Der Koffer stand hochkant. Er war ziemlich genau 1,60 Meter hoch, einen Meter breit und einen Meter tief. Seine Kanten waren ebenmäßig gerundet, aber mit keinem anderen Stoff verstärkt oder versteift. Seine blaue, fein gemaserte Hülle schimmerte metallisch.
Die Farbe war ... es war ein Blau, aber kein übliches. Für diese Farbe fehlte Rhodan das genaue Wort: ein merkwürdig entrücktes Kolorit, Fernblau, Nachtblau.
Eine gute Farbe für einen Koffer, dachte Rhodan unwillkürlich. Für den Koffer wie für den Reisenden.
Der SERUN maß lediglich eine thermische Ausstrahlung an, die deutlich, aber nicht bedrohlich über der Umgebungstemperatur lag. Rhodan streckte die Hand aus. Der Handschuh des SERUNS übermittelte ihm, dass sich das Material wie warmes Leder anfühlte. Wie Haut. Er las die Temperatur am Multikom ab: 37,7 Grad Celsius.
Es war kein Schloss zu sehen, nicht einmal eine Fuge oder eine Naht. Warum also hatte Rhodan vom ersten Augenblick an den Eindruck gehabt, es mit einem Stück Reisegepäck zu tun zu haben?
Einem Impuls folgend, schlug Rhodan mit der flachen Linken kurz auf das obere Teil des Objektes. Das Geräusch empfand er als angenehme Mischung aus Pauken- und Gongschlag.
Ein Schlag gegen die Seite des Gegenstandes rief einen tieferen Ton hervor.
Der SERUN legte die erste Analyse nach der Kontaktaufnahme vor: »Eisen, Aluminium, weitere Metalle, Kohlenstoff, Sauerstoff, Beimengungen organischer Hochpolymere und nicht identifizierbarer hyperkristalliner Spurenelemente«, flüsterte die Anzugpositronik ihm über ein Akustikfeld in die Ohren.
Insgesamt sei es ein Material unbekannter Komposition mit unbekannten Eigenschaften. Das Innere des Koffers entzog sich völlig jeder Analyse.
Rhodan funkte das Gebilde an. Es gab keine Reaktion. Für einen Augenblick dachte er daran, den Koffer von Robotern aus dem Schiff werfen zu lassen. Aber dann siegte die Neugierde.
Perry Rhodan legte die Hände an beide Seiten und spannte die Muskeln an. Der SERUN bemerkte es und verstärkte die Leistung. Rhodan hob den Koffer, hielt ihn einen Moment und stellte ihn wieder ab. Der SERUN ermittelte ein Gewicht von 55 Kilogramm.
Perry Rhodan trat einen Schritt zurück. »Wessen Koffer bist du?«, fragte er halblaut.
»Er gehört mir«, hörte er eine ruhige Stimme sagen. »Es ist mein Paau.«
2.
Giunas Verzweiflung
Giuna Linh hielt den Atem an und tauchte unter.
Ihr blieben vier Minuten. Höchstens.
Das Wasser war klar, aber am Grund wuchsen trübe braune Algen, die wie lange Grashalme in der leichten Strömung hingen. Giuna schwamm hinein, presste sich dicht auf den Boden. Dank ihres dunkelgrünen Anzugs würden die Cairaner sie nicht sehen.
Hoffte sie.
Die Augen hielt sie offen, starrte hinauf. Höchstens zwei Meter über ihr trieben vereinzelt gelbe, welke Blätter. Die Silhouette eines Nannzabaums ragte am Ufer auf. Die silbergraue Krone schillerte im künstlichen Licht, das die angebliche Naturidylle als das entlarvte, was sie war: eine genau durchgeplante Erholungslandschaft in einer Raumstation.
Giuna atmete ein wenig aus, um ihre Lunge von dem zunehmenden Druck zu entlasten. Luftbläschen stiegen auf, inmitten der Algen kaum verräterisch.
Die beiden Cairaner erreichten das Ufer. Sie nahm die Umrisse durch das fließende Wasser nur verzerrt wahr. Die typisch langen Beine erkannte sie trotzdem. Die beiden Fremdwesen blieben stehen. Wahrscheinlich redeten sie, Giuna konnte nichts hören. Unter Wasser verharrte die Welt in Stille, bis auf das Wummern des eigenen Herzschlags.
Noch einmal ein wenig ausatmen, nur eine lächerliche Winzigkeit. Panik stieg in ihr hoch. Wenn sie auftauchen musste und die Cairaner sie entdeckten, war alles vorbei.
Aber vielleicht sehe ich dann wenigstens Lanko wieder.
Sie schloss die Augen. In ihrer Erinnerung sah sie ihren Mann genau vor sich – sein Lächeln, die Augen so dunkelblau wie bei niemand anderem. Fast spürte sie seine Berührung.
