»Das stimmt.« Aurelias Stimme klang hart. »Aber es leben nicht wenige Posbis ... jedenfalls nicht grundsätzlich. Aber die meisten haben keinen Plasmaanteil. Im Gegensatz zu mir simulieren sie allerdings keine Persönlichkeit, sondern sind im Grunde Roboter. Man hat ihnen das Wertvollste geraubt: ihre Existenz.«
»Was?« Marli hoffte, sich verhört zu haben. »Du willst sagen, man hätte ihnen das Plasma entfernt? Aber das ist Mord!«
»Es kann wieder eingesetzt werden«, sagte Aurelia. »Es wird verwahrt. Angeblich in einer Art Stasiskammer.«
»Von Stahmon?«, fragte Atlan.
»Ja.« Aurelia flog unruhiger, als würde sie allein die Nennung des Namens durcheinanderbringen. Die violetten Strukturen in ihrem Inneren leuchteten schwächer. »Offensichtlich beseitigt Stahmon auf diese Weise jene, die ihm im Weg stehen. Er scheint weit mehr ein Diktator als ein Kommandant zu sein.«
Aurelia lenkte sie in einen kahlen Gang, der wohl eine Art stillgelegter Versorgungsschacht war. Sie schien sich bestens auszukennen. Bisher hatten sie kein Schott öffnen müssen. Die Wege waren frei.
»Das passt«, sagte Gucky. »Die Posbis, die ich espern kann, sind in sich zurückgezogen. Ihre Furcht vor Stahmon bestimmt sie. Aber an Stahmon selbst komme ich nicht heran. Einmal hatte ich einige Gedanken, die von ihm stammen könnten, doch sie waren gleich wieder fort.«
In Marli tobte schwarze Wut. »Er hat ihnen die Plasmaanteile entfernt?«
Gucky kniff die Augen zusammen. »Glaub nicht, dass uns das entgangen wäre oder gleichgültig ist! Ich werde mir diesen Stahmon früher oder später höchstpersönlich vorknöpfen, und dann ...«
»Später«, unterbrach Atlan. »Nicht früher. Zuerst brauchen wir mehr Informationen. Aurelia, was weißt du über Stahmon?«
»Nichts mit Gewissheit. Die Aussagen widersprechen einander – wie bei so vielem. Offenbar hatten der Posizid und die Datensintflut auch an Bord der Station starke Auswirkungen. Ich habe mich darauf beschränkt, aus der Verborgenheit zu ermitteln, das war langwierig. Es wäre sicher leichter, wenn ich direkt mit Posbis Kontakt aufnehmen würde. Immerhin konnte ich auf ein paar frei verfügbare Funkdaten zugreifen.
Stahmon ist sehr umtriebig. Er erscheint öfter – so nennt man es. Offenbar benutzt er Avatare, um ständig präsent zu sein.«
Marli schauderte. In was für eine Umgebung war sie da geraten? »Ist er ein Posbi?«
»Das weiß ich nicht. Selbst in diesem Punkt widersprechen die Daten einander. Offensichtlich herrscht auf WHEELER große Unsicherheit. Wobei es eine gewisse Unklarheit gibt, inwieweit hierfür tatsächlich der Posizid verantwortlich ist, oder ob Stahmon die Daten manipuliert hat.«
Die Umgebung wechselte. Sie flogen in einen tunnelförmigen, hell erleuchteten Gang. Wände und Decken waren über und über mit Farbe bespritzt. Zuerst dachte Marli, es steckte kein Sinn dahinter: Farbtupfer auf Farbtupfer, ein wahlloses Durcheinander. Doch die Positronik wies sie darauf hin, dass es sich um einen einzigen, sich stets wiederholenden Satz handelte, der in allen Farben wieder und wieder übereinandergeschrieben stand.
»Wow«, sagte Gucky. »Seht ihr das auch?«
»Ja.« Atlans Stimme klang belegt. »Die Botschaft ist so simpel wie paranoid: Sicherheit geht vor.«
»Haben sie deswegen auf uns geschossen?«, fragte Marli.
»Vermutlich.« Atlan klang nachdenklich. »Ich hoffe, die Posbis wurden vom Posizid nicht in Mitleidenschaft gezogen, leiden an keinem Virus oder wurden anderweitig übernommen. Die Cairaner könnten sie beeinflusst haben.«
Die Cairaner. Eines der vielen Rätsel dieser Epoche. Was genau verbarg sich hinter ihnen?
Die bunten Wände blieben, doch nun kamen metallisch anmutende Gebilde hinzu, die an den Seiten und der Decke klebten. Es hätten Geräte sein können, Generatoren oder Anlagen zur Luftreinigung, doch der SERUN zeigte überdeutlich, um was es sich handelte: Matten-Willys! Offensichtlich ruhten sich die Begleiter der Posbis in diesem Tunnel aus.
