Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung. Christian J. Jäggi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christian J. Jäggi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783828873438
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schwer zu machen ist – insbesondere, wenn die Gläubigen die gesamte Schrift wortwörtlich nehmen, ohne daran zu denken, dass – gerade narrative Texte – oft metaphorisch gemeint sind und Meta-Aussagen enthalten, die weit über die anwendungsorientierte, direkte Übertragung einer religiösen Aussage hinaus gehen. Diese Problematik kann auf der einen Seite zu religiösem Fundamentalismus und auf der anderen Seite zu einem religiösen Relativismus führen (vgl. dazu auch Fenner 2016:71).

      Ein besonderes Problem in einer global gedachten Ethik stellt die Frage dar, was eine „globale Ethik“ überhaupt ist und wo sie sich bewegt. Heather Widdows (2011:7) schreibt dazu kurz und bündig: „For global ethics the frame within which decision-making occurs must be global: the ethical locus is ‚the globe‘. In any ethical analysis it is the globe that constitutes the sphere of concern and thus the needs and perspectives of all global actors are relevant“. Doch was bedeutet das? Ist „globale“ Ethik einfach nur eine „weltweite Ethik“ – ist globale Ethik nicht vielmehr auch eine umfassende, universelle Ethik? Denn „global“ ist nicht nur territorial zu verstehen, sondern auch als Grad hoher Komplexität. Globale Ethik schliesst auch einen permanenten Perspektivenwechsel mit ein, die Fähigkeit zur Erweiterung und Verengung des Blickwinkels, der Autonomie und Entscheidung, sich auf einzelne Aspekte zu fokussieren. Das wird vor allem im Falle von globalen Friedensthemen und Gerechtigkeitskonzepten relevant.

      Gleichzeitig ist Frieden – wie der Ethiker Adrian Holderegger (2017:307) betonte –, „nicht bloss ein politisches, sondern zuerst und zuletzt ein moralisches Projekt“. Also muss die Friedensthematik sowohl von der politischen Seite als auch von der Ethik her angegangen und diskutiert werden.

      In einem weiteren Sinn stellt sich damit auch die Frage des Guten. Saur (2016:22) hat darauf hingewiesen, dass das Gute nicht unmittelbar zu erkennen ist und dass „das Profil des Guten an den Rändern Unschärfen aufweist“. So werde etwa in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur das Böse oft als Gegenpol zum Guten verstanden. Allerdings erschliesse sich auch das Böse meist nicht unmittelbar, sondern könne „nur mittelbar, situativ und dynamisch erfasst werden“ (Saur 2016:22).

      Hans Küng (1990:14) hat in seinem Buch „Projekt Weltethos“ festgestellt, dass „eine Welt, in der wir leben, nur dann eine Chance um Überleben hat, wenn in ihr nicht länger Räume unterschiedlicher, widersprüchlicher oder gar sich bekämpfender Ethiken existieren“. Diese eine Welt brauche ein verbindendes Grundethos, jedoch nicht in Form einer Einheitsreligion und Einheitsideologie, sondern in der Gestalt von verbindenden und verbindlichen Normen, Werten, Idealen und Zielen. Weiter weist Küng (1990:13) darauf hin, dass ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden möglich sei – umgekehrt aber auch kein Religionsfrieden ohne Weltfrieden. All das ist zweifellos richtig.

      In der wissenschaftlichen Ethik wird „Ethos“ im Allgemeinen im deskriptiven Sinn als Beschreibung der Gesamtheit der bestehenden ethischen Werte und Normen in einer Gesellschaft oder einer Religion verstanden. So spricht etwa Mir (2015:65) von einem öffentlichen Ethos („the public spirit ethos“). Alfons Auer (1995:78 und 96) thematisiert ein alttestamentliches und ein jesuanisches Ethos. Demgegenüber benutzt Küng (1990:46) den Begriff des „Weltethos“ in einem normativen Sinn: „Die katastrophalen ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Entwicklungen sowohl der ersten wie der zweiten Jahrhunderthälfte machen zumindest ex negativo ein Weltethos um des Überlebens der Menschheit auf dieser Erde nötig“ (Hervorhebungen durch Küng).

      Doch das Problem liegt darin, herauszuarbeiten, wie ein solches normatives „Weltethos“ aussehen sollte und wie ein solches „Weltethos“ erreicht werden kann. Diese beiden Fragen stehen auch im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen.

      Wenn auch das Wort „Weltethos“ sehr hoch gegriffen erscheint – ich spreche lieber von überkontextuellen und religions- sowie weltanschauungsüberschreitenden ethischen Bausteinen – hat Küng den Finger auf den wohl wundesten Punkt der heutigen Menschheit gelegt: Die Menschheit sollte als Ganzes gesehen und gedacht werden, als Einheit, und nicht mehr als Konglomerat verschiedenster oder gar sich bekämpfender Nationen, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften oder Ethnien und Gruppen – und dazu braucht es klare Visionen und praktikable Modelle. Das bedeutet aber auch klare, verbindliche und durchsetzbare ethisch-normative Standards und verbunden damit Institutionen, welche die Einhaltung dieser Standards überwachen und garantieren. Obwohl zwar die Welt davon heute noch weit entfernt ist – früher oder später wird dies unumgänglich sein.

      Hans Küng (2010:158) hat eine klare Hierarchie von Ethik (Ethos), Politik und Ökonomie vorgeschlagen: Erstens müsse das Ethos grundsätzlich über Ökonomie und Politik stehen, zweitens sei der Politik ein Primat gegenüber der Ökonomie zuzugestehen und drittens müsse der Markt wirtschaftsfreundlichen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen unterstehen, die er aber nicht selber schaffen könne.

      In ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Weltethos-Theorie von Hans Küng kommt Dagmar Fenner (2016:199) zum zweifellos richtigen Schluss, dass Küngs Ansatz eine aufklärererische und damit säkulare Grundhaltung voraussetzt: „Religiöse Menschen müssen bereit sein, ein ‚Weltethos‘ vom ‚Heilethos‘ abzukoppeln und eine Säkularisierung im Sinne der Ausdifferenzierung in verschiedene Wertsphären wie die des Guten und Heiligen zu akzeptieren“. Das bedeutet, dass das Weltethosprojekt im Grunde eine säkulare Antwort auf Religionskonflikte ist, so wie der Säkularismus im Grunde die europäische Antwort auf das Problem der Religionskriege darstellte. Damit ist aber das Weltethosprojekt nur bedingt tauglich für die Entwicklung einer umfassenden und globalen Friedensethik. Denn säkulare Ethiken und religiöse Ethiken müssen sich auf Augenhöhe begegnen können – im Sinne eines Diskurses, in den sich alle gleichermassen einbringen können. Dazu kommt, dass – wie ich verschiedentlich gezeigt habe (z.B. in Bezug auf den säkularen Staat vgl. Jäggi 2016b:134) – der Säkularismus als eine mit religiösen Weltanschauungen konkurrierende „Quasireligion“ verstanden werden kann.