Bonusland. Götz Nitsche. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Götz Nitsche
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783958892125
Скачать книгу
werdenden Tagen der Nordhalbkugel zu erfreuen, kämpfe ich mich durch den neuseeländischen Herbst. Ich lebe auf der Straße. Nachts idealerweise neben ihr oder auch darunter, wenn sich eine schützende Brücke findet. Ich wasche mich in Flüssen und koche mein Essen auf einem wackeligen Campinggerät. Wenn ich durch eine größere Stadt fahre, stocke ich meine Vorräte auf. Wenn ich mal mit Menschen ins Gespräch komme, bin ich nach kurzer Zeit heiser, denn meine Stimmbänder haben sich längst an das Schweigen gewöhnt. Und wenn ich dann mal die Gelegenheit finde, mit der Welt, die ich zu Hause zurückließ, in Kontakt zu treten, dann lese ich von Studienfreunden, die längst die Weichen für ihre Karriere gestellt haben. Darum müsste ich mich auch mal kümmern. Ein Einstieg bei einem der großen Energieversorger wäre vielleicht nicht schlecht. Warum zögere ich es hinaus, indem ich den Arsch der Welt mit meinem Arsch auf dem Fahrrad erkunde?

      Nach dem Abschluss des Diploms erschien es mir wie die letzte Gelegenheit vor der Rente, noch mal ein Abenteuer zu erleben. Einmal um die Welt, dem Sommer hinterher. Sommer, denke ich sehnsüchtig. Das war der Plan gewesen. Was mache ich also im neuseeländischen Herbst ohne eine ordentliche Jacke, auf einem Fahrrad in diesem unwirtlichen Landstrich?

      Ich kämpfe gegen den Wunsch an, das hier alles abzubrechen. Das Fahrrad die Klippe hinunterzustoßen und zum nächsten Flughafen zu trampen. Mich dort in ein warmes Hotel einzubuchen und am nächsten Tag nach Hause zu fliegen. Ich könnte für ein paar Monate bei meinen Eltern unterkommen und bald mein eigenes Geld verdienen. Endlich finanziell unabhängig sein. Endlich eine eigene Wohnung haben. Endlich arbeiten.

      Nein!, denke ich unvermittelt. Das will ich nicht!

      Mit einem Mal wird mir klar, dass diese Reise viel mehr ist als ein letztes großes Abenteuer. Ich will kein Ingenieur sein. Ich will keinen Job im Büro. Ich will nicht von jetzt an bis zur Rente jeden Tag am Schreibtisch sitzen und immerfort dasselbe machen. Ich will nicht nach Hause zurück!

      Plötzlich beginne ich zu schreien. Ich schreie gegen den Regen, gegen den Berg, ich schreie dieses Leben in Grund und Boden. Wieder und wieder platzt es aus mir heraus, dass der Regen erschrocken zurückzuweichen scheint. Der gesamte Frust, der sich in mir aufgestaut hat, bahnt sich seinen Weg nach oben. Ich schreie, bis mir die Luft zum Radfahren fehlt. Schreie im Nirgendwo, die niemand hört außer ich selbst. Die Wolken verschlucken den letzten Ton, bevor er vom Berg widerhallt. Dieser verfluchte Berg, der nicht enden will, diese durchnässte Kleidung, die mich und meine Stimmung nach unten zieht. Und das Leben, das mich zu Hause erwartet. Darum, denke ich bei mir. Darum tue ich mir das an.

      Doch diese Erkenntnis bringt keine Erleichterung, im Gegenteil. Mit einem Mal spüre ich eine riesige Panik vor meiner Rückkehr. Und die Frage nach dem Warum weicht der Frage nach dem Wie. Wie konnte es nur so weit kommen?

      Eine große Reise

      Fünf Monate zuvor

      Seien wir doch mal ehrlich: Es existieren grundsätzlich zwei Arten zu reisen. Es gibt zum einen die Pauschalreise, in der man die Organisation einem Veranstalter überlässt, sich pünktlich mit der Reisegruppe am vereinbarten Ort einzufinden hat und ansonsten lediglich herausfinden muss, welches der kürzeste Weg vom Zimmer zum Pool ist.

      Zugegeben, es kann gute Gründe dafür geben, sich einer Reisegruppe anzuschließen. Wenn man den Everest besteigen will zum Beispiel. Oder wenn man sich einer Expedition in die Antarktis anschließt. Das wären ungünstige Orte, um sich zu verlaufen, das kann ich nicht abstreiten. Da wäre ein Gruppenführer hilfreich.

      Doch im November nach meinem Studium sah ich in dieser Art zu reisen keinen Reiz. Ich meine, hätte ich ein Angebot gefunden, mit meinem verfügbaren Budget bis auf den Everest oder an den Südpol zu gelangen, hätte ich vielleicht zugeschlagen. Da mir dies jedoch unwahrscheinlich erschien, zog mich die zweite Art zu reisen in ihren Bann: die Rucksackreise.

      Die Rucksackreise ist der coole Bruder der Pauschalreise. Auf einer Rucksackreise nimmt man die Organisation selbst in die Hand, kümmert sich vor Ort um die nächsten Ausflüge und Tagesetappen und sucht sich seine Unterkunft erst bei Einbruch der Dunkelheit. Die Rucksackreise ist der Profisurfer, die Pauschalreise ist der Nerd, der online Billabong-Klamotten shoppt.