»Erinnert an Fledermäuse«, scherzte Gucky. »Vielleicht ist Stahmon ja eine Art Vampir. Die Stimmung an Bord ist jedenfalls mieser als auf einem Friedhof.«
Marli dachte noch darüber nach, was die Cairaner den Posbis angetan haben könnten. Wie seltsam es war, fünfhundert Jahre später in eine Welt zu kommen, in der nichts mehr Gewissheit hatte. Sie wollte endlich erfahren, wie es Kirt ging, was aus Sebastion geworden war ...
»Da drüben ist es«, sagte Aurelia. »Auf dem Gang gibt es Kameras. Aber in den Quartieren herrscht Privatsphäre – falls sie gewünscht wird. Wir sollten uns Kirt zu erkennen geben, sobald wir drin sind.«
»Marli wird das tun«, entschied Atlan. »Wir halten uns vorerst zurück. Je weniger von uns sich zu erkennen geben, desto besser.«
Es lag also an ihr. Allein der Gedanke jagte Marli Furcht ein. Was war, wenn sie scheiterte? Kirt verärgerte? Nicht die richtigen Worte fand? Sie zwang sich, diesen negativen Gedanken nicht weiter zu folgen.
Sie hatten die Matten-Willys in Ruhestellung passiert und erreichten ein Wohngebiet. Doch noch immer war niemand zu entdecken.
Der Gang lag still da, kein Ton war zu hören. Auf den bunten Wänden erstreckten sich weiße Ausschnitte, wie Fenster, die Schneetreiben zeigten. Es waren ungenutzte Holoflächen. Ihre Inaktivität machte den Bereich trostlos. Marli hatte das Gefühl, in eine Raumstation geraten zu sein, in der nach einer verheerenden Katastrophe niemand mehr lebte. Nur die Maschinen arbeiteten weiter.
Auch die breite Gleittür vor ihnen war über und über mit dem einen Satz bedeckt: Sicherheit geht vor!
Die Art und Weise, wie konsequent diese Worte überall standen, hatte etwas Gruseliges an sich. Wenn Stahmon dafür verantwortlich war, war er möglicherweise paranoid geworden. Manchmal passierte selbst Posbis das.
»Ich habe Kirt und Prexxel-Alabaster ausspionieren können«, sagte Aurelia. Sie schwebte zum Eingabefeld, tippte mit fliegenden Fingern eine mindestens zwanzigstellige Zahlenabfolge ein.
Die Tür glitt auf.
Unwillkürlich hielt Marli die Luft an.
*
Die gut zwei Meter breite Gleittür vor mir fuhr zur Seite. Ich blickte in einen Raum, der derart sinnverwirrend war, dass mich die Details trotz Extrasinn überfluteten. Wände und Decke waren ab der Höhe von einem Meter Stauräume.
In transparenten Setzkästen steckten die unmöglichsten Dinge. Einige lagen auf Regalen, andere schwebten in Antigravfeldern. Vieles davon war technischer Natur, anderes wirkte wie das Sammelsurium eines Wahnsinnigen oder eines Müllliebhabers. Da schwebten metallene Verpackungen neben künstlichen Pflanzenstücken, Löffel neben Waschlappen, arkonidischer Halsschmuck neben einem Mini-Konverter. Jeder Gegenstand war sorgsam in der Mitte seiner winzigen Parzelle drapiert, lag oder schwebte wie ein Museumspräparat, eingepfercht von Tausenden Sammelstücken.
Der SERUN ließ die atembare Luft passieren. Es roch süßlich, nach Räucherstäbchen, Vanille und einem Parfüm, das ich von einigen Jülziish her kannte.
Mitten in diesem vollkommen überladenen Raum drehte sich ein gut fünfzig Zentimeter breiter Posbi zu uns um. Er bestand aus zwei metallenen, schwarz-weiß gemusterten Rädern, die mit einer Achse verbunden waren. Insgesamt maß der Posbi einen halben Meter in der Höhe. Er drehte sich von links nach rechts, als suchte er mit unsichtbaren Augen nach uns.
»Ist da jemand?«, fragte Kirt aus einem Akustikfeld, das in der Achse saß. Seine Stimme klang warm. Die schwarz-weiß gemusterten Räder rotierten vor und zurück. Ich kannte Posbis gut genug, um in den rasch aufeinanderfolgenden Richtungswechseln Kirts Unsicherheit zu erkennen.
»Zeig dich ihm!«, befahl ich Willka. »Versuch