Bonusland. Götz Nitsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz Nitsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783958892125
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das kommende Jahr vorgenommen hatte, daher führte mich mein erstes Ticket ins immer heiße, immer dampfende El Salvador. Runter mit dem Mantel, runter mit den Sitzpolstern, runter mit den langen Haaren! Raus aus Deutschland, raus aus der Komfortzone und rein ins Abenteuer! Auf ins staubige Abgas der Panamericana! Ein Jahr westwärts, das war die Devise, mal abgesehen von der Nord-Süd-Bewegung auf dem amerikanischen Kontinent. In jedem Fall: Ein Jahr dem Sommer folgen. Strände, Dschungel, Freiheit! Ein Jahr Entschleunigung. Und dann? Vielleicht noch eins, mal sehen. Eine letzte Umarmung, eine letzte Tasse Tee am Flughafen, und ich war weg. Was ich wohl entdecken würde?

      Ziemlich viel, stellte ich bald fest, nur nicht mein Gepäck. Eine Viertelweltumrundung später stand ich am Kofferband und sah ratlos nach links und rechts. Die Suche nach dem großen Abenteuer war fürs Erste einer Suche nach dem kleinen Rucksack gewichen. Ein Passagier nach dem anderen griff sich seinen Koffer vom Band, bis schließlich keiner mehr übrig war. Übrig blieben lediglich ich und ein weiterer Deutscher, der dieselbe Flugroute über Santo Domingo und Panama City hinter sich hatte. Irgendwann, viel zu spät, beschlich uns das Gefühl, unseren Einsatz verpasst zu haben in dieser Variation eines Spielklassikers: der Reise nach Jerusalem mit Gepäck anstelle von Stühlen.

      Eigentlich bin ich ein Angsthase. Das habe ich vielleicht vergessen zu erwähnen, ist aber nicht ganz unwichtig. Denn früher hatte ich Angst vorm Nikolaus, und als der Pumuckl aus Versehen die Werkstatt vom Meister Eder anzündete, habe ich mich unterm Tisch verkrochen. Im Schwimmbad traute ich mich nicht, einen Salto vom Beckenrand zu machen, weil ich Angst hatte, mir den Kopf aufzuschlagen und zu verbluten. Ich habe in meinem ganzen Leben nie an einer Zigarette gezogen, nicht ein einziges Mal, weil ich Angst hatte, sofort süchtig zu sein. Und während meiner gesamten Schulzeit habe ich mich nie getraut, das Mädchen anzusprechen, das ich mochte. Vielleicht war das auch der Grund, warum ich allein reisen wollte: Um meine Angst zu überwinden. Doch nun fühlte ich mich so verlassen wie noch nie in meinem Leben.

      Der Flughafen von San Salvador hatte den Charme eines sibirischen Busbahnhofs. Und in diesem Augenblick versprühte die Höhe der Decke ein Gefühl der Einsamkeit wie sonst nur die russische Tundra. Mit dem Unterschied, dass ich schwitzte, denn ich trug noch immer die lange Hose, die mir im deutschen Spätherbst geeignet erschienen war.

      Das Gepäckband drehte so quietschend und nutzlos seine Runden wie die angeschimmelten Ventilatoren an der Hallendecke. Als auch der letzte Mitflieger der Putzkolonne gewichen war, bewegte sich ein Flughafenmitarbeiter zielstrebig, aber offensichtlich wider-willig auf uns zu. In seiner Hand hielt er einen Zettel, auf dem mein Name stand. Ein paar Mal versuchte er, ihn auszusprechen, dann hielt er ihn mir hilfesuchend unter die Nase. »Eres tú?«, fragt er.

      »Sí«, antwortete ich. Verunsichert folgte ich dem Mann in ein kleines Büro. Der andere Deutsche, der dasselbe Problem hatte, folgte uns unauffällig. Der schwitzende Tico erklärte uns die Sachlage. Es war schon bekannt, dass mein Rucksack verschwunden war, nur leider wusste niemand, wohin. Was nun?

      Ich hatte zwar keine Reservierung, aber immerhin übers Internet die Adresse eines Hostels für die erste Nacht rausgesucht und schrieb sie dem Arbeiter auf einen Zettel. Hoffentlich hatten die überhaupt noch ein Zimmer frei. Und hoffentlich würde der Flughafenmitarbeiter meinen Zettel nicht gleich verlieren. Von Computern hatte man in El Salvador bislang offenbar nur am Rande was mitbekommen. Es stand zwar ein fescher Röhrenmonitor auf dem Tisch, doch offenbar nur zur Dekoration.

      Meinem Bruder in der Not erging es ebenso, und da er nichts weiter geplant hatte, hängte er sich an mich dran.

      »Und jetzt?«, fragte er mich, als wir zurück in die Halle traten. In seinen Augen sah ich, dass er mindestens so verunsichert war wie ich. Also riss ich mich zusammen und tat so, als hätte ich die Lage im Griff.