      Hätte ich in jenem November eine geführte Reise angetreten, wäre ich mir vorgekommen, wie auf meinen ersten Partys als Student: Anstatt die geheimnisvolle Hübsche anzusprechen, die den Reiz des Abenteuers ausstrahlte, machte ich dort eher mit der molligen Freundin der Hübschen herum. Ich meine, die Mädchen sahen schon okay aus, und am Ende war es definitiv besser, als wenn ich zu Hause geblieben wäre. Aber im Grunde war es dieselbe Routine wie sonst auch immer, und am nächsten Morgen blieb die Frage: Was wäre gewesen, wenn?

      Nein, dieses Mal suchte ich unbedingt das Abenteuer. Also packte ich meinen Rucksack mit nichts als Kleidung für den Sommer und kaufte ein Ticket nach Mittelamerika.

      Meine Mutter fiel aus allen Wolken, als sie begriff, wie lange ich wirklich vorhatte zu reisen.

      »Ein Jahr?«, fragte sie. »Ein ganzes Jahr? Welcher Arbeitgeber soll dich denn dann noch wollen?«

      Ich zuckte mit den Schultern. Den Gedanken wollte ich nicht an mich heranlassen. Ich sah das so: Für einen Chef, der ein Problem damit hatte, dass ich nach dem Studium erst mal für ein Jahr die Welt erkundete, wollte ich ohnehin nicht arbeiten. Ansonsten würde ich mir darüber Gedanken machen, wenn ich zurückkäme.

      »Sicher, dass drei Monate nicht reichen?«, fragte sie.

      »Vielleicht werden es auch zwei Jahre«, gab ich zurück. Denn jetzt, unmittelbar vor dem Start ins Berufsleben, hatte ich das Gefühl, dass mir womöglich zum letzten Mal das kostbarste Gut der ersten Welt zur Verfügung stand: Zeit. Nein, die Dauer meiner Reise war nicht verhandelbar.

      Meine Mutter bestand darauf, mich zum Bahnhof zu fahren. Da ich meine Wohnung gekündigt und all meinen Besitz wieder bei meinen Eltern untergebracht hatte, war ich ihr diesen Gefallen wohl schuldig. Unmittelbar vor dem Abschied verdrückte sie ein paar Tränen. Das erwischte mich eiskalt, damit hatte ich nicht gerechnet. Kurz vor der letzten Umarmung sah ich dieses Blitzen in ihren Augen. Was gab es denn da zu weinen? Immerhin war ich schon öfter für längere Zeit im Ausland gewesen. Aber ein Jahr war eine lange Zeit, das musste ich zugeben. Machte sich meine Mutter etwa Sorgen um mich?

      Keine Ahnung, woher das rührte. Vielleicht, weil ich dieses Jahr unbedingt allein verbringen wollte. Ich hatte mir nicht mal die Mühe gemacht, nach einem Reisepartner zu suchen. Ich war gern allein. So vermied man Konflikte am effektivsten. Mir erschien es friedvoller. Meine Mutter hingegen hielt es wohl für verrückt. Ich konnte es ihr nicht übel nehmen, aber musste sie sich deswegen gleich Sorgen machen? Für mich war es unvorstellbar, ein Jahr mit einem Freund oder einer Partnerin zu reisen – daran musste in meinen Augen auch die stärkste Beziehung zugrunde gehen.

      Der Gedanke, allein zu reisen, erschien mir daher nur logisch. Doch ich hatte schon häufig feststellen müssen, dass die Dinge nur so lange einen perfekten Sinn ergaben, solange ich sie für mich behielt. Ich wollte allein reisen. Punkt. Aus. Ende. Sollten andere das doch anders sehen. Sobald ich mich auf Diskussionen einließ, stand ich unter Stress. Das waren ganz generell keine guten Voraussetzungen für eine Reise mit Freunden. Von einer Beziehung ganz zu schweigen. Damit wäre das Thema also auch geklärt: Eine Freundin gab es nicht, die mich zurückgehalten hätte. Nicht mehr. Bei dem Gedanken entfuhr mir ein Seufzer. Meine erste und gleichzeitig auch meine letzte Beziehung lag noch nicht lange zurück. Und sie hatte – wie wohl die meisten Beziehungen – nicht gut geendet.

      Während die kahlen Felder vor dem Fenster des ICE vorüberzogen, der mich zum Flughafen brachte, strich ich mir nachdenklich über den ebenso kahlen Kopf. Vielleicht lag die Sorge meiner Mutter auch darin begründet, dass ich in Vorfreude auf ein Jahr Sommer einen Aufsatz auf meinen Rasierer gesteckt und auf meinem Schädel Tabula rasa gemacht hatte. Die Frisur sah ein wenig gewöhnungsbedürftig aus, das musste ich wohl zugeben. Ich sah aus wie einer jener verwirrten jungen Männer, die man heutzutage auf Pegida-Demonstrationen antrifft. Besorgniserregend? In den Augen meiner Mutter ganz bestimmt.

      Es