Sollte sie schwimmen? Möglicherweise erreichte sie die Biegung und konnte dort ans Ufer klettern, ohne dass ihre Jäger sie entdeckten. Oder sie verriet sich erst recht.
Die verzerrten Silhouetten gingen weiter und verschwanden hinter dem Nannzabaum. Giuna wartete ab. Nur noch ein bisschen. Als schwarze Flecken im Wasser tanzten, wusste sie, dass sie atmen musste, sonst würde sie das Bewusstsein verlieren und ertrinken.
Sie wollte auftauchen, doch durch die Bewegung gereizt, schlangen sich die Algenfäden um sie und hielten sie fest. Sie riss den rechten Arm los, nestelte an ihren Beinen, fühlte die glitschig-schmierigen Blätter, zerfetzte die dünnen Fäden.
Sie tauchte auf.
Die Luft schmerzte im Hals, im Brustkorb, aber sie gab Giuna Kraft und ließ die Panik verschwinden. Wenige Schwimmzüge brachten sie ans Ufer. Den Oberkörper halb aus dem Wasser, lag sie erschöpft auf Steinen und Erde. Die herrlich violette Blütenpracht direkt neben ihr erschien ihr wie Gespött. Ein Molanofisch, groß wie ihr Fuß, stieß sie an und schwamm weiter.
Sie zog sich ganz aus dem Bach und zwang sich, in Bewegung zu bleiben und weiterzulaufen. Welch ein Hohn wäre das, wenn die Cairaner zurückkämen und sie hier liegen sahen! Sie hinterließ zwar eine Spur aus feuchten Fußabdrücken, doch diese verlor sich bald.
Irgendwo, hinter dichtem Gestrüpp abseits der Wege, setzte sie sich auf den Boden. Ich werde wohl vorsichtiger sein müssen, falls ich das alles irgendwie zu Ende bringen will.
Giuna dachte nach. Offiziell arbeitete sie für die Akonen an diesem noch nicht fertiggestellten Etappentransmitter. Seit Jahrtausenden galten sie als Experten für Transmitter, als arrogant und fähig zugleich. Giunas Problem war, dass sie sich zu weit vorgewagt und die Cairaner auf den Plan gerufen hatte.
Ihr Kopf schwirrte, aber niemand hatte ihr gesagt, dass es einfach werden würde, Lanko zu befreien. Ebenso wenig hatte jemand das Gegenteil behauptet, weil sie nie über ihr Ziel sprach. Wem sollte sie sich auch offenbaren? Lanko, ihr einziger Vertrauter, saß auf der Ausweglosen Straße fest. Wenn er überhaupt noch lebte. Und es gab niemanden, dem sie sonst vertrauen konnte.
Die verfluchten Cairaner!
Ihre Kleidung war getrocknet. Sie fragte sich, wo das alles hinführen sollte. Sie stand auf, klopfte sich einige hartnäckige Blätter mit dornigen Spitzen vom Anzug und entdeckte einen dicken Käfer, den sie von sich schnippte. Die Naturierung dieses Parks lief offenbar bestens, das Ökosystem funktionierte.
Kaum zu glauben, dass sie sich noch vor einem Monat mit derlei Problemen herumgeschlagen hatte – in einem anderen Leben. Seltsam, wie so ein wenig Zeit die Dinge völlig entrücken konnte, bis nur eine blasse Erinnerung blieb.
Sie bahnte sich inmitten von dichtem Gestrüpp und blaublättrigem akonischen Riesenfarn einen Weg zurück zum Pfad, der sich auf insgesamt zwei Kilometern durch die Erholungslandschaft wand. Die Cairaner hatten sie nur aus der Ferne wahrgenommen, als sie sich an ihrem Arbeitspult zu schaffen gemacht hatte. Sie wussten nichts über Giuna, kannten nicht ihren Namen. Es drohte ihr keine Gefahr mehr.
Zumindest nicht von den Cairanern. Die Akonen durften nicht herausfinden, dass sie versuchte, in die Datenbanken einzudringen und Informationen über die Transmitternetze zu stehlen. Sie missbrauchte das Vertrauen ihrer Auftraggeber, und auch das konnte ihr zum Verhängnis werden.
Sie tat beschäftigt, indem sie meistens auf das kleine Display ihres Armbandkommunikators schaute, und eilte Richtung Ausgang.
Im Korridor traf sie einen Trupp akonischer Techniker, wie sie an den Uniformen erkannte. Zum Glück waren die Akonen wirklich beschäftigt, ein Holo schwebte vor ihnen und zeigte zahllose mikroskopische Details in Vergrößerung. Sie sprachen Giuna nicht an, was sie allerdings aufgrund ihrer fast sprichwörtlichen Arroganz