      »Ich kenne mich aus«, sagte ich. »Zu dem Gasthaus finden wir locker.«

      Entschlossen schritten wir aus dem Flughafengebäude, bereit für die volle Dröhnung Abenteuer. Und Mittelamerika empfing uns mit einer Breitseite. Die Hitze schlug uns ins Gesicht wie Rocky Balboa die Schweinehälfte. Es war schwülheißer als in Miami im Juli. Der Asphalt brannte. Palmen säumten die Parkplätze. Vor den Bergen in der Ferne drehten Geier ihre Runden. Taxifahrer bedrängten uns, versuchten, uns unser Handgepäck aus den Händen zu reißen. Wir schüttelten sie ab und nahmen Kurs auf die Bushaltestelle am anderen Ende des Parkplatzes. Nach der halben Strecke klebte die Jeans an meinen Beinen. Ein kleines Stück weiter bildeten die Socken Schwimmhäute zwischen meinen Zehen und prusteten seitlich Schweiß wie durch Kiemen in meine viel zu dicken Skateschuhe.

      »Ein Glück, dass wir keinen schweren Rucksack tragen müssen«, versuchte ich zu scherzen. Mein Reisebegleiter grunzte missmutig. Wo war der Bus? Auf der Suche nach einer Zeittafel wichen wir den Obstverkäufern aus, die uns an den Grenzen des Flughafengeländes auflauerten.

      Der Bus kam eher selten, wie sich herausstellte, denn der Flughafen lag etwas abseits der Panamericana. Aber findige Ticos hatten das Nischengeschäft für sich entdeckt, und so forderte uns kurz darauf der Beifahrer eines Pick-ups auf, hinten auf die Ladefläche aufzuspringen. In der verzweifelten Hoffnung auf ein wenig Abkühlung durch den Fahrtwind fackelten wir nicht lange.

      Früher hatte ich angenommen, der Begriff »voll« in Bezug auf Autos sei hinreichend definiert. Ein Reisebus hat um die fünfzig Sitzplätze, ein Golf hat fünf und ein Pick-up zwei. So dachte ich. In anderen Kulturen scheint »voll« allerdings ein dehnbarer Begriff zu sein, ähnlich wie Verkehrssicherheit, Hygienestandards und Rechtsstaatlichkeit. Voll ist ein Fahrzeug in El Salvador dann, wenn sich auf der einen Seite ein Passagier hineinquetscht und dafür am anderen Ende einer herauspurzelt. Und dann ist noch Platz für zwei Kinder. Dieser Pick-up war nicht voll – er war schweinetransportervoll.

      Dankbar für die Tatsache, dass ich einen Kopf größer bin als die meisten Ticos, griff ich über die Köpfe hinweg nach dem Geländer unseres Beförderungsmittels und verteilte meinen Moschusduft an die Mitfahrer. Wie die Würstchen im Glas schossen wir kurz darauf über die Panamericana, durchgeschüttelt bei dem verzweifelten und erfolglosen Versuch, die zahllosen Schlaglöcher dieser Sehnsuchtsstraße zu umkurven. Meine Sehnsucht bezog sich in diesem Augenblick allerdings eher auf das Ziel meiner Reise. Nein, nicht der Weg war in diesem Fall mein Ziel, sondern das verdammte Ziel. La Libertad. Hupend und fluchend überholten wir und wurden überholt, schossen um Haaresbreite an entgegenkommenden Autos vorbei und hielten alle paar Kilometer an, um einen Passagier auszuspucken oder noch einen quer reinzuschieben.

      Ich stellte bald fest, dass neun von zehn Pkw in El Salvador Pickups sind. Es sind die Autos einfacher Menschen, Bauern zumeist, in der Regel die Grundbesitzer, die etwas mehr Vermögen haben als die einfachen Landarbeiter. Sie lesen bei jeder Leerfahrt am Straßenrand wartende Menschen auf, denen der Bus zu teuer oder zu langsam ist, bis kein Löschpapier mehr dazwischen passt, das nicht in drei Sekunden schweißgetränkt wäre. Ich war froh, als der Fahrer endlich für uns anhielt.

      Im Hostel pulte ich die Reste meiner Socken von den Zehen und schätzte mich glücklich, dass ich mich ohne die Hilfe einer Fleischerschere aus der Hose befreien konnte. Mit einem Jauchzer der Erleichterung sprang ich, nur mit der durchgeschwitzten Unterhose bekleidet, in den Pool. Und da blieb ich erst mal sitzen – für volle drei Tage.

      An meinem zweiten Abend war ich so weit abgekühlt, dass ich mir bei einem Cuba Libre langsam Gedanken über meine Situation machen konnte. Ich war da, das begriff ich allmählich. Ich war im Abenteuer angelangt. Es hatte mich gefunden, kaum dass ich einen Fuß auf den Boden Mittelamerikas gesetzt hatte. Ich war per Anhalter die Panamericana entlanggebraust. Mit nichts außer den Kleidern, die ich auf dem Leib trug, und der Kreditkarte, die ich natürlich im Handgepäck bei mir hatte. Der freundliche Hostel-Besitzer hatte ein Herz für meine Situation, was gut war, denn ein Kreditkarten-Lesegerät hatte er nicht. Er vertraute darauf, dass ich irgendwann schon würde bezahlen können. Was uns verband, war vor allen Dingen unsere Liebe zu El Salvador und zu Rum mit Cola. Gutgelaunt servierte er mir ein weiteres Glas direkt an den Pool.

      Ich befand mich inmitten einer Geschichte, die ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt