Der Golem. Gustav Meyrink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gustav Meyrink
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783843804424
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von mir abgelassen.

      Noch spürte ich im Hinterkopf die kalten Spuren ihrer Berührung.

      Nun wußte ich, wie der Fremde war, und ich hätte ihn wieder in mir fühlen können – jeden Augenblick –, wenn ich nur gewollt hätte; aber sein Bild mir vorzustellen, daß ich es vor mir sehen würde Auge in Auge – das vermochte ich noch immer nicht und werde es auch nie können.

      Er ist wie ein Negativ, eine unsichtbare Hohlform, erkannte ich, deren Linien ich nicht erfassen kann – in die ich selber hineinschlüpfen muß, wenn ich mir ihrer Gestalt und ihres Ausdrucks im eigenen Ich bewußt werden will –

      In der Schublade meines Tisches stand eine eiserne Kassette; in diese wollte ich das Buch sperren und erst, wenn der Zustand der geistigen Krankheit von mir gewichen sein würde, wollte ich es wieder hervorholen und an die Ausbesserung des zerbrochenen Initials »I« gehen.

      Und ich nahm das Buch vom Tisch.

      Da war mir, als hätte ich es gar nicht angefaßt; ich griff die Kassette an: dasselbe Gefühl. Als müßte das Tastempfinden eine lange, lange Strecke voll tiefer Dunkelheit durchlaufen, ehe es in meinem Bewußtsein mündete, als seien die Dinge durch eine jahresgroße Zeitschicht von mir entfernt und gehörten einer Vergangenheit an, die längst an mir vorübergezogen!

      Die Stimme, die nach mir suchend in der Finsternis kreist, um mich mit dem fettigen Stein zu quälen, ist an mir vorbeigekommen und hat mich nicht gesehen. Und ich weiß, daß sie aus dem Reiche des Schlafes stammt. Aber was ich erlebt, das war wirkliches Leben – darum konnte sie mich nicht sehen und sucht vergeblich nach mir, fühle ich.

      PRAG

      Neben mir stand der Student Charousek, den Kragen seines dünnen, fadenscheinigen Überziehers aufgeschlagen, und ich hörte, wie ihm vor Kälte die Zähne aufeinanderschlugen.

      Er kann sich den Tod holen in diesem zugigen, eisigen Torbogen, sagte ich mir, und ich forderte ihn auf, mit hinüber in meine Wohnung zu kommen.

      Er aber lehnte ab.

      »Ich danke Ihnen, Meister Pernath«, murmelte er fröstelnd, »leider habe ich nicht mehr so viel Zeit übrig; ich muß eilends in die Stadt. – Auch würden wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt auf die Gasse treten wollten – schon nach wenigen Schritten! Der Platzregen will nicht schwächer werden!«

      Die Wasserschauer fegten über die Dächer hin und liefen an den Gesichtern der Häuser herunter wie ein Tränenstrom.

      Wenn ich den Kopf ein wenig vorbog, konnte ich da drüben im vierten Stock mein Fenster sehen, das, vom Regen überrieselt, aussah, als seien seine Scheiben aufgeweicht – undurchsichtig und höckerig geworden wie Hausenblase.

      Ein gelber Schmutzbach floß die Gasse herab, und der Torbogen füllte sich mit Vorübergehenden, die alle das Nachlassen des Unwetters abwarten wollten.

      »Dort schwimmt ein Brautbukett«, sagte plötzlich Charousek und deutete auf einen Strauß aus welken Myrten, der in dem Schmutzwasser vorbeigetrieben kam. Darüber lachte jemand hinter uns laut auf.

      Als ich mich umdrehte, sah ich, daß es ein alter, vornehm gekleideter Herr mit weißem Haar und einem aufgedunsenen, krötenartigen Gesicht gewesen war.

      Charousek blickte ebenfalls einen Augenblick zurück und brummte etwas vor sich hin.

      Unangenehmes ging von dem Alten aus – ich wandte meine Aufmerksamkeit von ihm ab und musterte die mißfarbigen Häuser, die da vor meinen Augen wie verdrossene alte Tiere im Regen nebeneinanderhockten. Wie unheimlich und verkommen sie alle aussahen!

      Ohne Überlegung hingebaut standen sie da, wie Unkraut, das aus dem Boden dringt.

      An eine niedrige, gelbe Steinmauer, den einzigen standhaltenden Überrest eines früheren, langgestreckten Gebäudes, hat man sie angelehnt – vor zwei, drei Jahrhunderten, wie es eben kam, ohne Rücksicht auf die übrigen zu nehmen. Dort ein halbes, schiefwinkliges Haus mit zurückspringender Stirn, – ein andres daneben: vorstehend wie ein Eckzahn.

