Die Jahre darauf sind vor allem von Pascals engagiertem Eingreifen in die Auseinandersetzung um den Jansenismus geprägt. Unter dem Pseudonym Louis de Montalte verfasst er in scharfem polemischem Stil die vielbeachteten Lettres à un Provincial, mit denen er diese wohl wichtigste religiöse Kontroverse seiner Zeit wesentlich mitprägt. Über die damalige theologische Auseinandersetzung hinaus gelten die Lettres Provinciales aufgrund ihres eleganten Stils vielen als die Geburtsstunde des modernen Französisch.
Für Pascals intensive Beschäftigung mit religiösen Fragen war ein außergewöhnliches Ereignis – nämlich die als »Wunder« interpretierte Spontanheilung seiner Nichte (zugleich sein Patenkind) – von nicht unerheblicher Bedeutung: Die junge Marguerite Périer litt an einer ständig nässenden Fistel am Auge, die ausgebrannt werden sollte. Nach der Berührung einer Reliquie (eines Dornes der vermeintlichen Dornenkrone Jesu) kam es zu einer aufsehenerregenden Spontanheilung, die Pascal auch für sich selbst als providenziell empfand. Die in den Pensées enthaltenen Reflexionen über das Wunder haben dieses Ereignis zum äußeren Anlass.
Die letzten Lebensjahre Pascals – von 1658 bis 1662 – sind trotz erheblicher krankheitsbedingter Einschränkungen in vielerlei Hinsicht von erstaunlicher Schaffenskraft auf allen Gebieten geprägt. Er widmet sich weiter der Kampagne gegen den moralischen Laxismus der Jesuiten, mathematisch beschäftigt er sich mit dem Problem der Zykloide (d.h. der Kurve, die ein an der Peripherie eines sich vorwärts bewegenden Rades befestigter Nagel beschreibt) und zusammen mit dem Herzog von Roannez schafft er das erste Omnibussystem für Paris. Pascal lebt in dieser Zeit in äußerster Bescheidenheit und legt eine außerordentliche Fürsorge für die Armen an den Tag, denen er auch seine Einkünfte überlässt. In diese letzten Lebensjahre fällt auch die gedankliche Vorbereitung auf sein großes geplantes Werk, einer Apologie der christlichen Religion, das er nicht vollenden konnte. Die nahezu neunhundert Textfragmente, die man nach seinem Tod finden sollte und aus denen dann ein Werk von weltliterarischem Rang werden sollte, die Pensées, kann man zum überwiegenden Teil den Vorarbeiten zu dieser geplanten Apologie zuordnen.3
Zur bleibenden Bedeutung der Pensées
Pascals Notizen und Reflexionen hatten trotz ihres unabgeschlossenen, aphoristischen Charakters in die Zukunft weisende Bedeutung und sind seinem großen Antipoden, René Descartes, in vieler Hinsicht überlegen. Dies gilt zunächst in wissenschaftstheoretisch-methodologischer Hinsicht. Die Mathematik etablierte sich mit ihren klaren Definitionen und ihren strengen Schlussfolgerungen aus Anfangsprinzipien als der Idealtypus jeglicher Erkenntnis überhaupt. Pascal setzt nun dieser Art von Rationalität keineswegs einen irgendwie gearteten Irrationalismus entgegen, er leistet vielmehr eine immanente Kritik mathematischer Erkenntnis und zeigt scharfsinnig auf, dass sich die Mathematik nicht selbst begründen kann. Ihre Methode des Definierens und Beweisens stößt auf notwendige innere Grenzen. Die letzten Axiome, von denen sie auszugehen hat, sind selbst nicht mehr rational ableitbar, sondern nur noch intuitiv erfassbar. Die Mathematik weist so ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit folgend über sich hinaus. Damit nimmt Pascal Einsichten der großen Mathematiker und Logiker des 20. Jahrhunderts (Frege, Russell, Whitehead, Gödel …) über die inneren Grenzen des Formalisierens vorweg: Ein geschlossenes formales System, das in sich selbst völlig rational begründbar wäre, also sein eigenes Metasystem bildete, ist demnach nicht möglich. Mathematische Erkenntnis verweist somit stets auf ein Eingebettetsein in einen größeren Zusammenhang. Pascal bringt in diesem Kontext das vieldeutige Wort cœur, Herz, ins Spiel, das zu so vielen Missverständnissen Anlass gab. Es hat nichts mit Sentimentalität in unserem banalen Sinne zu tun. Philippe Sellier hat das mit »Herz« bei