragen, weil dieser kaum mehr gehen konnte. Der Zeilmann hatte noch eine Flasche Himbeer mitgenommen, setzte sie dem Bremser hin und wieder an den Mund und schien seinen Spaß daran zu haben. Oder war es versteckte Bosheit und Rache für die Zähne seiner Enkelin? Wir waren wohl auf halbem Weg zurück, da tönte der Bauer Eh noch einen letzten Vers in die Nacht:
»Wenn die Bauern dreschen,
dann hockt die Bäueri unterm Tisch
und dut ihr Bumbl messen,
wie tief und brad si is.«
Da ging drüben ein Fenster auf, und eine Frau schalt hinaus: »Hans, schau edds, dass d’ endli hamkummst, sonst kannst was erlehm, Himmlherrgottkreuzdunnerwetter. Was solln denn die Leut denkn!« Da wurde der Hans Eh schlagartig still und schlich sich nach Hause. Der Zeilmann und der Malter brachten den Bremser noch in seinen Wohnwagen – und kamen ohne die Flasche Himbeer wieder heraus.
»Ihr habt doch jetzt dem die Flasche nicht noch reingestellt?«, fragte ich ungläubig, aber der Zeilmann lachte bloß. »No wenner nachts an Doschd grichd?«
Dann endlich war Nachtruhe.
Und jetzt standen der Meindl und der Regenfuß aufgelöst an meinem Frühstückstisch. »Herr Dokter, Herr Dokter, schnell, kummer S’ schnell, der Bremser, der Bremser, Himmlherrgott scheiße, ich glab, der is hie.«
Ich ließ alles stehen und liegen und eilte mit den beiden hinaus. Vor dem Wohnwagen hatte sich schon eine kleine Menschenmenge angesammelt.
Der Schiffschaukelbremser war tot. Er lag inmitten von Erbrochenem, vielleicht war er daran erstickt. Sehr wahrscheinlich sogar, wie mir ein Blick in seinen Rachenraum zeigte. Also Aspiration. Außerdem zeigte er Anzeichen von Zyanose, der typischen Blaufärbung der Haut durch Sauerstoffmangel. Und das Risiko einer Aspiration ist erhöht, wenn das Bewusstsein durch Rauschzustände gestört ist. Anzeichen für Fremdeinwirkung waren keine zu erkennen, der Körper war längst erstarrt, also mindestens zwei Stunden tot. Der Vollständigkeit halber untersuchte ich die Hände, den Hals, den Kopf. Nichts, keinerlei Hinweise auf einen Kampf, eine Strangulation oder ähnliches. Das Innere des Wohnwagens war ziemlich verwahrlost. Ein Saustall. Hinweise auf Drogenmissbrauch? In Griffweite: Die Flasche Himbeergeist lag geöffnet und fast leer am Boden. Ich hatte genug gesehen, eigentlich hatte ich meinen Befund schon. Aber hatte der Bremser in seinem Zustand tatsächlich gestern