      Unter dem trüben Himmel sahen sie aus, als lägen sie im Schlaf, und man spürte nichts von dem tückischen, feindseligen Leben, das zuweilen von ihnen ausstrahlt, wenn der Nebel der Herbstabende in den Gassen liegt und ihr leises, kaum merkliches Mienenspiel verbergen hilft.

      In dem Menschenalter, das ich nun hier wohne, hat sich der Eindruck in mir festgesetzt, den ich nicht loswerden kann, als ob es gewisse Stunden des Nachts und im frühesten Morgengrauen für sie gäbe, wo sie erregt eine lautlose, geheimnisvolle Beratung pflegen. Und manchmal fährt da ein schwaches Beben durch ihre Mauern, das sich nicht erklären läßt, Geräusche laufen über ihre Dächer und fallen in den Regenrinnen nieder – und wir nehmen sie mit stumpfen Sinnen achtlos hin, ohne nach ihrer Ursache zu forschen.

      Oft träumte mir, ich hätte diese Häuser belauscht in ihrem spukhaften Treiben und mit angstvollem Staunen erfahren, daß sie die heimlichen eigentlichen Herren der Gasse seien, sich ihres Lebens und Fühlens entäußern und es wieder an sich ziehen können – es tagsüber den Bewohnern, die hier hausen, borgen, um es in kommender Nacht mit Wucherzinsen wieder zurückzufordern. Und lasse ich die seltsamen Menschen, die in ihnen wohnen wie Schemen, wie Wesen – nicht von Müttern geboren –, die in ihrem Denken und Tun wie aus Stücken wahllos zusammengefügt scheinen, im Geiste an mir vorüberziehen, so bin ich mehr denn je geneigt zu glauben, daß solche Träume in sich dunkle Wahrheiten bergen, die mir im Wachsein nur noch wie Eindrücke von farbigen Märchen in der Seele fortglimmen.

      Dann wacht in mir heimlich die Sage von dem gespenstischen Golem, jenem künstlichen Menschen, wieder auf, den einst hier im Getto ein kabbalakundiger Rabbiner aus dem Elemente formte und ihn zu einem gedankenlosen automatischen Dasein berief, indem er ihm ein magisches Zahlenwort hinter die Zähne schob.

      Und wie jener Golem zu einem Lehmbild in derselben Sekunde erstarrte, in der die geheime Silbe des Lebens aus seinem Munde genommen ward, so müßten auch, dünkt mich, alle diese Menschen entseelt in einem Augenblick zusammenfallen, löschte man irgendeinen winzigen Begriff, ein nebensächliches Streben, vielleicht eine zwecklose Gewohnheit bei dem einen, bei einem andern gar nur ein dumpfes Warten auf etwas gänzlich Unbestimmtes, Haltloses – in ihrem Hirn aus.

      Was ist dabei für ein immerwährendes, schreckhaftes Lauern in diesen Geschöpfen!

      Niemals sieht man sie arbeiten, diese Menschen, und dennoch sind sie früh beim ersten Leuchten des Morgens wach und warten mit angehaltenem Atem – wie auf ein Opfer, das doch nie kommt.

      Und hat es wirklich einmal den Anschein, als träte jemand in ihren Bereich, irgendein Wehrloser, an dem sie sich bereichern könnten, dann fällt plötzlich eine lähmende Angst über sie her, scheucht sie in ihre Winkel zurück und läßt sie von jeglichem Vorhaben zitternd abstehen.

      Niemand scheint schwach genug, daß ihnen noch so viel Mut bliebe, sich seiner zu bemächtigen.

      »Entartete, zahnlose Raubtiere, von denen die Kraft und die Waffe genommen ist«, sagte Charousek zögernd und sah mich an.

      Wie konnte er wissen, woran ich dachte?

      So stark facht man zuweilen seine Gedanken an, daß sie imstande sind, auf das Gehirn des Nebenstehenden überzuspringen wie sprühende Funken, fühlte ich.

      »– – – wovon sie nur leben mögen?« sagte ich nach einer Weile.

      »Leben? Wovon? Mancher unter ihnen ist ein Millionär!«

      Ich blickte Charousek an. Was konnte er damit meinen!

      Der Student aber schwieg und sah nach den Wolken.

      Für einen Augenblick hatte das Stimmengemurmel in dem Torbogen gestockt, und man hörte bloß das Zischen des Regens.

      Was er nur damit sagen will: »Mancher unter ihnen ist ein Millionär!«?

      Wieder war es, als hätte Charousek meine Gedanken erraten.

      Er