Pascal Gemeinte folgendermaßen zu erfassen versucht: »Das Herz bei Pascal ist der Sitz innerer, unmittelbarer, nicht beweisbarer Erkenntnisse: Diese Erkenntnisse sind wesentlich, sei es, weil sie den Ausgangspunkt aller anderen darstellen (die ersten Grundsätze wie etwa, Sein, dreidimensional, das Ganze größer als die Teile …), sei es, weil sie die Lebensführung bestimmen (Spürsinn, Geschäftssinn, ästhetisches Empfinden, Intuitionen jeglicher Art), sei es, weil sie dem Menschen das offenbaren, was ihn am meisten betrifft, sein Schicksal. Über diese breite Erkenntnistätigkeit hinaus […] umfasst das Herz die Gesamtheit des Willens mitsamt seinen unbewussten Neigungen oder bewussten Wünschen, seine Entscheidungen, seine Freuden oder seine Gewissensbisse. Es umfasst auch das moralische Gewissen. Die Dynamik, mit welcher sich der Mensch an die Tat macht, liegt ihm voraus. Das Herz meint also die Tiefe und Spontaneität, unser wahres Sein. Die Einbildungskraft und die Vernunft, die ihm fremd sind, stellen nur die Oberfläche des Menschen dar. Insbesondere innerhalb einer religiösen Perspektive ist das Herz die Wahrheit des Menschen: Die Fähigkeit des Unendlichen, des Absoluten.« (Sellier 1991, 45–46). Damit wird vor allem deutlich, dass Pascals methodologische und erkenntnistheoretische Überlegungen und sein denkerisches Durchdringen der menschlichen Existenz nicht zwei voneinander unabhängige Sphären darstellen, sondern unmittelbar zusammenhängen. Eine konsequente Reflexion des menschlichen Erkenntnisvermögens mündet per se im Nachdenken über das Ich und seine exponierte Stellung im Universum.4
Wissenschaftstheoretisch ist noch in anderer Hinsicht ein wesentlicher Unterschied zu Descartes festzuhalten: Während für Letzteren die – formale – Mathematik auch der Weg zu jeglichem materialen Erkenntnisgewinn ist, insistiert Pascal auf der methodischen Eigenständigkeit der empirischen Erkenntnis. Nicht Deduktion allein, sondern die empirische Überprüfung von Hypothesen sichert Erkenntnis in diesem Bereich. Pascals methodologische Überlegungen führen ihn schließlich zu jenem Falsifizierbar-keitskriterium5, das Karl Popper im 20. Jahrhundert zum wissenschaftstheoretischen Standard erhebt.
Des Weiteren gelangt Pascal gerade aufgrund der Naturforschung zu einer positiven Würdigung der Tradition und Geschichtlichkeit des Denkens. Während Philosophen der Aufklärung in der Regel Vernunft und Tradition abstrakt einander gegenüberstellen, zeigt Pascal, dass menschliches Wissen sich entwickelndes Wissen ist, dass es sich gerade durch seine Perfektibilität im Gegensatz zu einer statischen Festgelegtheit auszeichnet, dass Wissensfortschritt immer an einen Kontext gebunden ist und einen Zeitindex trägt.
Vor allem aber hat Pascal seine bleibende Bedeutung als Denker der menschlichen Existenz. Wiederum ist der Vergleich mit René Descartes erhellend. Letzterem geht es um die Gewissheit des Denkens, der theoretischen Welterkenntnis. Sein »methodischer Zweifel« führt ihn schließlich zu seinem Cogito, ergo sum als dem unerschütterlichen Fundament der Wahrheit und Gewissheit. Pascal aber, in dessen Pensées die Auseinandersetzung zwischen Skeptikern (»Pyrrhoniker«) und Dogmatisten eine große Rolle spielt, geht es um die Ungesichertheit, Ausgesetztheit, Bedrohtheit der menschlichen Existenz überhaupt, um sein Verlorensein im unermesslichen All, sein »Sein zum Tode«, die Widersprüchlichkeit seiner Existenz. Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse seiner Zeit, die Erschließung sowohl des Mikro- wie des Makrokosmos, werfen den Menschen gerade auf sich selbst und seine Fragilität zurück. Gerade das, was seine Größe ausmacht und ihn heraushebt aus allen anderen Seinsarten, die Fähigkeit zu denken, ist gleichzeitig auch Grund seines Elends. In unübertrefflichen Formulierungen kennzeichnet Pascal den Menschen als »Mitte zwischen Nichts und All«. Nicht das »Ich« des »cogito« Descartes‹, sondern vielmehr das existenzielle Ich, das menschliche