Und mittwochs, samstags und sonntags sind, wie jedermann weiß, auch am Nachmittag Vorstellungen. Für Kinder.
Zu verbilligten Preisen.
Das zweite Kapitel
Die Streichholzschachtel auf dem Nachttisch / Minna, Emma und Alba / Sechzig Gramm Lebendgewicht und trotzdem kerngesund / Der kleine Mann will in die Schule gehen / Ärger in Athen und Brüssel / Unterricht auf der Bockleiter / Bücher, klein wie Briefmarken.
Dass Mäxchen nachts in einer Streichholzschachtel schlief, habe ich wohl schon erzählt. Anstelle der sechzig Streichhölzer, die üblicherweise drinliegen, enthielt sie ein Maträtzchen aus Watte, ein kleines Stück Kamelhaardecke und ein Kopfkissen, nicht größer als der Nagel meines Mittelfingers. Und die Schachtel blieb halb geöffnet, weil ja der Junge sonst keine Luft gekriegt hätte.
Die Streichholzschachtel stand auf dem Nachttisch neben dem Bett des Zauberkünstlers. Und jeden Abend, wenn sich Professor Jokus zur Wand gedreht hatte und leise zu schnarchen begann, knipste Mäxchen das Lämpchen auf dem Nachttisch aus, und es dauerte nicht lange, dann schlief auch er.
Außer den beiden schliefen im Hotelzimmer noch die zwei Tauben Minna und Emma und, in seinem Spankorb, das weiße Kaninchen Alba. Die Tauben hockten oben auf dem Schrank. Sie hatten die Köpfe in die Brustfedern gesteckt, und wenn sie träumten, gurrten sie.
Die drei Tiere gehörten dem Professor und halfen ihm, wenn er im Zirkus auftrat. Dann flatterten die Tauben plötzlich aus seinen Frackärmeln und das Kaninchen zauberte er aus dem leeren Zylinder.
Minna, Emma und Alba konnten den Zauberkünstler gut leiden und in den kleinen Jungen waren sie geradezu vernarrt. Wenn sie morgens zu fünft gefrühstückt hatten, durfte sich Mäxchen sogar manchmal auf Emmas Rücken setzen, und dann machte sie mit ihm einen Rundflug durchs Zimmer.
Eine Streichholzschachtel ist sechs Zentimeter lang, vier Zentimeter breit und zwei Zentimeter hoch. Das war für Mäxchen gerade das Richtige. Denn er maß, auch mit zehn und zwölf Jahren noch, knapp fünf Zentimeter und passte genau hinein. Er wog, auf der Briefwaage des Hotelportiers, sechzig Gramm, hatte immer Appetit und war nie krank gewesen. Die Masern hatte er allerdings gehabt. Aber die Masern zählen eigentlich nicht. Die hat ja jedes zweite Kind.
Mit sieben Jahren hatte er natürlich in die Schule gehen wollen. Aber die Schwierigkeiten waren allzu groß gewesen. Erstens hätte er jedes Mal, wenn der Zirkus weiterzog, die Schule wechseln müssen. Und oft sogar die Sprache! Denn in Deutschland wurde ja deutsch unterrichtet, in England englisch, in Frankreich französisch, in Italien italienisch und in Norwegen norwegisch. Das hätte der kleine Mann vielleicht noch geschafft. Weil er gescheiter war als die meisten Kinder in seinem Alter. Dazu kam nun aber noch, dass seine Mitschüler allesamt viel, viel größer waren als er und dass sie sich einbildeten, Größersein sei etwas Besonderes.
Deswegen hatte er mancherlei ausstehen müssen, der Ärmste.
In Athen zum Beispiel war er einmal von drei kleinen Griechenmädchen während der großen Pause in ein Tintenfass gesteckt worden. Und in Brüssel hatten ihn ein paar belgische Lümmel auf die Gardinenstange gesetzt. Er war zwar gleich wieder hinuntergeklettert. Denn klettern konnte er damals schon wie kein Zweiter. Aber gefallen hatten ihm solche Dummheiten gar nicht. Und so erklärte der Zauberkünstler eines Tages: »Weißt du, was? Das Beste wird sein, wenn ich dir Privatstunden gebe.«
»O fein!«, rief Mäxchen. »Das ist eine gute Idee! Wann geht’s los?«
»Übermorgen um neun«, sagte Professor Jokus von Pokus. »Aber freu dich nicht zu früh!«
Es brauchte einige Zeit, bis die beiden herausfanden, wie sie es am geschicktesten anstellen mussten. Aber allmählich kamen sie dahinter und nun machte ihnen der Unterricht von Tag zu Tag immer mehr Spaß. Das Wichtigste außer dem Lesebuch und dem Schreibheft waren eine Bockleiter mit fünf Stufen und eine scharfe Lupe.
