Ohne eine Reaktion abzuwarten, holte der Unbekannte aus, den Schlagstock drohend über seinem Haupt, um ihr den Schädel einzuschlagen. »Du sollst mich anschauen, hab ich gesagt – sonst kannst du was erleben!«
Hätte sie nicht reflexartig den Arm emporgerissen, der Hieb mit dem Knüppel wäre ihr Ende gewesen. Der Schlagstock traf sie mit voller Wucht, und es kam ihr vor, als würde sie unter einer heranrollenden Sturzwoge begraben. Der Ohnmacht nah, rappelte sie sich auf, ignorierte den Schmerz, der eine Schockwelle nach der anderen durch ihren Körper jagte, und starrte ihren Peiniger trotzig an.
Und stutzte.
Der Mann sah eigentlich ganz normal aus. Salopp gesagt, fast schon ein wenig zu normal. Groß, breite Schultern, kräftig, Dreitagebart, schlank, aber nicht abgemagert, blond und vermutlich auch blauäugig, bei der Schummerbeleuchtung kaum zu erkennen. Auf der Straße wäre er niemandem aufgefallen, und vielleicht war es genau das, was ihn von Gewohnheitsverbrechern unterschied. Der da gerade vor ihr stand, er kam ihr wie der Prototyp des Nordländers vor. Wäre er an ihr vorbeigelaufen, sie hätte ihn nicht mal angeschaut. Das wäre ihm vermutlich recht gewesen, je weniger Aufsehen, desto geringer die Chance, ins Visier der Kripo zu geraten.
Und noch etwas fiel ihr auf, allen Schmerzattacken zum Trotz. Der Mann sah nicht etwa wie der geborene Rowdy aus, sondern hatte weiche, fast knabenhaft zu nennende Züge. Auch die Stimme war weich, für ihren Geschmack jedoch ein wenig zu hoch. Dieser Kerl, dem sie am liebsten ins Gesicht gespuckt hätte, er wusste genau, was er tat. Und er wusste, dass er leichtes Spiel mit ihr haben würde, genau wie mit den Frauen vor ihr, die das Pech hatten, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein.
Wie sie, eine 17-jährige Gymnasiastin aus gutem Hause, die nicht wusste, wie sie die folgenden zwei Minuten überstehen sollte.
Nur noch 120 Sekunden, zwei lumpige, im Zeitlupentempo verrinnende Minuten.
Dann war Rettung in Sicht.
Hoffte sie.
»Antworte, ich hab dich was gefragt! Tut es dir wenigstens leid, was du mir angetan hast, oder …?«
Der Werwolf kam nicht dazu, den Satz zu vollenden. Der Tritt, den sie ihm verpasst hatte, ließ ihn jäh verstummen.
Doch sie hatte sich zu früh gefreut. Denn jetzt ging die Tortur erst richtig los. Schlag auf Schlag prasselte auf sie nieder, einer nach dem andern, sodass ihr Hören und Sehen verging. Angetrieben von blinder Wut, drosch der Unbekannte wie ein Berserker auf sie ein. Wie ein Raubtier, das nur einen einzigen Gedanken kannte, nämlich den Gegner in tausend Stücke zu reißen.
Der Werwolf hatte Recht gehabt. In zwei Minuten hatte sie es hinter sich.
Allerhöchstens.
Es sei denn, es geschah ein Wunder.
Woher sie die Kraft nahm, auf die Beine zu kommen, die Schläge abzuwehren, den gebrochenen Unterarm zu ignorieren, sie gäbe etwas dafür, wenn sie es wüsste. Vielleicht war es ihr Überlebensinstinkt, der ihr die Kraft verlieh, sich nicht widerstandslos in ihr Schicksal zu fügen. Vielleicht war es aber auch nur blinde Wut, weil ihr Peiniger sie wie ein Stück Dreck behandelte, als zähle sie nicht, weil sie erst 17 war. Oder vielleicht war es auch der Drang, es dem Scheusal endlich heimzuzahlen, stellvertretend für all jene, die von ihm auf bestialische Weise getötet worden waren.
Die geglaubt hatten, ein Mensch sei zu so etwas nicht fähig.
Und ob dieser Wahnsinnige das war.
Nur noch eine Minute, oder, auf die Fahrstrecke bezogen, nicht mehr als ein lausiger Kilometer. So lange musste sie sich das Schwein noch vom Leibe halten.
So sie von ihren Kräften nicht im Stich gelassen wurde.
Das Wenige, was ihr noch im Gedächtnis war, es trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. Die Hiebe mit dem Totschläger, die wie Glas zersplitternden Knochen, das Dröhnen in ihrem Schädel, der Blutgeschmack im Mund, fade, schal und übelriechend, die geschwollenen Augen, die dafür sorgten, dass sie wie eine Blinde auf allen Vieren im Abteil herumkrabbelte, all das war nichts im Vergleich zu dem, was am Ende des Höllenritts geschah.
Selbst jetzt, Stunden später, wurde sie die Scham, die sie bis in die Katakomben ihres Unterbewusstseins verfolgten, nicht los. Auf einmal, mitten im wüsten Gerangel, hatte sie seine Klaue zwischen ihren Schenkeln gespürt, hart wie aus Stahl, scharf wie die Klaue eines tollwütigen Wolfs.
Erst dann, sprachlos vor Scham, Ekel und Wut, die sie in eine wie entfesselt um sich schlagende Furie verwandelte, erst dann wendete sich ihr Schicksal.
»Bahnhof Karlshorst. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts.« Die Stimme im Lautsprecher, die wie von fern in ihren schmerzenden Gehörgang drang, ließ den Unbekannten aufhorchen.
Er musste eine Entscheidung fällen, und das möglichst schnell.
Ihre Gurgel zwischen den Fängen der linken Hand, ließ der Werwolf von ihr ab, rappelte sich auf und sah sie an, als versuche er in ihrem Blick zu lesen. Sie selbst lag einfach nur da, am ganzen Körper zitternd, die Linke vor dem blutüberströmten Gesicht. Die nächsten Sekunden würden über ihr Leben entscheiden, und sie hütete sich, auch nur einen einzigen Laut der Klage zu äußern.
Doch dann, als der Bahnsteig bereits in Sichtweite kam, erwachte der Unbekannte zu neuem Leben, beugte sich über sie und entblößte die rechte Hand.
Der Mann trug eine Prothese, metallisch schimmernd wie der Greifarm eines Automaten.
»Schau sie dir an, du dreckige kleine Schlampe«, knurrte er zähnefletschend vor sich hin, einen Geruch im Mund, der ihren Ekel vor dem Monstrum noch verstärkte. Und kreischte mit sich überschlagender Stimme: »Du sollst hinschauen, hab ich gesagt! Das da habe ich ganz allein dir zu verdanken – oder behauptest du immer noch, du hättest nichts damit zu tun? Und ob du was damit zu tun hast, du mieses Stück Dreck. Halt mich bloß nicht für dumm, sonst wirst du es bitter bereuen. Weißt du überhaupt, was ich durchgemacht habe? Nein? Wegen dir kann ich nicht mehr Violine spielen, und wegen dir kleinem Aas bin ich aus der SS geflogen. Und ausgerechnet du besitzt die Frechheit, zu behaupten, du hättest mich noch nie gesehen.« Der Werwolf lachte diabolisch auf. »Weißt du, was ich denke? Ich denke, wir machen es ein bisschen spannend. Der Reiz des Ungewissen – du verstehst. Wenn ich gewollt hätte, du wärst längst tot, oder glaubst du wirklich, du könntest mir das Wasser reichen? Da müsste schon jemand anderes kommen als du, machen wir uns nichts vor. Kurzum, um dich leiden zu sehen, brauche ich Zeit. Viel Zeit. Denn wenn ich schon meinen Kopf riskiere, möchte ich wenigstens auf meine Kosten kommen. Die anderen fünf, das war erst der Anfang, die Ouvertüre, um es dezent zu formulieren. Mit dem, was dir blüht, nicht im Mindesten zu vergleichen. Glaub mir, der Tag wird kommen, an dem du bereust, mich zum Krüppel gemacht zu haben. Meine Rache wird furchtbar sein, also mach dich auf was gefasst. Egal, wo du bist, egal, wo du dich versteckst, egal, was du dir einfallen lässt, um mich an der Nase herumzuführen, du entkommst mir nicht!«
An der Abteiltür angekommen, riss der Unbekannte eine Pistole hervor, zielte auf ihren Kopf und zischte: »Das Einfachste wäre, dir eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Aber keine Angst, mit dem Schießprügel zu agieren ist nicht unbedingt mein Ding. Gut Ding will Weile haben, das ist nun einmal so. Aber was soll’s, wenn es so weit ist, werde ich dich aufspüren – und wenn es Jahre dauert, bis ich dich finde. Ich komme wieder, sei gewarnt!« Die Augen weit offen, warf der Unbekannte einen verzückten Blick nach oben, während ihm der Speichel in Strömen zwischen den Mundwinkeln hervorsickerte. Und sprach mit bebender Stimme: »Ewige Ruhe gib ihnen, Herr, zu dir wird kommen alles Fleisch!«
Kurz darauf, nachdem der Zug endlich zum Stehen gekommen war, war er wie vom Erdboden verschluckt.
CONFUTATIS
Wenn zum Schweigen gebracht werden die Verdammten,
Flammis acribus addictis,
den