Beim Lesenlernen kraxelte Mäxchen auf die höchste Sprosse der Leiter, weil ja die Buchstaben, wenn er mit der Nase vorm Buch saß, für ihn viel zu groß waren. Erst wenn er auf der Leiter hockte, konnte er das Gedruckte bequem überblicken.
Beim Schreiben war es ganz anders. Dann setzte er sich an ein winziges Pult. Das winzige Pult stand oben auf dem großen Tisch. Und der Professor saß neben dem Tisch und betrachtete Mäxchens Krickelkrakel durch die Lupe. Sie vergrößerte das Geschriebene um das Siebenfache, und nur so konnte er die Buchstaben und Wörter überhaupt erkennen. Ohne die Lupe hätten er und der Zimmerkellner und das Stubenmädchen das Geschreibsel für Tintenspritzer oder Fliegendreck gehalten. Dabei waren es, wie man durch die Lupe ganz deutlich sehen konnte, hübsche und zierliche Schriftzeichen.
Beim Unterricht im Rechnen war es nicht anders. Auch bei den Zahlen brauchten sie die Leiter und die Lupe. Und so war Mäxchen, was er auch lernte, immer unterwegs. Bald saß er auf der Leiter, bald an seinem Pult auf dem Tisch.
Eines schönen Vormittags sagte der Zimmerkellner, der das Frühstücksgeschirr wegtragen wollte: »Wenn ich nicht genau wüsste, dass der Junge lesen und schreiben lernt, dächte ich bestimmt, er hätte Turnstunde.« Da mussten sie alle lachen. Auch Minna und Emma, die auf dem Schrank saßen, lachten mit. Denn es waren Lachtauben.
Mit dem Buchstabieren hielt sich Mäxchen nicht lange auf. Schon nach kurzer Zeit las er so flink, als hätte er’s schon immer gekonnt. Und nun wurde er im Handumdrehen zur Leseratte. Das erste Buch, das ihm Jokus von Pokus schenkte, waren Grimms Märchen. Und womöglich hätte er sie in einer knappen Woche ausgelesen gehabt, wenn nicht die verflixte Bockleiter gewesen wäre!
Jedes Mal, wenn er umblättern musste, blieb ihm gar nichts weiter übrig, als die Leiter hinunterzuklettern, auf den Tisch zu hopsen, die Seite umzuwenden und die Leiter wieder hochzukrabbeln. Erst dann erfuhr er, wie das Märchen weiterging. Und zwei Seiten später musste er schon wieder zum Buch hinunter! So ging das in einem fort: umblättern, die Leiter hoch, zwei Seiten lesen, die Leiter hinunter, auf den Tisch, schnell umblättern, die Leiter hinauf, die nächsten zwei Seiten lesen, die Leiter hinunter, umblättern, hinauf – es war zum Auswachsen!
Eines Nachmittags kam der Professor gerade dazu, wie der Junge zum dreiundzwanzigsten Mal die Leiter hochkraxelte, sich wütend die Haare raufte und schrie: »Das ist ja fürchterlich! Warum gibt es denn, um alles in der Welt, keine kleineren Bücher? Mit klitzekleinen Buchstaben?«
Erst musste der Professor über Mäxchens Zorn lachen. Dann wurde er nachdenklich und meinte: »Eigentlich hast du ganz recht. Und wenn es solche Bücher noch nicht gibt, werden wir sie für dich drucken lassen.«
»Gibt es denn jemanden, der das kann?«, fragte der Junge.
»Ich hab keine Ahnung«, sagte der Zauberkünstler. »Aber im März gastiert der Zirkus in München. Dort lebt der Uhrmacher Unruh. Bei dem werden wir uns erkundigen.«
»Und wieso weiß es der Uhrmacher Unruh?«
»Ich weiß nicht, ob er es weiß. Aber er könnte es wissen, weil er sich mit solchen Dingen beschäftigt. So hat er vor zehn Jahren Schillers ›Lied von der Glocke‹ auf die Rückseite einer Briefmarke geschrieben. Und das Gedicht ist immerhin 425 Zeilen lang.«
»Donnerwetter!«, rief Mäxchen begeistert. »Bücher, nicht größer als Briefmarken, das wäre für mich genau das Richtige!«
Um es kurz zu machen: Der Uhrmacher Unruh kannte tatsächlich eine Druckerei, die so kleine Bücher drucken konnte!